«Third Culture Kids» – Aufwachsen zwischen den Welten Sie sind Kinder von Diplomaten, Fachpersonen der Internationalen Zusammenarbeit oder Militärbediensteten: «Third Culture Kids» wachsen in engem Kontakt mit mehreren Kulturen und Weltanschauungen auf und haben einen hochmobilen Lebensstil. Welche Chancen und Risiken das mit sich bringt, erklärte Psychologin Isabelle Siclari anlässlich eines Ausreisekurses von für Begleitpersonen von entsandten IZA-Mitarbeitenden. Als ihr Mann von der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit DEZA nach Nairobi berufen wurde, begleitete Isabelle Siclari ihn nach Ostafrika – mitsamt einer zweijährigen Tochter und einem Neugeborenen. Isabelle Siclari weiss daher aus eigener Erfahrung, was es bedeutet, mit Kindern auf Auslandeinsatz zu gehen. Und sie weiss auch, was es für die Kinder bedeutet, fernab der elterlichen Heimat aufzuwachsen. Die Psychologin und Psychotherapeutin, die mit dem Family Office des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten EDA zusammenarbeitet, bringt das Thema auf eine kurze Formel: «TCK». Die dritte Kultur Das Kürzel steht für «Third Culture Kid», einen Begriff, der vom Soziologen David Pollock 1989 wie folgt definiert wurde: «Ein Third Culture Kid ist eine Person, die einen bedeutenden Teil ihrer Entwicklungsjahre ausserhalb der Kultur ihrer Eltern verbracht hat. Ein TCK baut Beziehungen zu allen Kulturen auf, nimmt aber keine davon völlig für sich in Besitz. Zwar gliedert ein TCK verschiedene Elemente aus jeder Kultur in seine Lebenserfahrung ein, aber sein Zugehörigkeitsgefühl bezieht sich auf andere Menschen mit ähnlichem Hintergrund.» 1 Anders gesagt: Drittkulturkinder sind bereits in früher Kindheit mehrmals umgezogen. Sie leben überall auf der Welt aber fühlen sich doch nirgendwo zuhause – weder in der Kultur ihrer Eltern noch in der ihres jeweiligen Gastlandes. Viel eher identifizieren sie sich mit anderen TCKs, die in ihrem Leben ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Dies kann als eigene «dritte» Kultur betrachtet werden, die sie miteinander teilen. Die Angst vor Bindung Für die Drittkulturkinder kann diese Wurzellosigkeit eine nicht zu unterschätzende Herausforderung darstellen, wie Isabelle Siclari erklärt. Während Erwachsene über gefestigte Identitäten und Wertesysteme verfügen, kann es für Kinder, die nach Orientierung und Halt suchen, in einer sich ständig verändernden Umgebung schwierig werden. Die Folgen: Third Culture Kids haben öfter Probleme, eine Identität zu formen, leiden unter Ausgrenzung und dem Verlust von vertrauten Orten und Personen. Bedingt durch diese Verlusterfahrungen haben sie es als Erwachsene schwerer, Beziehungen einzugehen, weil sie von Beginn weg eine erneute Trennung fürchten. Immer ein wenig anders, überall ein bisschen fremd, stets unterwegs. So fühlen sich die Third Culture Kids. Die Kernfamilie ist in ihrem Leben oft die einzige Konstante und darum von zentraler Bedeutung. Isabelle Siclari erklärt im Interview, was Eltern von Third Culture Kids zur gesunden Entwicklung ihrer Sprösslinge beitragen können: 1 Pollock 2009, Literaturhinweis auf S. 4 cinfo: Frau Siclari, Ihre Kinder wachsen in einem kulturellen Schmelztiegel auf: Sie sprechen französisch, ihr Mann italienisch, aufgewachsen sind die Kinder in einem englischsprachigen Umfeld in Nairobi und nun gehen sie in Bern zur Schule. Was ist die grösste Herausforderung für die Kinder? Isabelle Siclari: Ich denke, für die Mädchen war die Rückkehr von Kenia in die Schweiz das Schwierigste. Die Trennung von ihren Freunden und der gewohnten Umgebung und dann der Neustart in der Schweiz. Hier vermissten sie die Wärme, es fehlte ihnen die Sonne und das Leben im Freien. Dazu kam die Herausforderung, sich in einer «fremden Kultur» integrieren zu müssen. Die beiden mussten ja Schweizerdeutsch lernen, neue Verhaltensregeln verinnerlichen und Freunde finden. Das war in der ersten Zeit alles etwas schwierig und frustrierend und sie wollten vor allem eins: zurück nach Nairobi. Aber mittlerweile hat sich das gelegt. Die beiden haben sich eingelebt. Wie schnell und gut das ging, hat mich sehr beeindruckt. Kinder zeichnen sich durch grosse Anpassungsfähigkeit aus. Für TCKs soll das besonders gelten. In der Tat. Oft kann man beobachten, dass TCKids die Fähigkeit besitzen, sich in verschiedenen Kulturen und Kontexten leichter als andere Menschen zurechtzufinden, weil sie in ihrer Kindheit bereits mehrmals umgezogen sind und viele verschiedene Verhaltensweisen beobachten konnten. TCKids haben viel von der Welt gesehen und haben dank dieser dreidimensionalen Weltsicht bereits in jungen Jahren eine grosse interkulturelle Kompetenz. Gibt es weitere Kompetenzen, die sie auszeichnen? TCKids haben oft hohe Kommunikationsfähigkeiten. Sie sprechen zwei oder mehr Sprachen fliessend und sind sehr kontaktfreudig. Das alles bestärkt sie in ihrem Selbstvertrauen und führt zu einer ungewöhnlich reifen – manchmal auch etwas arroganten – Ausstrahlung. Da sie sich stets neuen Situationen anpassen müssen, werden sie auch früher selbständig. Sie stehen zwar auf eigenen Füssen, aber es fehlt ihnen der innere Halt. Drittkulturkinder klagen über Wurzellosigkeit. Ja, Wurzellosigkeit ist tatsächlich ein grosses Thema dieser Kinder und Jugendlichen. Weil sie oft umgezogen sind, haben sie nie die Möglichkeit gehabt, eine tiefere Bindung zu einem Ort aufzubauen. Auf die Frage Woher kommst du? haben sie darum keine einfache Antwort. Sie wissen etwa nicht, ob sie nun die Fussballmannschaft ihres Herkunftslandes oder ihres Gastlandes anfeuern sollen. Schwieriger wird es, wenn es zu Wertedissonanzen kommt, zum Beispiel bei Diskussionen um Abtreibung, die in manchen Ländern akzeptiert, in anderen Ländern höchst umstritten ist. Heimat ist ebenfalls ein Begriff, den sie so nicht kennen. TCKids verbinden damit vor allem Personen, bei denen sie sich wohlfühlen und nicht einen geografischen Ort. Kurz gesagt: Die Kinder gehören einfach nirgendwo hin. Selbst, wenn ein TCKid an einen Ort zurückkehrt, den er oder sie Heimat nennt, ist es da nicht so wie vorher. Sie selber haben sich verändert und auch die Menschen, die dageblieben sind haben sich weiter entwickelt. Sie haben Probleme, sich gegenseitig zu verstehen und an früher Erlebtem anzuknüpfen. Was hat das für Folgen? Viele TCKs entwickeln mit der Zeit einen eigenartigen Migrationsinstinkt. Alle paar Jahre klingelt ein innerer Wecker und sie haben das Gefühl, weiterziehen zu müssen. Sie lassen dann die aktuellen Konflikte hinter sich und ziehen weiter. © 2015 cinfo – www.cinfo.ch – «Third Culture Kids» – Aufgewachsen zwischen den Welten 2 Eine schwierige Basis, um beispielsweise Beziehungen aufzubauen und zu pflegen. TCKids zeigen aufgrund wiederholter Trennungen oft spezielle Beziehungsmuster. Sie neigen beispielsweise dazu, sehr schnell intim zu werden und tiefere Beziehungen zu knüpfen. Einerseits, weil sie geübt darin sind, mit Menschen in Kontakt zu treten, andererseits weil sie wissen, dass ihnen nur wenig Zeit bleibt, um eine Beziehung aufzubauen. Es gibt aber auch TCKids mit der genau entgegengesetzten Strategie: Diese leben zurückgezogen und gehen kaum Beziehungen ein, um einen erneuten Trennungsschmerz zu vermeiden oder zu mindern. Wie sollen Drittkulturkinder mit den steten Trennungen umgehen? Vermehrte Trennungen von geliebten Menschen, Dingen und Orten gehören zum Leben von hochmobilen Menschen mit dazu. Entweder die TCKids selbst oder die Menschen um sie herum kommen oder gehen ständig. Wichtig ist, dass das Abschiednehmen bewusst geschieht und verarbeitet wird. Unverarbeitete Verluste können sonst – manchmal auch erst Jahre später – zu Depressionen führen. Sind weitere «Spätfolgen» zu erwarten? Ein verbreitetes Phänomen bei TCKids ist die verspätete Adoleszenz. Der Grund ist, dass manche Entwicklungsschritte von TCKids nicht vollzogen werden können. Während andere Teenager beispielsweise gegen ihre stabile und starre Umwelt rebellieren, ist dies den TCKids nicht möglich. Rebellion könnte ihr Familiensystem ernsthaft gefährden oder auch das «Überleben» in der Organisation in Frage stellen, in der die Eltern angestellt sind. Stellen Sie sich etwa eine Tochter in einer Missionarsfamilie vor, die schwanger wird: Das könnte die Eltern die Anstellung kosten. TCKids sind sich solcher Gefahren bewusst und rebellieren darum kaum. Das verzögert die Identitäts- und Persönlichkeitsentwicklung von TCKids. Sie zeigen oft eine Verzögerung der Entwicklungsstadien während der Adoleszenz. Was geben Sie Eltern mit auf den Weg, die mit ihren Kindern einen Auslandeinsatz antreten? Das wichtigste ist, dass Eltern ihren Kindern ein gutes Vorbild sind. Wenn sie dem Auslandeinsatz gegenüber selber positiv eingestellt sind, gibt das den Kindern Sicherheit. Eltern sollten ihre Kinder auch frühzeitig über den bevorstehenden Umzug informieren und sie darauf hinführen – mit Abschiedszeremonien, Verabschiedungen und indem sie die Kinder über den neuen Wohnort informieren und vorbereiten. Am neuen Wohnort sollten alte Rituale weiter gepflegt werden, um eine gewisse Kontinuität herzustellen. Das gibt dem Kind Boden… …auf dem es aufbauen kann… Der Dali Lama sagt: Ein Baum mit starken Wurzeln kann dem stärksten Sturm widerstehen, aber der Baum kann keine Wurzeln schlagen, wenn der Sturm am Horizont auftaucht. Diese präventive Arbeit ist die Aufgabe der Eltern. Text und Interview: Pascal Schwendener, cinfo, Juni 2015 Isabelle Siclari hat an der Universität in Genf Psychologie studiert und ein Nachdiplomstudium in klinischer Sozialpsychologie an der Universität Lausanne absolviert. Nach etlichen Jahren psychologischer Arbeit in Genf, Argentinien und Chile erlangte sie am C.G. Jung-Institut in Zürich ihr Diplom als Psychotherapeutin. Sie praktizierte in Genf und Nairobi, bevor sie ihre Praxis in Bern eröffnete. Isabelle Siclari ist verheiratet und hat zwei Kinder. Sie lebt und arbeitet in Bern. © 2015 cinfo – www.cinfo.ch – «Third Culture Kids» – Aufgewachsen zwischen den Welten 3 Weiterlesen Bushong, Lois. (2013). Belonging Everywhere and nowhere: Insights into Counselling the Globally Mobile. Indianapolis. Mango Tree Intercultural Services Coutain, G; Russel, A. (2009) L’enfant expatrié. Accompagner son enfant à travers les changements liés à l’expatriation. Paris: L’Harmattan. Pollock, D.C; Van Reken, R. (2009). Third Culture kids. Growing Up Among Worlds. Boston: Nicholas Brealey Publishing. Richter, N. (2011) Third Culture Kids. Transkulturelle Kindheits- und Jungenderfahrungen. Tectum Verlag Marburg. www.denizenmag.com www.tckworld.com Beratung und Begleitung Beschäftigt Sie das Thema Ausreise in den Auslandeinsatz als Begleitperson und Familie? Die IZA-erfahrenen BeraterInnen von cinfo beraten und begleiten Sie gerne in einem Einzelgespräch oder Coaching. Details und Anmeldung auf www.cinfo.ch → Angebote für Private → Laufbahnberatung. © 2015 cinfo – www.cinfo.ch – «Third Culture Kids» – Aufgewachsen zwischen den Welten 4
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