ISSN 2411-6750
Germivoire 2/2015
Der Entstehungsprozess der physischen Gewalt in Gerhart
Hauptmanns Die Weber
Patrice ADICO, Université Félix Houphouët-Boigny (Abidjan, Côted’Ivoire)
Résumé
La violence, quelle qu’en soit la forme, est imbriquée dans les relations
humaines. Cependant, ce phénomène, qui est perceptible à travers plusieurs
indicateurs, n’est pas inopiné. A ce titre, on pourrait alors se demander
comment la violence, en particulier la violence physique, prend-t-elle forme.
Pour répondre à une telle préoccupation, nous avons recours à l’œuvre
« Les tisserands » de l’écrivain allemand Gerhart Hauptmann. Ce travail
s’articule ainsi autour de deux points essentiels : le premier regardant les
facteurs de la violence physique et le second cherchant à savoir l’expression
de cette violence et ses effets. La violence physique répond ainsi à un
processus qui conduit indubitablement à la négation de l’autre.
Mots-clés : Identité, lutte, société, Violence.
Abstract
Violence, whatever its form, is embedded in human relations. However, this
phenomenon, which is noticeable through a number of indicators, is not
unexpected. One could also wonder how violence, particularly physical
violence, takes shape. That is the reason why it appears useful to analyze it
more in a Drama like “the Weaver” of Gerhart Hauptmann. This work revolves
thereby around two main points: the first is related to the different factors of
the physical violence and the second enlightens the expression of this
violence and its effects. Physical violence is the fruit of a certain process
which undoubtedly leads to the negation of the other.
Keywords: Dehumanization, identity, society, violence.
Patrice ADICO: Der Entstehungsprozess der physischen Gewalt in Gerhart Hauptmanns Die Weber
http://germivoire.net/?ivoire=detailart&idart=409&rub=176 Germivoire 2/2015 Einleitung
Die Geschichte der Menschheit lässt eine Fülle von Gewaltakten erkennen,
die in der Dichtung nach wie vor verarbeitet werden. In den Mythen, tollen
Geschichten, sogar in den Texten der ersten Dichter und Gelehrten nimmt
Gewalt einen bedeutenden Platz ein. Die Geschichten der Götter sind voll von
Wut,
Kämpfen
und
Rache
bzw.
Blutbad,
wie
sie
in
den
Gründungserzählungen unserer Zivilisationen zu finden sind. Die Gewalt
nimmt
viele
Formen
an;
sie
erfolgt
individuell,
kollektiv
bzw.
zwischenmenschlich und zwischenstaatlich. Gewalt ist also ein tagtägliches
Phänomen,
das
an
Kriegen,
Terroranschlägen,
gewaltsamen
Demonstrationen, Militär- und Polizeieinsätzen etc. manifest ist. Die Medien
vermitteln jeden Tag Informationen und Bilder über die Gewalttaten aus aller
Welt. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Gewalt, insbesondere die
physische Gewalt, in vielen literarischen Texten thematisiert wird.
Was ist Gewalt und wie lässt sie sich definieren? Wir wollen uns auf die von
Böttger gegebene Definition berufen. Ihm zufolge ist Gewalt
der intentionale [vorsätzliche] Einsatz physischer oder
mechanischer Kraft durch Menschen, der sich unmittelbar oder
mittelbar [=gegen Sachen] gegen andere Personen richtet, sowie
die ernsthafte Androhung eines solchen Krafteinsatzes, soweit sie
im Rahmen einer sozialen Interaktion erfolgt.1
Unter „Gewalt“ versteht man eine physische Kraft, die die Schädigung gegen
Sachen oder Menschen in einem sozialen Kontext zum Ziel hat, damit etwas
erreicht wird. In diesem Sinne betrachtet Popitz die Gewalt als eine
„Machtaktion, die zur absichtlichen körperlichen Verletzung anderer führt“2.
Die physische Gewalt, auf die sich Popitz‘ Definition der Gewalt bezieht,
entsteht aber nicht ohne Grund; sie hängt von verschiedenen Faktoren ab.
Wie entsteht die physische Gewalt in einem sozialen Kontext? Welches sind
ihre Mechanismen und Grundlagen? Wie lässt sich diese Gewalt als soziales
Handeln verstehen? Im Rahmen einer Untersuchung zu „Die Weber“ von
Gerhart Hauptmann wird versucht, Antworten auf diese Fragen zu finden.
Dieses Drama zeichnet den historischen Aufstand der schlesischen Weber
von Peterswaldau und Langenbielau im Juni 1844 nach. Die Weber, die zu
Hause ihre Arbeit verrichteten, bekamen dafür einen ärmlichen Lohn. Diese
Böttger zitiert nach Rainer Strobl (2003): Worüber man nicht spricht: Strukturelle Gewalt.
Bielfeld: IKG. S. 3.
2 Heinrich Popitz (1992): Phänomen der Macht. Tübingen: Mohr. S.48.
1
300 Patrice ADICO: Der Entstehungsprozess der physischen Gewalt in Gerhart Hauptmanns Die Weber
Germivoire 2/2015 beständigen ärmlichen Lebensbedingungen führten die Weber dazu, gegen
die Fabrikanten zu rebellieren, welche die Weber ausbeuteten.
Zur Durchführung dieser Untersuchung werden wir zunächst die Faktoren
der physischen Gewalt aufzeigen. Im weiteren Verlauf werden physische
Gewalt und deren Effekte in Gerhart Hauptmanns Drama „Die Weber“
dargelegt.
1. Die Faktoren der physischen Gewalt
Gewalt tritt nur selten als ein plötzlicher und unerwarteter Schwenk auf. Es ist
das Resultat eines spezifischen Vorgangs, welcher sowohl von einer
einzigartigen Sozialisation als auch von miteinander vernetzten Faktoren
geprägt ist. Die Entstehung der Gewalt kann von den folgenden Elementen
bestimmt werden: den situationellen, kommunikativen und psychologischen
Faktoren.
1.1. Situationelle Faktoren
Was den Ursprung der Gewalt angeht, so schreibt Karl Marx: “Die Gewalt ist
der Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger
geht.“3 Aus diesen Worten von Karl Marx geht hervor, dass die Gewalt in die
Struktur der Gesellschaft verwickelt ist. Unter situationellen Aspekten versteht
man soziale Ungerechtigkeit, schlechte Verteilung der Ressourcen und die
Marginalisierung etc. Solche Elemente können Gewalt mit sich bringen, wie
sich im Drama „Die Weber“ sehen lässt. Die Gewaltanwendung der Weber
entsteht zusehends aus diesen situationellen Aspekten.
Die Lebensbedingungen der Weber waren nicht glänzend. In den
Regieanweisungen des zweiten Aktes gibt Hauptmann eine Beschreibung
dieser
Lebensbedingungen
am
Beispiel
der
Lebenssituation
einer
Weberfamilie:
In einem engen, von der sehr schadhaften Diele bis zur schwarz
verräucherten Balkendecke nicht sechs Fuß hohen sitzen: zwei
junge Mädchen, Emma und Bertha Baumert, an Webstühlen –
Mutter Baumert, eine kontrakte Alte, auf einem Schemel am Bett,
3
Karl Marx (1968): Das Kapital. Bd. I. Berlin: Dietz Verlag. S. 779.
301 Patrice ADICO: Der Entstehungsprozess der physischen Gewalt in Gerhart Hauptmanns Die Weber
Germivoire 2/2015 wo sich ein Spulrad – ihr Sohn August […]. Durch zwei kleine, zum
Teil mit Papier verklebte und mit Stroh verstopfte Fensterlöcher der
linken Wand dringt schwaches, rosafarbenes Licht des Abends. Es
fällt auf das weißblonde, offene Haar der Mädchen, auf ihre
unbekleideten, mageren Schultern und dünnen, wächsernen
Nacken, auf die Falten des groben Hemdes im Rücken, das, nebst
einem kurzen Röckchen aus härtester Leinewand, ihre einzige
Bekleidung ist. […] Auf der Ofenstange hängen Lumpen zum
Trocknen, hinter dem Ofen ist altes, wertloses Gerümpel
angehäuft.4
Dieser Auszug aus der Regieanweisung veranschaulicht in großen Zügen die
Lage der Weber, die kümmerlich ihr Leben fristen. Diese Weber sind dadurch
Einwohner von Elendsvierteln, sozusagen einer Gesellschaft verschlimmerter
Unbeständigkeit,
wo
schlechte
Gesundheitszustände,
ökonomische
Unsicherheit bestehen. Hier sind die Weber in einer Welt zu finden, in der sie
in große Not geraten sind. Diese Weber, die alltags bei der Arbeit sind,
können nicht von ihrem Werk profitieren, um ein gutes Leben zu führen. Im
Gegensatz dazu ist ihr Alltagsleben in einem schlechten Zustand verankert.
Ihr Körperzustand ist ein Beweis dafür. Gerhart Hauptmann verwendet ein
ausdrückliches Wortfeld dazu: „zwerghaft“, ärmlich“, schmutzigblass“, „Knien
sind gekrümmt“5, „zerlumpter Junge“6… Der Lohn, den sie für ihre Arbeit
empfangen, ist so niedrig, dass einer der Figuren, nämlich Bäcker, sich
empört: „Das is a schäbiges Almosen, aber kee [sic] Lohn“7
Sie können sogar ihre primären natürlichen Bedürfnisse kaum befriedigen; sie
verhungern. Die Szene mit dem unerwähnten Jungen, der in Ohnmacht fällt,
bestätigt diese Tatsache8. Diese Situation führt die Weber dazu, ihre
Nahrungsgewohnheiten zu ändern. Die Weberfamilie „Baumert“ hat einen
Hund getötet und ihn gegessen, weil sie schon lange kein Fleisch gegessen
hat9.
Offensichtlich liegen das Leiden und die Frustration der Gewalt zugrunde. In
diesem Sinne ist der Begriff „Begierde“ interessant, um die Mechanismen,
die hinter dem Phänomen der Gewalt stecken, zu verstehen, umso mehr als
die unbefriedigenden Grundbedürfnisse wie Essen und Trinken Auslöser von
Gewalt sein können.
Gerhart Hauptmann (1996): Die Weber. Berlin: Cornelsen Verlag. S. 29.
ebd. S. 18.
6 ebd. S. 30.
7 ebd. S. 22.
8 ebd. S. 24.
9 ebd. S. 37.
4
5
302 Patrice ADICO: Der Entstehungsprozess der physischen Gewalt in Gerhart Hauptmanns Die Weber
Germivoire 2/2015 Allem Anschein nach kann die Gewalt entstehen, wenn man auf etwas
verzichten muss, das heißt, wenn man mit einer Situation der Frustration und
des Ärgers konfrontiert ist. Es liegt klar auf der Hand, dass die sozialen und
politischen Umstände die Gewalt provozieren können. Darüber schreibt Erich
Fromm Folgendes:
Viele Menschen glauben lieber, dass unser Hang zur Gewalt und
zur atomaren Auseinandersetzung auf biologische Faktoren
zurückzuführen ist, die sich unserer Kontrolle entziehen, als dass
sie die Augen aufmachen und erkennen, dass die von uns selbst
verursachten sozialen, politischen und ökonomischen Umstände
daran schuld sind.10
Die Lebenslage der Weber ist so erbärmlich, dass der alte Baumert sich als
die Verkörperung der Armut ansieht:
Haut und Hemde. All’s richtig,‘s ist der Armut Haut und Hemde. Hier
steh ich, Robert Baumert, Webermeister von Kaschbach. Wer kann
vortreten und sag’n… Ich bin ein braver Mensch gewest mei
lebelang und nu seht mich an! Was hab’n se aus mir gemacht? Hier
wird der Mensch langsam gequält. Dahier, greift amal an, Haut und
Knochen. Ihr Schurken all, ihr Satansbrut!!11
Das Leben der Weber steht im Kontrast zu diesem der Fabrikanten, die ein
Leben in Wohlstand führen:
Peterswaldau. – Privatzimmer des Barchentfabrikanten Dreissiger.
Ein im frostigen Geschmack der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts
luxuriös ausgestatteter Raum. Die Decke, der Ofen, die Türen sind
weiss; die Tapete gradlinig kleingeblümt und von einem kalten,
bleigrauenTon. Dazu kommen rotüberzogene Polstermöbel aus
Mahagoniholz, reich geziert und geschnitzt, Schränke und Stühle
von gleichem Material.12
Die Reaktion von Jäger13 fasst die Situation zusammen: „Je mehr d’r hungert,
umso desto fetter speis ich. Je grösser de Not, desto grösser mei Brot.“14
Diese strukturellen Faktoren rechtfertigen allein die Gewalt nicht. Dazu
kommen die kommunikativen Elemente.
Erich Fromm (1973): Anatomie der menschlichen Destruktivität. Hamburg: Rowohlt
Taschenbuch Verlag. S. 33.
11 Gerhart Hauptmann (1996): Die Weber. a. a. O. S. 40.
12 ebd. S. 54.
13 Vor vier Jahren hat er das Dorf verlassen und kehrt nun zu seinen Verwandten, den Baumerts,
zurück. Seine Militärzeit bei den Husaren hat ihm Welterfahrung gebracht. Er ist im Besitz des
gesamten Textes des Weberlieds, einer wichtigen Waffe der Weber.
14 ebd. S. 49.
10
303 Patrice ADICO: Der Entstehungsprozess der physischen Gewalt in Gerhart Hauptmanns Die Weber
Germivoire 2/2015 1.2. Kommunikative Faktoren
Die Sprache ist nicht nur ein Kommunikationsmittel, sondern auch ein
Zeichen des Denkens, ein Signal zu dem, was einer tun will. Sie ist
einigermaßen der Ausdruck des Willens, wie Butler es feststellt:
Wir tun Dinge mit der Sprache, rufen mit der Sprache Effekte
hervor, und wir tun der Sprache Dinge an; doch zugleich ist Sprache
selbst etwas, was wir tun. Sprache ist ein Name für unser Tun, d.h.
zugleich das, „was“ wir tun [...] und das, was wir bewirken; also die
Handlung und ihre Folgen.15
Durch den Sprechakt gibt der Mensch Informationen, die einigermaßen sein
Wesen hervorhebt, wie Benjamin überzeugend meint: „Der Mensch teilt sein
[…] Wesen in [sic] seiner Sprache mit.“16. Der Mensch hängt, in seinem
sozialen Leben, von der Sprache ab, weil er sich der Sprache bedient, um
anzureden, die Dinge zu benennen bzw. zu bezeichnen. Der Mensch drückt
ständig damit seine
Gefühle aus und erweckt Sensationen. Die
gesellschaftliche Struktur ist von diesem Element stark geprägt. Einer der
Wendepunkte im Leben ist der Tag, wo der Mensch seine ersten Worte
spricht. In diesem Sinne ist die Sprache einer der bevorzugtesten
Sprachkanäle. So kann sie positiv oder negativ die angeredete Person
beeinflussen und dadurch eine gewisse Reaktion bei dieser Person
provozieren. Diese Reaktion kann zur Gewalt führen. Hinter der Sprache
selbst steckt eine Gewaltform, die allmählich, wenn sie nicht erstickt werden
kann, zur physischen Gewalt aufruft. Mit diesem Stück versteht man, wie eine
schlechte Anwendung von Sprache große Konsequenzen hervorbringen
kann.
Die Verkettung der Ereignisse in diesem Stück dreht sich nicht nur um die
„Weber“ (die Ausgebeuteten), sondern auch um die Fabrikanten (verkörpert
hier in Dreißiger). Sie machen die Ausbeuter aus: „Die Herren Dreißiger die
Henker sind, die Diener ihre Schergen…“17
Diese üben einen großen Einfluss auf die Weber. Die Verhältnisse zwischen
den beiden Entitäten kommen einigermaßen denen zwischen einem Sklaven
und seinem Meister gleich. Eine Lawine von Worten markieren immerfort ihre
Judith Butler (2006): Hass spricht. Zur Politik des Performativen. Frankfurt am Main:
Suhrkamp. S. 19.
16 Benjamin, Walter(1977): „Über Sprache überhaupt über die Sprache des Menschen.“ In:
Gesammelte Schriften unter Mitw. Von Theodor W. Adorno u. Gershom Scholem. Frankfurt am
Main: Suhrkamp: 140-145.
17 Gerhart Hauptmann (1996): Die Weber. a. a. O. 49.
15
304 Patrice ADICO: Der Entstehungsprozess der physischen Gewalt in Gerhart Hauptmanns Die Weber
Germivoire 2/2015 Beziehungen, welche die „Weber“ oft zum Erstarren bringen, wie dies aus
diesem Auszug hervortritt, in dem sich Pfeifer an Weber Heider wendet:
Pfeifer: das Stück an die Waage gebend. Das ist eben wieder’ne
rich’ge Schlauderarbeit. Schon wieder ein neues Weber in
Augenschein nehmend. So ein Salband, bald breit, bald schmal.
Emal hat’s den Einschuss zusammengeriss’n, wer weess wie sehr,
dann hat’s wieder mal’s Sperritt auseinandergezog’n. Und auf a Zoll
kaum siebzig Faden Eintrag. Wo is denn der ieberiche? Wo bleibt
da die Reelletät? Das wär so was!
Weber Heiber unterdrückt Tränen, steht gedemütigt und hilflos.18
Angesichts aller Tätigkeiten, die sie verrichten, fühlen sich die Weber
misshandelt besonders mit den unangebrachten Worten, so dass sie ratlos
sind:
Erste Weberfrau: […] Ich habe schon viele Woch’n keen’n Schlaf in
a Aug’n gehabt und’s wird auch schonn wieder gehen, wenn ock ich
und ich wer de Schwäche wieder a bissel rauskrieg’n aus a
Knoch’n. Aber Se miss’n halt ooch a eenziges bissel a Einsehen
hab’n. Inständig, schmeichlerisch flehend. Sind S’ock scheen
gebet’n und bewilligen mer dasmal a paar Greschl.19
Dreißiger und seine Anhänger reden rücksichtslos die Weber mit Missachtung
und Drohung an, wie dieser Dialog zwischen Dreißiger und der Bäcker es
zeigt:
Bäcker: Das is a schee Lied, das!20
Dreissiger. Noch ein Wort und ich schickte zur Polizei –
augenblicklich. Ich fackle nicht lange. Mit euch Jungens wird man
doch noch fertig werden. Ich bin doch schon mit ganz anderen
Leuten fertig geworden.
Bäcker: Oh, ob ich am Webstuhle d’rhungere oder im
Strassengrab’n, das is mir egal.
Dreissiger: Raus, auf der Stelle raus!
Bäcker.Erst will ich mei Lohn hab’n.
Dreissiger: Was kriegt der Kerl, Neumann?
Neumann: Zwölf Silbergroschen, fünf Pfennige.
Dreissiger: nimmt überhastig dem Kassierer das Geld ab und wirft
es auf den Zahltisch, so dass einige Münzen auf die Diele rollen. Da
– hier! und nu rasch mir aus den Augen!21
Man bemerkt schon, dass die Weber von den Fabrikanten abhängig sind, so
dass sie ein untertäniges Verhältnis manifestieren. Die Adressaten, d.h. die
Weber, werden von den Fabrikanten herabgesetzt, herabgewürdigt und
ebd. S. 20.
Gerhart Hauptmann (1996): Die Weber. a. a. O. S. 21.
20 Er spielt auf das Weberlied an, das das Verhältnis zwischen den Webern und den Fabrikanten
darlegt.
21 ebd. S. 24.
18
19
305 Patrice ADICO: Der Entstehungsprozess der physischen Gewalt in Gerhart Hauptmanns Die Weber
Germivoire 2/2015 verleumdet. Der Fabrikant und seine Anhänger schreien die Weber an,
beleidigen und erniedrigen sie, indem sie verletzende Worte sprechen. Die
Beziehungen zwischen den Fabrikanten und den Webern drehen sich um
Beleidigung, Herabwürdigung, Bedrohung und Hohn. Man erkennt diese
Tatsache durch die benutzten Wörter. Die Weber sind missachtet. Dieses
Drama stellt eine ganze Reihe von Wörtern und Ausdrücken dar, die die
gewaltsamen Aktionen und Herabwürdigung in der Rede erkennen lässt:
„Macht de Tiere zu, wer reinkommt“22, „Maul halten“23, „Raus“24,
„Hingeschlagen“25,
„unvernünftig“26,
„Presshund“27,
„Satansbrut“28,
„Menschenschinder“29…..
Die Weber sind ständig gehänselt, so dass der Sprechakt in diesem Drama
eine soziale Diskrepanz entstehen lässt. Unter sozialer Diskrepanz versteht
man die schlechte Behandlung einer sozialen Gruppe durch eine andere, die
autoritär ist, besonders durch die Benutzung der Sprache. Es entspricht einer
besonderen Behandlung einer Person anhand gesellschaftlicher Kriterien, die
zugleich die Identität der behandelten Person ans Licht bringt. Bourdieu
deutet Folgendes an: „Es bedeutet [sic] jemanden seine Identität, aber in dem
Sinne, dass er sie ihm ausspricht, und sie ihm zugleich, indem er sie ihm vor
allen Augen ausspricht, auferlegt [...] und ihm auf diese Weise mit Autorität
vermittelt, was er ist und was er zu sein hat.“30
In diesem Sinne fühlten sich die Weber sehr verletzt durch die Worte, so die
Reaktion von Bäcker auf die Androhung von Dreißiger, ihn zur Polizei zu
schicken:
Bäcker: Nu das will ich gloob’n. Aso a richtiger Fabrikante, der wird
mit zweedreihundert Webern fertich, eh man sich umsieht. Du lässt
a ooch ni a paar morsche Knoch’n iebrich. Aso eener, der hat vier
Mag’n wie’ne Kuh und a Gebiss wie a Wolf. Nee, nee, da hat’s
nischt!31
Diese Reaktion auf bedrohende bzw. verletzende Worte kann mit der Zeit
eine Verteidigung der eigenen Identität hervorbringen, die möglichst mithilfe
der physischen Gewalt zum Ausdruck kommt, wenn die Situation nicht
ebd. S. 19.
ebd. S. 22.
24 ebd. S. 24.
25 ebd. S. 25.
26 ebd. S. 26.
27 ebd. S. 27.
28 ebd. S. 53.
29 ebd. S. 65.
30 Pierre Bourdieu (1990): Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tauschs. Wien:
Braunmüller. S. 87f.
31 Gerhart Hauptmann (1996): Die Weber. a. a. O. S. 24.
22
23
306 Patrice ADICO: Der Entstehungsprozess der physischen Gewalt in Gerhart Hauptmanns Die Weber
Germivoire 2/2015 tragbar ist und sich der Unterdrückung nährt. Diese spiegelt sich in dem
psychologischen Umfeld wider.
1.3. Psychologische Faktoren
Die physische Gewalt ist generell nie spontan, auch wenn die Ursachen nicht
immer offensichtlich sind. Manche Personen reagieren aus einem plötzlichen
Impuls heraus, andere greifen aber zur Gewalt infolge von Ressentiments.
Die Gewalt ist die Konsequenz eines Leidens und einer Frustration. In dieser
Beziehung behauptet Johan Galtung: „Gewalt liegt dann vor, wenn Menschen
so beeinflusst werden, dass ihre aktuelle somatische und geistige
Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung.“32
Die folgende Szene bestätigt Galtungs Aussage:
Kassierer Neumann: Geld aufzählend. Bleibt sechzehn
Silbergroschen, zwei Pfennig.
Erste Weberfrau: dreißigjährig, sehr abgezehrt, streicht das Geld
ein mit zitternden Fingern.
Sind Se bedankt.
Neumann: als die Frau stehenbleibt. Nu? Stimmt’s etwa wieder
nich?
Erste Weberfrau: bewegt, flehentlich. A paar Fenniche uf Vorschuss
hätt ich doch halt a so neetig
Neumann: Ich hab a paar hundert Taler neetig. Wenn’s ufs
Neetighaben ankäm-! Schon mit
Auszahlen an einen andern
Weber beschäftigt, kurz. Ieber den Vorschuss hat Herr Dreißiger
selbst zu bestimmen.
Erste Weberfrau: Kennt ich da vielleicht amal mit’n Herrn Dreißiger
selber red’n?
Expedient Pfeifer: ehemaliger Weber. Das Typische an ihm ist
unverkennbar, nur ist er wohlgenährt, gepflegt gekleidet, glattrasiert,
auch ein starker Schnupfer. Er ruft barsch herüber. Da hätte Herr
Dreißiger weeß Gott viel zu tun, wenn er sich um jede Kleenigkeit
selber bekimmern sollte. Dazu sind wir da. Er zirkelt und untersucht
mit der Lupe. Schwerenot! Das zieht. Er packt sich einen dicken
Schal um den Hals. Macht die Tiere zu, wer reinkommt.33
Diese Szene zeigt, wie die Weber von den Angestellten des Herrn Dreissiger
psychologisch misshandelt werden. Dem Willen bzw. dem Wunsch der Weber
wird fast nie entsprochen. Sie haben einigermaßen ein Demütigungs- und
Erniedrigungsgefühl, das zur Gewalt führen kann. Die Gewalt ist eine starke
Ressource kollektiver Affirmation, um ein Kräftegleichgewicht zu erhalten. Es
besteht also ein Verhältnis zwischen der physischen Gewalt und dem
Selbstwertgewicht. In diesem Fall dient die Gewalt – wenigstens im Falle der
32
33
Johan Galtung (1975) : Strukturelle Gewalt. Hamburg: Reinbeck. S. 9.
Gerhart Hauptmann (1996): Die Weber. a. a. O. S.18.
307 Patrice ADICO: Der Entstehungsprozess der physischen Gewalt in Gerhart Hauptmanns Die Weber
Germivoire 2/2015 physischen Gewalt – dazu, die Ungleichheit im sozialen Erfolg und die
Ausschließung in der sozialen Anerkennung zu verwandeln. Diese
Ungleichheit haben die Weber schon bemerkt und sind dessen bewusst. Um
sich dieser Lage zu entziehen, schließen sich die Weber zu einer Gruppe
zusammen.Aber sie brauchen, um sich ihrer Lethargie zu entziehen, einen
Impuls, den sie im Weberlied gefunden haben. Dieses Lied, das von Jäger
vorgetragen wird, stellt die schlechte Lage der Weber dar. Als Jäger dieses
Lied in dem zweiten Akt des Stückes fertiggelesen hat, haben einige Weber
den Entschluss zum Aufruhr gefasst:
Der Alte Baumert: springt auf, hingerissen zu deliranter Raserei.
Haut und Hemde. All’s richtig, s ist der Armut Haut und Hemde. Hier
steh ich, Robert Baumert, Webermeister von Kaschbach. Wer kann
vortreten und sag’n… Ich bin ein braver Mensch gewest mei
lebelang und nu steht mich an! Was hab ich davon? Wie seh ich
aus? Was hab’n se aus mir gemacht? Hier wird der Mensch
langsam gequält. Er reckt seine Arme hin. Dahier, greift amal an,
Haut und Knochen. Ihr Schurken all, ihr Satansbrut!! Er bricht
weinend vor verzweifelten Inngrimm auf seinem Stuhl zusammen.
Ansorge: schleudert den Korb in die Ecke, erhebt sich, am ganzen
Leibe zitternd vor Wut, stammelt hervor. Und das muss anderscher
wer’n, sprech ich, jetzt uf der Stelle. Mir leiden’s nimehr! Mir
leiden’s nimehr, mag kommen, was will.34
Die Gruppeneffekte können erwähnt werden, denn die gebildete Gruppe kann
ein großes Gewicht in dem gewalttätigen Aktivismus haben. Die geeignete
Gruppe zwingt zum Respekt vor ihrer Dynamik. Sie ruft nicht nur einen
praktischen Konsens hervor, sondern auch ein Gruppengedenken, das die
Gewalt legitimiert und ihre Anfechtung komplex macht. In diesem
Zusammenhang führt die Gewalt zur Einführung einer Vision der sozialen
Realität, die es ist, auf die Angst, die Furcht vor dem Anderen, die
Hervorhebung der Angst und die dringende Notwendigkeit zu reagieren. Die
Weber lassen ihre Absicht einfach erkennen, wie diese Regieanweisung
zeigt: „Man hört draußen das Weberlied singen“.35 Diese Weber möchten
augenfällig einen Aufstand machen:
Wittig: Ihr Leute, ihr Leute, ich lach mich tot. Der alte Baumert will
Rebellion
machen“.36
Am Ende des dritten Aktes ziehen die Weber schon auf die Straße und
singen dabei das Weberlied. Das ist ein Signal zum Aufstand.
ebd. S. 40.
Gerhart Hauptmann (1996): Die Weber. a. a. O. 48.
36 ebd. S. 50.
34
35
308 Patrice ADICO: Der Entstehungsprozess der physischen Gewalt in Gerhart Hauptmanns Die Weber
Germivoire 2/2015 2. Ausdruck der physischen Gewalt und deren Effekte
2.1. Ausdruck der physischen Gewalt
Die gewalttätige Person will denjenigen beseitigen, der ihr Gewalt antut.
Dieser Übergang zur Handlung ist der Lust bar. Sie wird als eine einfache
Notwendigkeit erlebt. Auch wenn der Täter die sozialen Gesetze oder Regeln
nicht ignoriert, die die zwischenmenschlichen Beziehungen regeln, handelt er
ohne Schuld: die Unterdrücker sind als
Feinde zu töten. Um dies zu
erreichen, mobilisiert er all seine Energie, um sie zu entfernen. Für sein
Leben und das seiner Familie handelt er. Die revolutionäre Gewalt ist ein
Weg, um sein Recht geltend zu machen:
Dritter Alter Weber: mit gehobener Stimme. Daher die Helle die
Seele weit aufgesperrt und den Rachen aufgetan, ohn alle Masse,
dass hinunterfahren alle die, so die Sache der Armen beugen und
Gewalt üben im Recht der Elenden, spricht der Herr. Der alte
Weber, plötzlich schülerhaft deklamierend.
Und doch wie wunderlich geht’s
wenn man es recht will betrachten,
wenn man des Leinwebers Arbeit will verachten37
Die Absicht der Weber durch die Absage ist klar; sie möchten mithilfe der
Gewalt das Recht und die Justiz wiederherstellen. An diesem Punkt ist die
Anwendung von Gewalt die einzige Möglichkeit, um Recht und Justiz zu
erreichen.
Eines ist sicher: wo Gewalt angewendet wird, gibt es zwangläufig zwei
Instanzen: einen Täter und auch ein Opfer. In diesem Beitrag sind die Weber
die Täter und Dreißiger und dessen Angestellte die Opfer.
In dem vierten Akt kommen die Weber an Dreißigers Haus an. Der Sinn der
Gewalt besteht darin, dass die Symbole der Herrschaft zerstört und in den
Jubel unterzogen werden müssen. Die Unterdrücker zielen weniger auf das
Weh als auf den Spott, sogar auf die Demütigung des Gegners. Deswegen
dringen die Weber in Dreißigers Villa mit ihrem Wohlstand, die dessen
Herrschaft symbolisiert. Daraus erfolgt, dass die physische Gewalt darin
besteht, die sichtbaren Elemente der Unterdrücker zu vertilgen, weil die
Unterdrückten beim Ansehen dieser Symbole weiterhin Leiden und
37
ebd. S. 51.
309 Patrice ADICO: Der Entstehungsprozess der physischen Gewalt in Gerhart Hauptmanns Die Weber
Germivoire 2/2015 Frustration empfinden. Die Anwendung von physischer Gewalt gilt als „die
letzte Maßnahme zur Verhinderung störenden Handelns“.38
Der Aufstand ist im Grunde genommen ein Ausdruck der Unzufriedenheit. Die
daraus erfolgte Zerstörung wird als eine Rache empfunden:
Jäger: Wenn mersch o ni kriegen, das Dreißichervieh… arm soll a
wern.
Der Alte Baumert: Arm soll a wer wie ne Kirchenmaus. Arm soll a
wern.
Alle stürmen in der Absicht zu demolieren auf die Salontür zu.39
In der Tat symbolisiert Dreißiger die Industriellen, die die Mechanisierung
eingeführt haben und die Weber daran hindern, ihre Arbeit zu genießen.
Deswegen setzten die Weber ihre Aktion fort. Sie haben vor, die
mechanischen Webstühle zu zerstören.
Die Weber, welche die Täter sind, üben nahezu eine Macht aus; sie
realisieren ein Herrschaftsverhältnis. Die Täter flössen den Opfern Angst ein.
Die Reaktion von Dreißiger und seiner Umgebung beweist es:
Kittelhaus: Ja aber… Gebrüll von unten. Ja, aber …. Wissen Sie:
Die Leute machen einen so schrecklichen Skandal
Dreißiger: Ziehen wir uns einfach in das andere Zimmer zurück. Da
sind wir ganz ungestört.
[…]
Pfeifer: auf einem Stuhl sitzend, am ganzen Leibe zitternd,
wimmernd. Herr Dreißicher, s wird ernst! Herr Dreißicher, s wird
ernst!
Dreißiger: Na, dann kann mir aber die Polizei…
Pfeifer: Herr Dreißicher, s wird ernst!
[…]
Dreißiger: Rosa wirf dir was über und spring in den Wagen, ich
komme gleich nach! Er stürzt nach dem Geldschrank, schließt ihn
auf und entnimmt ihm verschiedene Wertsachen.40
Dreißiger und seine Umgebung ergreifen die Flucht, um sich der Gewalt der
Weber
zu
entziehen.
Die
physische
Gewalt
kann
erfolgversprechende Gelegenheit angesehen werde, um
als
eine
die Macht zu
übernehmen.
Aber derjenige, der Gewalt anwendet, ist seines Sieges nicht immer sicher
und hat sogar keine Ahnung von den vernichtenden Konsequenzen. Wir
Talcott Parsons (1986) : Gesellschaften. Evolutionäre und komparative Perspektiven. Frankfurt
am Main: Suhrkamp. S. 28.
39 Gerhart Hauptmann (1996): Die Weber. a. a. O. S. 66.
40 Gerhart Hauptmann (1996): Die Weber. a. a. O. S. 67.
38
310 Patrice ADICO: Der Entstehungsprozess der physischen Gewalt in Gerhart Hauptmanns Die Weber
Germivoire 2/2015 können dadurch auf einen Zirkel von Rachgier stoßen. Die Gewaltanwendung
kann also Effekte haben.
2.2. Effekte der Gewaltanwendung
Die Gewaltanwendung führt zu einigen Effekten, die nicht nur die
Gewalttätigen, sondern auch das Opfer betreffen. Erstens ignorieren die Täter
die anderen Leute. Im äußersten Fall hat die gewalttätige Person nur Angst
davor, zerstört zu werden. Ihr einziger Zweck ist es, sein Überleben und das
ihrer Familien zu gewährleisten. Seine Gewalt ist eine Reaktion auf ein Gefühl
von Gefahr. Der Täter gibt nicht auf das Weh acht, das er dem anderen tun
kann. Die verschiedenen Reaktionen der Weber, als sie das Weberlied
hörten, ist ein Beweis dafür:
Der Alte Baumert: mit zitternder Wut den Boden stampfend. Ja,
Satansbrut!!
Jäger: liest
… ihr höllischen Kujone,
ihr fresst der Armen Hab und Gut,
und Fluch wird euch zum Lohne.
Ansorge: Nu ja ja, das ist auch an Fluch wert
Der Alte Baumert: die Faust ballend, drohend. Ihr fresst der Armen
Hab und Gut-!
Jäger: Liest
Hier hilft kein Bitten und klein Flehn,
umsonst ist alles Klagen,
[…]
Der Alte Baumert: Wie steht’s? Umsont ist alles Klagenc? Jedes
Wort… jedes Wort
…. da is all’aso richtig wie in d’r Bibel. Hier hilft kein Bitten und kein
Flehn!
Ansorge: Nu ja ja! nu nee nee! Da tutt schon nischt helfen.
Jäger: liest.
Nun denke man sich diese Not
und Elend dieser Armen,
zu Haus oft keinen Bissen Brot,
[…]
Der Alte Baumert: springt auf, hingerissen zu deliranter Raserei.
Haut und Hemde.
All’s rictig, s ist der Armut Haut und Hemde. […] Ich bin ein
braver Mensch
Gewest mei lebelang und nu seht mich an. Was hab’n se aus
mir gemacht? Hier
wird der Mensch langsam gequält.
Ansorge: schleudert den Korb in die Ecke, erhebt sich, am
ganzen Leibe zitternd vor
Wut, stammelt hervor. Und da muss anderscher wer’n, sprech
ich, jetzt uf der
Stelle. Mir leiden’s nimehr.41
41
Gerhart Hauptmann (1996): Die Weber. a. a. O. S.50.
311 Patrice ADICO: Der Entstehungsprozess der physischen Gewalt in Gerhart Hauptmanns Die Weber
Germivoire 2/2015 Die Ehrerbietung hat also keinen Platz in der Gewalt; der andere ist nur ein
Objekt unter anderen zu zerstören, um sich zu retten. Die Gewalt bezieht den
Selbsterhaltungstrieb ein, anders gesagt das Überleben und das Festhalten
an der eigenen Gruppe. Die Gewalt ist nicht erotisierter als die Aggressivität.
Während sich die Aggressivität durch Sadismus charakterisiert, ist die Gewalt
vielmehr der Erbarmungslosigkeit (Grausamkeit) nahe, wie Jean Bergeret es
bemerkt : “Quand, dans la guerre, il y a deux individus face à face, que c’est
"lui ou moi" et que la survie de l’un est conditionnée par la disparition de
l’autre, on se trouve face à une violence archaïque. “42
Daraus erfolgt zwangsläufig die Entmenschlichung des anderen. Der
Gewalttätige nimmt dem anderen die menschliche Qualität und verdinglicht
ihn. Er zieht ihn aus dem Feld der moralischen Regeln heraus. Der andere
kann nicht gut und zugleich schlecht sein; er ist einfach schlecht.
Aber physische Gewalt anwenden bedeutet auch sich der anderen Gewalt
aussetzen, die darin besteht, die Ordnung zu erhalten. Eine solche Gewalt
lässt einfach an diese der Polizei denken. Die Polizei ist normalerweise dazu
beauftragt, die Gesetze respektieren zu lassen und die Bürger
unvoreingenommen zu verteidigen, wenn sie in Gefahr sind. Dreißiger wendet
sich in diesem Stück an den Polizeiverwalter, um Hilfe zu rufen:
Dreißiger: hastig. Ist jemand zur Polizei gelaufen?
[…]
Polizeiverwalter: etwas fünfzigjähriger Mann, mittelgroß, korpulent,
vollblütige.
[…] Verfügen Sie über mich. Beruhigen Sie sich nur, ich stehe
ganz zu Ihrer
Verfügung.43
Durch solche Worte lässt sich die Verehrung der Polizei gegenüber Dreissiger
erkennen; er gibt sich ihm unterwürfig. Er hat dadurch seine Pflichten aus den
Augen verloren. Der Gewährmann der Gesetze ist nicht erkennbar. Er geht
weiter; Auf Befehl von Dreißiger lässt der Polizeiverwalter die Weber
festnehmen:
Jäger wird von fünf Färbereiarbeitern hereingeführt, die, an
Gesicht, Händen und
Kleidern mit Farbe befleckt, direkt von der Arbeit herkommen.
Der Gefangene
Jean Bergeret (1985): La violence fondamentale. Paris: Dunod. S. 72. „Wenn zwei Personen
im Krieg gegenüberstehen […] und dass das Überleben von einem von dem Verschwinden des
anderen abhängt, hat man mit einer archaischen Gewalt zu tun.“ [Übersetzung von mir]
43 ebd. S. 57.
42
312 Patrice ADICO: Der Entstehungsprozess der physischen Gewalt in Gerhart Hauptmanns Die Weber
Germivoire 2/2015 hat die Mütze schief sitzen, trägt eine freche Heiterkeit zur
Schau und befindet
infolge des vorherigen Branntweingenusses in gehobenem
Zustand.
Polizeiverwalter: schreit Jäger an. Mütze ab, Flegel! Jäger nimmt
sie ab, aber sehr
langsam, ohne sein ironisches Lächeln aufzugeben
[…]
Polizeiverwalter: Mit Erlaubnis, Herr Pastor. Er tritt zwischen ihn
und Jäger.
Kutsche! Binden Sie ihm die Hände!44
Diese Gewalt seitens der Polizei lässt die Weber nicht widerstandslos; sie
haben energisch gegen die Polizei reagiert, indem die Weber sie durch
Steinwürfe zurückdrängt.
Zu guter Letzt kann der Täter auch zum Opfer werden. Zwar dient die
physische Gewalt dazu, den anderen zu vernichten, aber es kommt
manchmal vor, dass der Gewalttätige zum Opfer derselben provozierten
Gewalt wird. In Hauptmanns Stück geschieht etwas Dramatisches: die Alte
Hilse wird von einem Streifschuss getroffen, der sie getötet hat.
Schluss
Im Lichte von Hauptmanns „Die Weber“ erweist sich die physische Gewalt als
die Summe von verschiedenen Elementen. Sie hängt von manchen Faktoren
ab, die scheinen, miteinander verbunden zu sein. In Wirklichkeit führen viele
soziale Faktoren zur physischen Gewalt. Unter anderen können die
situationellen Aspekte erwähnt werden. Die Situation teilt die Gesellschaft in
zwei Teile. In dem vorliegenden Stück ist einerseits die benachteiligte Klasse,
die ihre Arbeit nicht genießt und anderseits Herr Dreißiger, der von der Arbeit
der Weber profitiert und immer reicher wird, während die Weber verelenden.
Dazu kommt noch die kommunikative Situation. Die Weber sind ständig von
Dreißiger und dessen Anhängern eingeschüchtert, umso mehr ihre Wörter
von Drohungen geprägt sind. Die Weber leiden unter dem tyrannischen
Verhalten von Dreißiger und seinen Leuten.
Durch ihren Sprechakt erniedrigen sie die Weber, da ihr Sprechakt
verletzende Wörter enthält, was ein psychologisches Leiden zur Folge hat.
44
Gerhart Hauptmann (1996): Die Weber. a. a. O. S. 59.
313 Patrice ADICO: Der Entstehungsprozess der physischen Gewalt in Gerhart Hauptmanns Die Weber
Germivoire 2/2015 Sie folgen einer übergeordneten Herrschaft, und die Ausbeuter erteilen
Aufforderungen, denen die Weber willenlos nachkommen müssen. In dieser
dominierenden Beziehung entstehen Proteste und physische Gewalt. Die
Weber haben die Gewalt angewendet, um die Ungleichheit zu vertilgen und
ihre Interessen zu vertreten. Aber die physische Gewalt kann in allen Lagern
Opfer fordern.
Die physische Gewalt entsteht in einem gesellschaftlichen Kontext und
dehnt sich in diesem Kontext aus. Sie ist in Wirklichkeit ein Prozess, auch
wenn dieser Prozess nicht zu Ende geht und auch nicht mit der physischen
Beseitigung der gezielten Person oder Gruppe endet. Ihr Hauptzweck ist die
Zerstörung. Der Wunsch, den Anderen verschwinden zu lassen, ihn zu
beseitigen, auszuschließen und ihn zum Stillschweigen zu bringen, wird
stärker als der Wille zum Dialog. Die physische Gewalt ist nicht der Konflikt.
Im Gegenteil verschlimmert sie diesen Konflikt und führt nicht nur zur
Negation des Anderen, sondern auch zu einer sozialen Unordnung.
Literaturverzeichnis
Benjamin, Walter (1977): „Über Sprache überhaupt über die Sprache des
Menschen.“ In: Gesammelte Schriften unter Mitw. Von Theodor W.
Adorno u. Gershom Scholem. Frankfurt am Main: Suhrkamp: 140-145.
Bergeret, Jean (1985): La violence fondamentale. Paris : Dunod.
Bourdieu, Pierre (1990): Was heißt sprechen? Die Ökonomie des
sprachlichen Tauschs. Wien: Braunmüller.
Butler, Judith (2006): Hass spricht. Zur Politik des Performativen. Frankfurt
am Main: Suhrkamp.
Fromm, Erich (1973): Anatomie der menschlichen Destruktivität. Hamburg:
Rowohlt Taschenbuch Verlag.
Galtung, Johan (1975): Strukturelle Gewalt. Hamburg: Reinbeck.
Hauptmann, Gerhart (1996): Die Weber. Berlin: Cornelsen Verlag.
Marx, Karl (1968): Das Kapital. Bd. I. Berlin: Dietz Verlag.
314 Patrice ADICO: Der Entstehungsprozess der physischen Gewalt in Gerhart Hauptmanns Die Weber
Germivoire 2/2015 Parsons, Talcott (1986): Gesellschaften. Evolutionäre und komparative
Perspektiven. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Popitz, Heinrich (1992): Phänomenen der Macht. Tübingen: Mohr.
Strobl, Rainer (2003): Worüber man nicht spricht: Strukturelle Gewalt.
Bielefeld: IKG.
315 Patrice ADICO: Der Entstehungsprozess der physischen Gewalt in Gerhart Hauptmanns Die Weber