Prof. Dr. Winfrid Halder/Dr. Katja Schlenker Stiftung

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STELLUNGNAHME
Prof. Dr. Winfrid Halder/Dr. Katja Schlenker
16/3042
Stiftung Gerhart-Hauptmann-Haus
A05, A12, A19
[email protected] / [email protected]
Fachliche Stellungnahme zur Landtagsdrucksache 16/8125: Antrag der
Fraktion der CDU Landesstelle Unna-Massen – dokumentieren und in
Erinnerung behalten
I.
Zweifellos hat die Landesstelle Unna-Massen in den knapp sechs Jahrzehnten ihrer
Existenz (1951-2009) herausragende Bedeutung für die Aufnahme von Flüchtlingen
und Vertriebenen aus dem historischen deutschen Osten, von Aussiedlern und
Spätaussiedlern aus Ostmittel- und Osteuropa, von Kriegsflüchtlingen und
Asylsuchenden aus vielen Teilen der Welt gehabt. Insgesamt waren geschätzte 2,5
Millionen Menschen aus rund 100 Herkunftsländern zeitweilig in der Landesstelle
untergebracht. Das Schicksal dieser Menschen und die Aufnahme, die sie durch das
„Eingangstor“ Unna-Massen vielfach dauerhaft in Nordrhein-Westfalen gefunden
haben, sind ein bedeutsamer und fraglos erinnerungswürdiger Teil der nordrheinwestfälischen Landesgeschichte.
II.
Daher ist das Anliegen des vorliegenden Antrags, die „Erfolgsgeschichte der
Landesstelle Unna-Massen […] in angemessener Form in die Erinnerungskultur“
unseres Landes zu integrieren, uneingeschränkt zu begrüßen. Dies gilt auch für die
1
Forderung, unter Einbeziehung der örtlichen Selbstverwaltungseinrichtungen, der
derzeitigen oder zukünftigen Eigentümer und Nutzer des ehemaligen LandesstellenGeländes sowie des 2013 gegründeten „Vereins zur Förderung der Errichtung einer
Vertreibungs-Erinnerungsstätte
Unna-Massen
e.
V.“
(VES)
wie
auch
der
interessierten Anwohner eine „Erinnerungsstätte zu realisieren.“
III.
Offene Fragen stellen sich demgegenüber hinsichtlich der Forderung, „ein Konzept
für eine ‚Vertreibungs-Erinnerungsstätte Unna-Massen‘ auf dem ehemaligen Gelände
der Landesstelle Unna-Massen zu entwickeln, das die Geschichte und Entwicklung
der Vertreibung sowie die Bedeutung der Landesstelle dokumentiert.“
Klärungsbedarf besteht aus Sicht der Autoren vorrangig hinsichtlich folgender
Punkte:
1.) Begrifflicher und inhaltlicher Rahmen
Die verwendeten Begrifflichkeiten „Vertreibungs-Erinnerungsstätte“ und „Geschichte
und Entwicklung der Vertreibung“ erscheinen zu unscharf bzw. verengt. Gemeint
dürfte zunächst der Vertreibungsvorgang aus den historischen deutschen Ost- und
Siedlungsgebieten am Ende des Zweiten Weltkrieges und in dessen unmittelbaren
Folgejahren sein. Bei der Aufnahme von Teilen der betroffenen Menschen dieser
Provenienz hat die Landesstelle Unna-Massen sicherlich eine erhebliche Rolle
gespielt. Allerdings befand sich der größere Teil der Angehörigen dieser
Personengruppe bereits in Nordrhein-Westfalen bevor die Landesstelle Ende 1951
nach Unna-Massen verlegt wurde. Ende 1950 waren in Nordrhein-Westfalen rund
1,33 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene aus dem „Osten“ registriert. Bis 1961
erhöhte sich deren Zahl auf knapp 2,3 Millionen Menschen. Das bedeutet, dass die
Mehrheit dieser Zuwanderer nicht über Unna-Massen, sondern über andere
Aufnahmeeinrichtungen nach Nordrhein-Westfalen kam – etwa über die bereits 1946
geschaffene Vorgänger-Einrichtung in Siegen. Daher erscheint es dringlich, schon
bei der Bezeichnung der geplanten Erinnerungsstätte – und erst recht konzeptionell
– deutlich zu machen, dass die Landesstelle in Unna-Massen hohe Bedeutung hatte
für unterschiedliche Personengruppen, die aufgrund von verschiedenen (Zwangs2
)Migrationsprozessen nach Nordrhein-Westfalen kamen. „Vertreibung“ allein ist zu
pauschal und trifft auch nicht alle Migrationsvorgänge, die Menschen nach UnnaMassen kommen ließen. Die Zuwanderungsgeschichte etwa von deutschen
Aussiedlern bzw. Spätaussiedlern vor allem aus Polen, Ungarn, Rumänien und der
damaligen Sowjetunion, die sich vorrangig von den 1950er bis zu den 1990er Jahren
vollzog, wird durch den Begriff „Vertreibung“ im landläufigen Sinne allenfalls
unzulänglich getroffen – auch wenn diese Migrationsvorgänge historisch von der
deutschen und europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts insgesamt so wenig
zu trennen sind wie der verwandte (Teil-)Vorgang von Flucht und Vertreibung aus
den Gebieten, die staatsrechtlich zum damaligen Deutschen Reich in dessen
Grenzen von 1937 gehört haben.
Die Pluralität der Zuwanderungsvorgänge, die sich in der Geschichte der
Landesstelle widerspiegelt, müßte nach Ansicht der Autoren mit Blick auf die
Aufnahme einer Vielzahl von Menschen z. B. aus der DDR, aber auch aus Vietnam
oder Ex-Jugoslawien, von Menschen jüdischer Herkunft vor allem aus der
Sowjetunion und deren Nachfolgestaaten (in Jahrzehnt zwischen 1985 und 1995
immerhin 2 % der in Unna-Massen aufgenommenen Menschen) sowie von anderen
Gruppen auch in der Bezeichnung einer zu schaffenden Erinnerungsstätte zum
Ausdruck kommen. Es ist eben keineswegs Zufall, dass die im Jahre 2000
gegründete Stiftung „Zentrum gegen Vertreibungen“ einen Plural in ihren Namen
gesetzt hat.
2.) Voraussetzungen einer Erinnerungsstätte in Unna-Massen
Ein dauerhaftes „geeignetes Erinnerungszeichen auf dem Gelände der ehemaligen
Landesstelle“ zu konzipieren (Beschluss des Kulturausschusses des Landtags NRW
vom 27.01.2010) und die Geschichte der Landesstelle in einer angemessenen Form
in die nordrhein-westfälische Erinnerungskultur zu integrieren bedeutet, ein Konzept
zu entwickeln, das verschiedene Kriterien berücksichtigt. Besondere Bedeutung hat
dabei die Klärung der derzeitigen und zukünftig zu erwartenden Eigentums- und
Nutzungsverhältnisse und das Einvernehmen mit den derzeitigen oder zukünftigen
Eigentümern und Nutzern (wie im Antrag bereits angedeutet).
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Derzeit wird das Gelände nach Kenntnis der Autoren kurzfristig zumindest teilweise
wieder als Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge und Asylsuchende genutzt,
wodurch naturgemäß räumliche und infrastrukturelle Kapazitäten gebunden werden.
Darin liegt aber zugleich eine Chance: Das Neben- und Ineinander von Gegenwart
und Vergangenheit von (Zwangs-)Migrationen muss für die Errichtung einer
Erinnerungsstätte nicht von Nachteil sein, sondern kann vielmehr in eine aktive
Erinnerungskultur an einem noch dazu authentischen Ort einfließen. Dies müßte
freilich mit den für die Erstaufnahmeeinrichtung zuständigen Instanzen vorab geklärt
werden.
Ferner ist die Prüfung infrastruktureller Fragen dringend zu empfehlen (Erreichbarkeit
mit öffentlichen, barrierefreien Verkehrsmitteln, Anbindung an/Parkmöglichkeiten für
den Individualverkehr, Vorhandensein möglicher örtlicher Kooperationspartner in
Form von Bildungs- und Kultureinrichtungen, da „Vernetzung“ im lokalen Rahmen
erfahrungsgemäß für einen Dauerbetrieb unverzichtbar ist).
3.) Finanzierbarkeit einer musealen Erinnerungsstätte
Die Pflege der Erinnerungskultur in Nordrhein-Westfalen ist eine wichtige (bildungs)politische Aufgabe im Rahmen der Kulturpflege des Landes insgesamt. Angesichts
der gegenwärtigen Haushaltslage ist in realistischer Weise kaum damit zu rechnen,
dass die für diese Zwecke zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel mittelfristig
einen erheblichen Aufwuchs erfahren werden. Eher ist davon auszugehen, dass in
näherer Zukunft eine Vermeidung von größeren Kürzungen schon eine erhebliche
haushaltspolitische Herausforderung darstellt. Ähnliches gilt zweifellos für die
Haushalte der Kommunen und Gebietskörperschaften. Dies umso mehr, als durch
die aktuellste Entwicklung, nämlich den massiven Zustrom von Flüchtlingen und
Asylsuchenden, der weitaus größer ausfällt als noch vor kurzem absehbar war,
derzeit schwer kalkulierbare Mehrbelastungen der öffentlichen Haushalte entstehen.
Die Schaffung einer ortsfesten, dauerhaften Erinnerungsstätte musealen Charakters
würde voraussetzen, dass für deren konzeptionelle und sachliche Vorbereitung (etwa
auch für die Anlage bzw. museumsfachliche Aufbereitung einer entsprechenden
Sammlung, für erforderliche Baumaßnahmen usw.) sowie für deren dauerhaften
Betrieb (so z. B. auch hinsichtlich des Vorhaltens heute unverzichtbarer
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museumsdidaktischer Ressourcen) erhebliche finanzielle und personelle Mittel
langfristig zur Verfügung gestellt werden können.
Auf jeden Fall sollten Erfahrungen mit dem Projekt „Museum Friedland“ unter Leitung
des niedersächsischen Innenministeriums herangezogen werden. Die Eröffnung des
Museums auf dem Gelände des ehemaligen Grenzdurchgangslagers Friedland ist
derzeit für den März 2016 angekündigt (vgl. www.museum-friedland.de).
4.) Konzeptionelle Alternativen für die Gestaltung einer Erinnerungsstätte
Da
nach
Einschätzung
der
Autoren
die
tatsächliche
Schaffung
einer
Erinnerungsstätte auf dem Gelände der ehemaligen Landesstelle in Unna-Massen in
musealer Form aus sachlichen und finanziellen Gründen fraglich bleibt, empfiehlt es
sich, konzeptionelle Alternativen in Betracht zu ziehen.
a) Begehbarer Erinnerungsort
Zu begrüßen wäre die Schaffung einer Erinnerungsstätte in Form eines begehbaren
authentischen Ortes auf dem Gelände der ehemaligen Landesstelle, somit die
Ermöglichung einer „Spurensuche“ über einen pädagogisch erarbeiteten Rundgang
zu ausgewählten Relikten (bestimmte Baulichkeiten, Wandbilder, Gedenksteine,
Mahnmale u. a.) aus der Geschichte der Landesstelle. Deren dauerhafte
denkmalpflegerische bzw. konservatorische Betreuung wäre sicherzustellen.
Der mahnende Charakter vorhandener Gedenkobjekte auf dem Gelände (z. B. des
im Antrag erwähnten Gedenksteins von 1959) sowie die Vermittlung von
erläuternden Inhalten über Ausstellungstafeln vor Ort könnte durch moderne
Rezeptionsweisen und/oder andere ästhetische Formen (z. B. Markierung von
historisch belegten Spuren und besonderen Orten im Rahmen eines künstlerischen
Wettbewerbs) sowie durch aktive Aneignungsformen („Apps“ für mobile elektronische
Geräte, anderer Multimedia-Einsatz) bereichert werden. Dergleichen Angebote sind
bereits vielfach erprobt und mit relativ geringem Aufwand realisierbar.
Ein Erinnerungsort „Landesstelle Unna-Massen“ sollte nicht nur, wie im vorliegenden
Antrag formuliert, das „Dokumentieren und in Erinnerung behalten“ bezüglich der
ehemaligen Landesstelle und der Geschichte der Vertreibungen und (Zwangs-
5
)Migrationen konzeptionell berücksichtigen, sondern auch den Punkt „Dem
Vergessen aktiv entgegenwirken“ aufnehmen. Sichergestellt werden müsste dafür
eine kontinuierliche Vermittlung der entsprechenden komplexen historischen Inhalte.
Die Geschichte der Landesstelle – wie im Papier betont eine Erfolgsgeschichte – ist
mit Blick auf die rund 2,5 Millionen hier aufgenommenen Menschen aus über 100
Ländern über einen langen Zeitraum von 1951 bis 2009 zugleich aus sehr
verschiedenen
individuellen
differenziertes
Gesamtbild
Einzelgeschichten
von
zusammensetzt,
(Zwangs-)Migrationen
ergeben.
die
ein
Dessen
kontinuierliche, pädagogisch wichtige, aber auch anspruchsvolle Vermittlung sollte
eine Aufgabe der bereits existierenden verschiedenen engagierten Einzelpersonen,
Initiativen (z. B. dem in II.1. genannten VES) in Kooperation mit Institutionen sein und
sollte generationsübergreifend umgesetzt werden.
Persönliche Erinnerungen und anderes Dokumentationsmaterial könnten in einem
Lernort oder Dokumentationszentrum gesammelt und zugänglich gemacht werden.
Dieser Lernort könnte entweder an der Erinnerungsstätte selbst in einem der
vorhandenen Gebäude eingerichtet oder im Sinne der Vernetzung in eine bereits
vorhandene museale Einrichtung (z. B. das Hellweg-Museum in Unna) integriert
werden (vgl. den folgenden Punkt).
b) Anbindung der Erinnerungsstätte an vorhandene Einrichtungen
Mit Blick auf die oben angedeuteten langfristig erforderlichen finanziellen,
infrastrukturellen und personell-fachlichen Ressourcen für Schaffung und Betrieb
einer Erinnerungsstätte im Sinne des Antrages sollte vorrangig geprüft werden, ob
eine solche in bereits vorhandene Einrichtungen integriert werden könnte. Der
Bedeutung des Ortes Unna-(Massen) könnte etwa durch eine entsprechende
Erweiterung des Aufgabenspektrums des Hellweg-Museums in Unna Rechnung
getragen werden. Die dort bereits vorhandenen musealen Kompetenzen und
Ressourcen könnten gezielt genutzt bzw. erweitert werden. Das Vorhandensein
etwaiger weiterer möglicherweise infrage kommender Einrichtungen im lokalen oder
regionalen Rahmen ist zu prüfen.
Darüber hinaus könnte natürlich auch in Betracht gezogen werden, Geschichte und
Bedeutung der Landesstelle durch andere in Nordrhein-Westfalen vorhandene
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museale Einrichtungen mitabbilden zu lassen. Vorrangig kommen dazu die beiden
„Landesmuseen“ in Ratingen und Warendorf infrage, da dort entsprechende
fachliche Kompetenzen für den Themenbereich im engeren Sinne (anders als wohl
im Hellweg-Museum) bereits vorhanden sind. Denkbar wäre auch die Prüfung
möglicher anderer Aufnahmeeinrichtungen (z. B. des Museums für schlesische
Kulturgeschichte in Königswinter-Heisterbacherrott).
c) Schaffung einer Wanderausstellung
Der Zweck des Antrags – die Geschichte der Landesstelle Unna-Massen in
angemessener Form in die nordrhein-westfälische Erinnerungskultur zu integrieren –
wäre
auch
erreichbar
in
Form
der
Schaffung
einer
entsprechenden
Wanderausstellung. Dies hätte zum einen unter dem Aspekt des erforderlichen
finanziellen Aufwands Vorteile, zum anderen auch unter dem Aspekt der
Vermittlungsreichweite. Technisch und gestalterisch moderne Wanderausstellungen
sind im Regelfall leicht transportabel und vor Ort auch ohne (technisches)
Expertenwissen handhabbar. Mit einer entsprechenden, eventuell auch variablen
Dimensionierung können sie an vielen Orten präsentiert werden (etwa in Schulen
und anderen öffentlichen Einrichtungen) und damit landesweit viele Interessierte
erreichen. Eine derartige Ausstellung sollte und könnte nach ihrer Erstellung durch
eine im Lande vorhandene ständige Einrichtung fachlich und technisch betreut
werden (z. B. wiederum durch das Oberschlesische oder das Westpreußische
Landesmuseum in Ratingen bzw. in Warendorf).
d) Erhaltung des Gedenksteins auf dem Gelände der ehemaligen Landesstelle UnnaMassen
Neben dem im Antrag erwähnten Gedenkstein mit der Inschrift „Den Opfern der
Flucht und Vertreibung“ gibt es auf dem ehemaligen Gelände der Landesstelle UnnaMassen noch weitere Monumente, für deren Erhaltung Sorge getragen werden sollte.
Dies gilt etwa für eine Skulptur „Mutter mit Kindern“ sowie eine Friedens-Stele. Da
diese gegenwärtig auf Freiflächen positioniert sind, dürfte ihr Verbleiben weitgehend
unproblematisch sein, sofern dort keine größeren Baumaßnahmen stattfinden. Der
Verbleib sollte indes auch mit künftigen Eigentümern bzw. Nutzern des Geländes
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vertraglich geregelt werden. Auch sollte für die erforderlichen Pflege- und
Erhaltungsmaßnahmen unter Einbeziehung der örtlichen Behörden Sorge getragen
werden. Die Integration in die gegenwärtige Erinnerungskultur könnte z. B. durch
Kranzniederlegungen (z. B. am neu festgelegten nationalen Gedenktag für
Flüchtlinge und Vertriebene am 20. Juni) erreicht werden. Da es sich um
verhältnismäßig kleine Objekte handelt, wäre im Falle der Nicht-Akzeptanz durch
künftige Eigentümer schließlich auch eine Standortverlegung technisch und finanziell
relativ einfach zu bewerkstelligen. Denkbar wäre zudem eine Zusammenführung der
derzeit
an
verschiedenen
Stellen
des
ehemaligen
Landesstellen-Geländes
positionierten Monumente in Form einer Art „Skulpturenpark“. Ein solcher hätte dann
auch den Charakter einer Erinnerungsstätte und könnte mit begrenztem Aufwand
erläuternd beschildert bzw. pädagogisch aufbereitet werden.
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