Angenommen-Sein

Angenommen-Sein
Transpersonale Prozessarbeit am Di, 29.9.2015, Schlatterhaus Tübingen
Michael Seibt
Übung zu Beginn, während vielleicht noch Einzelne ankommen:
- Gong
Ich lade dazu ein, einfach da zu sitzen und das momentane Erleben zu beobachten. Aus welcher Situation komme ich? Wie bin ich jetzt hier? Was fühle ich in meinem Körper? Was löst
es aus, wenn jemand den Raum betritt?
Kann ich mein Erleben, so wie es jetzt ist, sein lassen? Kann ich mich allem offen und interessiert zuwenden? Kann ich einfach hier sein, auf diesem Stuhl in diesem Raum sitzen, völlig
offen und annehmend für alles, was ich in diesem Augenblick und in dieser Stunde erlebe?
Stille ist Offenheit, Angenommen-Sein. Geräusche stören da nicht. Auch sie dürfen sein.
Was hindert mich, weit, offen und annehmend zu sein? Kann ich mir selbst dabei zuschauen,
wenn ich anfange, etwas abzulehnen? Wenn ich für etwas in meinem Erleben nicht offen
bin? Kann ich das bemerken? Kann ich auch Ablehnung annehmen?
- Gong
Unser Thema ist heute: Angenommen-Sein. Es geht um ein Sein, das genauer dadurch bestimmt ist, dass es ein Angenommen-Sein ist.
Wenn etwas ist, habe ich eigentlich keine Wahl, es anzunehmen oder abzulehnen. Es ist
einfach und fragt nicht danach, ob ich damit einverstanden bin oder nicht.
Wenn ich etwas nicht annehme, ist das der Versuch, mich dem Gegenwärtigen zu entziehen.
Ich will Unangenehmes vermeiden und Angenehmes vermehren. Ich stelle mir vor, eine
Wahl zu haben: ich wähle das Gute, das Schöne, das Wahre, das Angenehme, das Richtige.
Und ich vermeide das Böse, das Hässliche, die Lüge, das Unangenehme, das Falsche.
Wer ist es, der die Wahl trifft? Das bin „ich“. Das „ich“ entsteht im Grunde überhaupt erst
dadurch, dass es wählt.
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„Ich“ will dieses und das will ich nicht. So ein Satz kommt gar nicht ohne die erste Person
aus. „Ich“ identifiziert sich mit einem bestimmten Teil des Erlebens. Den will „ich“ verstärken und ausbauen. Und es ist auch das „ich“, das sich von einem anderen Teil seines Erlebens abgrenzt. Den will „ich“ vermeiden und abschaffen. Hintergrund ist immer: „ich“ treffe
eine Wahl, „ich“ bewerte.
Aber „ich“ habe keine Chance. Denn die Wirklichkeit ist einfach so, wie sie ist. „Ich“ kann es
blöd finden, wie sich meine Familienmitglieder verhalten, sie tun es einfach. „Ich“ kann es
ablehnen, dass auf der Welt Krieg herrscht. Er geschieht trotzdem. „Ich“ kann es gar nicht
brauchen, krank zu sein. Es passiert manchmal. Und natürlich finde „ich“ es auch nicht in
Ordnung, zu sterben. Doch es geschieht.
Dieser Vorgang, etwas abzulehnen oder etwas anzunehmen, lässt das „Ich“ entstehen.
„Ich“ sagt: das bin „ich“, und das bin „ich“ nicht. Das gehört zu mir, das nicht. Das will „ich“,
das will „ich“ nicht. Da bin „ich“ dafür, da bin „ich“ dagegen. „Ich“ gehöre zu dieser Religion,
nicht zu jener.
Was bedeutet „annehmen“?
Schauen wir genauer an, was „annehmen“ bedeutet.
Es ist viel vom Annehmen die Rede. Es wird oft empfohlen, man solle etwas annehmen,
statt sich dagegen zu wehren.
Wenn wir so von „annehmen“ sprechen, meinen wir den Vorgang des Akzeptierens. Wir sagen „Ja“ zu etwas. Wir könnten auch „Nein“ dazu sagen.
Wer also nimmt an? Das tue „ich“. „Ich“ nehme etwas an und setze mich dadurch in eine
positive Beziehung dazu. Oder „Ich“ lehne etwas ab und setze mich dadurch in eine negative Beziehung dazu.
Doch Angenommen-Sein in dem Sinn, wie wir heute Abend darüber sprechen wollen, meint
etwas viel Umfassenderes. Es liegt jenseits von Zustimmung und Ablehnung. Es entspringt
keiner Handlung, es ist keine Wahl. Es ist eine Dimension des Seins.
Das bedeutet: Die Dinge sind angenommen, einfach weil sie sind. Und wie immer das Leben
sich entfaltet, alles ist angenommen. Angenommen-Sein heißt also nicht: für gut befinden.
Nur das „ich“ kann etwas für gut oder schlecht halten. Die Wirklichkeit wählt nicht. Einfach
deshalb, weil sie so ist.
Wir können das erahnen, wenn wir unsere Erde betrachten. Die Erde trägt alle Lebewesen
ohne Ausnahmen, auch diejenigen, die wir vielleicht ablehnen und gegen die wir Krieg führen. Deshalb sprechen wir manchmal liebevoll von der Mutter Erde. Mutter Erde nimmt alles auf, was Menschen ihr zumuten, Straßen, Häuser, Gärten, Waffen und Müll. Und alles
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wird wieder umgewandelt. Häuser halten nicht ewig, dann werden sie wieder zu Staub.
Müll kann zwar sehr haltbar sein und die Umwelt belasten. Aber die Erde regeneriert sich
immer wieder neu. Und sollte diese Erde untergehen, dann ist auch das von der Wirklichkeit angenommen. Ebenso wie unser eigener Tod. Warum? Weil es so ist.
Was „annehmen“ nicht ist
Annehmen ist also keine Entscheidung, keine Handlung des Menschen. Annehmen heißt,
dass es so sein lassen, weil es so ist.
Wenn ich z.B. in mir ein Gefühl vorfinde, das ich nicht mag, Traurigkeit oder Wut z.B., dann
kann ich mich nicht entscheiden, das zu akzeptieren oder abzulehnen. Es ist im Augenblick
mein inneres Erleben, also gibt es nichts anzunehmen, sondern es nur sein zu lassen.
Ich kann schauen, ob ich mit diesem unangenehmen Gefühl sein kann. Ob es jetzt zu meiner Wirklichkeit gehören darf.
Vielleicht kennen Sie das auch: in dem Moment, wo etwas wirklich sein darf, ist es nicht
mehr bedrohlich. Erst der Widerstand dagegen macht es groß, schwer und bedeutend.
Annehmen heißt also nicht, eigene Gefühle und Einschätzungen und Meinungen loszulassen oder aufzugeben. Das würde bedeuten, dass ich die Wirklichkeit, die gerade zu mir gehört, ablehne. Das verursacht Leid.
Annehmen heißt, positiv formuliert, meine Wirklichkeit und die Wirklichkeit des anderen
ohne Wertung so sein lassen, wie sie ist.
Übung: Annehmen
- Gong
1. Vergegenwärtige dir eine Konfliktsituation in einer wichtigen Beziehung.
2. Welche Pole hat der Konflikt? Was ist Plus, was ist Minus? Was ist richtig, was ist
falsch?
3. Wie ist deine typische Reaktion in diesem Konflikt? Welchen Pol nimmst du nicht an?
Wie machst du das?
4. Wie wäre es, wenn du beide Pole vollständig annehmen könntest? Was hätte das für
Auswirkungen auf dich, auf den Konflikt bzw. den Konfliktpartner?
- Gong
Austausch mit dem Nachbarn oder im Plenum
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Statt annehmen: aufmerksam sein
Was können wir tun, um uns auf das umfassende Angenommen-Sein einzustimmen?
Statt uns innerlich zu ermahnen, es anzunehmen, können wir auch eine andere Haltung einnehmen, nämlich: aufmerksam sein, wie ich gerade versuche, etwas abzulehnen. Die Ablehnung bemerken und ganz damit sein. Die Ablehnung wahrnehmen und ihr Raum geben. Das
bedeutet vollkommene Annahme.
Ich brauche meine Ablehnung also nicht aktiv zu verändern. Ich muss mich nicht entschließen, anzunehmen. Es genügt, die Ablehnung bewusst zu sehen und ihr Raum zu geben. Das
ist kein Tun und strengt überhaupt nicht an. Im Gegenteil: ich verbinde mich dabei mit der
Offenheit des Bewusstseins, das allem Raum gibt, sich zu entfalten.
Wenn ich meiner Ablehnung annehmend begegne, kann ich meistens beobachten, wie etwas mit ihr geschieht. Ich spüre z.B. die Ablehnung körperlich. Ich fühle z.B. Enge in der
Brust, fühle mich „beklemmt“. In dem Moment, wo ich die Ablehnung annehme, ereignet
sich im Körper etwas.
Wenn die Ablehnung sein darf, kann es sein, dass ich auf einmal tief durchatme. Was geschieht? Ich empfinde Erleichterung darüber, dass etwas so sein darf wie es ist! Die Ablehnung selbst hat sich nicht verändert, aber Angenommen-Sein hat die Ablehnung umgeben
und sie damit erträglich gemacht. Ich muss das unangenehme Gefühl gar nicht loswerden.
Ich darf mit ihm sein.
Angenommen-Sein löst das wählende Ich auf
Offenheit und Angenommen-Sein gehören zusammen. Im Angenommen-Sein dehne ich
mich aus. Es kann eine kleine Erweiterung sein, wenn ich z.B. einem Gefühl Raum gebe, das
ich normalerweise immer ablehne.
Es kann eine große Erweiterung sein, wenn ich eine Grundüberzeugung aufgebe, z.B. die
Überzeugung, dass meine Überzeugungen die Wirklichkeit so abbilden, wie sie ist.
In einem bekannten Gedicht beschreibt Rumi (islamischer Mystiker) treffend, wie Angenommen-Sein zu Offenheit und Ausdehnung führt.
Dieses Menschsein ist wie ein Gasthaus,
jeden Morgen eine neue Ankunft:
eine Freude, eine Depression, eine Bösartigkeit.
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Eine kurze Bewusstheit kommt als unerwarteter Besucher.
Begrüße und unterhalte sie alle!
Sogar wenn sie eine Menge Leid bringen
und gewaltvoll dein Haus leer fegen von allen Möbeln,
behandle dennoch jeden Gast würdevoll.
Es könnte dich leer machen für eine neue Freude.
Rumi sagt, wir seien als Menschen wie ein öffentliches Gasthaus. Das bedeutet, wir können
uns nicht aussuchen, welche Gäste zu uns kommen. Er zählt verschiedene Gäste auf, angenehme und unangenehme. Wir wissen nicht, wer im nächsten Moment zur Tür hereinkommt. Wir wissen nicht, welchen Gedanken wir im nächsten Augenblick haben werden.
Rumi lädt dazu ein, alle Gäste zu begrüßen. Ich stehe also an der Tür meines Bewusstseins
und sage: hallo Freude, herzlich willkommen; hallo Depression, herzlich willkommen; hallo,
schreckliche Tagesnachricht, ich höre dich; hallo Krankheit, auch du bist also da; hallo Rache-Gedanke, du bist immer noch mein Gast.
Begrüßen heißt: alle Gäste willkommen heißen, nicht auszuwählen, wie wir das gerne tun.
Unterschiedslos offen sein. Diese Offenheit entzieht dem Ich den Boden.
Nun sagt das Sprichwort: „Wer für alles offen ist, der ist nicht ganz dicht.“ Genau, das trifft
es! Wir sind unserem Wesen nach nicht dicht, wir sind durchlässig. Das Sein ist durchlässig.
Mache ich mich dicht, verschließe ich mich. Sich verschließen bedeutet, die Wirklichkeit
ausschließen, gegen sie Krieg führen.
Rumi meint, selbst dann, wenn die Gäste Leid mitbringen und meine Möbel hinwegfegen,
soll ich noch offen sein. Mit den Möbeln sind die Vorstellungen gemeint, die mir scheinbar
Halt und Identität geben. Sie werden in Augenblicken von Verletzung und Enttäuschung
hinweggefegt. Warum sollte ich dafür offen sein?
Weil genau diese unangenehmen Gäste mich konfrontieren mit meinen Identifizierungen
und Vorstellungen. Sie machen sie sichtbar. Jede Enttäuschung, jede Verletzung und jeder
Verlust bietet darum die Chance, eine Vorstellung des Ichs zu erkennen, zurückzutreten und
sich von ihr zu befreien, um leer zu werden.
Leer werden wozu? Für eine neue Freude, sagt Rumi. Eine Freude, die nicht daher rührt,
dass ich bekomme, was ich mir wünsche. Diese Freude ist Ausdruck der Freiheit. Ich bin an
nichts mehr gebunden, an kein Möbelstück meines Lebens.
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Das ist die Freude des formlosen Bewusstseins, die Freude der Leere oder die Freude in
Gott. Wie man das nennt, ist nicht so wichtig. Hilfreich finde ich aber die Formulierung
„formloses Bewusstsein“. Das macht deutlich, dass das Bewusstsein selbst völlig frei und
ungebunden ist. Formloses Bewusstsein ist unsere wahre Natur.
Das Ur-Gefühl, nicht richtig zu sein
Manchmal ist es am schwierigsten, das Angenommen-Sein sich selbst zu schenken. Oft will
ich mich anders haben. Wenn ich meine Bemühungen, anders zu sein, zurückverfolge zum
Ursprung, taucht ein tief sitzendes Grundgefühl auf: das Gefühl, nicht richtig zu sein. Dabei
geht es nicht um etwas, was nicht stimmt, sondern um ein Grundgefühl, das sich gar nicht
auf etwas Bestimmtes richtet. Dieses Grundgefühl scheint ohne Anfang.
Irgendwann beginnt der Verdacht zu keimen, dass ich nicht geliebt werde. Es ist das Gefühl,
die Verbindung zum Leben verloren zu haben, unabhängig von den Lebensumständen. Dieses Gefühl von „Niemand liebt mich!“ ist das, was man als „Ich“ oder „Ego“ bezeichnet. Das
Ich ist kein Wesen, kein Ding, es ist ein Prozess, eine Aktivität, hier also der Gedanke: „Ich
bin nicht geliebt.“ Dieser Gedanke ist sehr Ich-bildend.
Das Gefühl, nicht geliebt zu sein, ist der Ursprung des Ichs. Es ist der Prozess, durch den wir
aus dem Sein herausfallen. Biblisch gesprochen: wir werden aus dem Paradies vertrieben.
Wie entsteht dieses Urgefühl, nicht richtig zu sein? Wir wissen heute, dass das viel mit der
frühen Kindheit zu tun hat. Darauf möchte ich jetzt aber nicht näher eingehen.
Wichtig ist in unserem Zusammenhang, dass das „Ich“ versucht, die Erfahrung, nicht umfassend geliebt zu sein, zu kompensieren, z.B. dadurch, dass es sich bemüht, angenommen zu
werden. Es wirbt um Beachtung, Aufmerksamkeit, Zuwendung. Doch je mehr sich das „Ich“
anstrengt, desto weniger erreicht es, was es sucht. Wir leisten sehr viel, kümmern uns viel
um andere, bemühen uns, die Erwartungen anderer zu erfüllen – es reicht nie.
Dabei übersieht unser „Ich“, dass es unmöglich ist, Angenommen-Sein durch Anstrengung
zu verwirklichen. Wirkliches Angenommen-Sein kann uns niemand geben. Wir sind es
schon. Angenommen-Sein ist ein Sein. In diesem Da-Sein sind wir zutiefst in Ordnung. Wir
sind gut und richtig, so wie wir sind.
Wir sind unserem Wesen nach nicht „Sünder“, wie ein bestimmter Zweig der christlichen
Tradition sagt. Wir sind unserem Wesen nach „Gottes Kinder“ oder Ausdrucksformen des
Seins oder des Ewigen. Wir sind in Ordnung, weil wir sind, nicht weil wir irgendeinem Ideal
entsprechen.
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Angenommen-Sein hängt also nicht davon ab, ob uns ein anderer annimmt oder nicht. Auch
nicht davon, ob wir uns selbst annehmen oder nicht. Was gibt es da anzunehmen? Wir sind
einfach, egal wie wir das finden.
Es geht also nicht darum, uns selbst anzunehmen, sondern darum, zu erkennen, dass wir
angenommen sind.
Das Ende der Anstrengung
Wenn ich jetzt frage, wie kann ich dahin kommen, was kann ich dafür tun? - gibt es nur
eine enttäuschende Antwort: nichts!
Wie wäre es also, wenn wir davon ausgehen, dass alles, was geschieht, vollkommen angenommen ist? Für das Ich ist diese Vorstellung verrückt.
Doch so ist es. Es ist das Ende jeder Anstrengung. Was wir schon sind, das können wir nicht
werden wollen.
Übung: wie ich mich nicht annehme
- Gong
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4.
Erforsche, wie du dich nicht annimmst. Finde ein Beispiel.
Welche Überzeugung liegt dem zugrunde? Was denkst du, wie du sein müsstest?
Was wärst du ohne diese Überzeugung?
Wie wäre es, wenn du spüren könntest, dass du zutiefst angenommen bist?
- Gong
Austausch
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