10 Titelthema In Berlin leben rund 3,5 Mio. Menschen, gut 500.000 von ihnen verfügen über einen ausländischen Pass. An der Spree werden mindestens so viele Sprachen gesprochen wie ehedem in Babylon, die uferlose Metropole ist die Summe zahlloser Kulturen, Nationen und Milieus. Diese Vielfalt findet sich auch unter den rund 8.600 niedergelassenen Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen der Stadt, die sich nach der KV-Statistik in 52 Sprachen diagnosesicher artikulieren und ihre Patienten gleichermaßen behandeln, ob diese sich nun des lateinischen, hebräischen oder kyrillischen Alphabets bedienen oder mittels komplexer Logogramme schreiben. Wie sieht der Alltag in der Praxis aus? Transportiert eine fremde Sprache auch einen anderen Blick auf die Medizin? Oder wird die ärztliche Heilkunst über die Grenzen von Kultur, Tradition und Sprache gleich verstanden? Zum Auftakt einer Serie über Medizin in vielen Sprachen porträtiert das KV-Blatt eine Ärztin aus der Türkei und einen Arzt aus Syrien. Sie leben und arbeiten seit Jahrzehnten in Berlin und haben ihren eigenen Weg in die Stadt gefunden, wo fast jeder irgendwann von irgendwoher zugewandert ist. KV-Blatt 02.2016 פשב האופר تاغللا نم ديدعلا يف بطلا Tıpı çok di Medicine in many languages Медицина на многих Titelthema KV-Blatt 02.2016 Babylon Berlin Medizin in vielen Sprachen תובר תופ illerde s языках Nazire Serpil Öcal Die Puppe und das Jagdgewehr 1973 ächzte die Bundesrepublik Deutschland unter der Ölkrise. Erstmals in der Geschichte Nachkriegs deutschlands kam die Industriemaschinerie des ehemaligen Wirtschaftswunderlandes ins Stocken. Am 23. November verkündete die Bundesregierung den Anwerbestopp für Arbeiter aus dem südlichen Europa und der Türkei. Die Ära der „Gastarbeiter“ endete und es begann die Geschichte von Deutschland als Einwanderungsland. Nun wurde deutlich: Viele der „Arbeitskräfte auf Zeit“ würden das Land nicht mehr verlassen – sie waren gekommen, um zu bleiben. Unter ihnen auch der Vater von Nazire Serpil Öcal. Die in Berlin-Lichterfelde niedergelassene Fachärztin für physikalische und rehabilitative Medizin wurde 1965 in Ankara geboren und stammt nach eigener Aussage aus einer wohlhabenden Familie. „Mein Vater war Lehrer und es ging uns finanziell eigentlich immer gut. Doch eines Tages kam der Schäfer vom Dorf aus Deutschland zu Besuch und fuhr in einer niegelnagelneuen Oberklassenlimousine vor; seiner Tochter schenkte er eine wunderschöne Puppe, die sogar laufen konnte.“ Der Ehrgeiz des Vaters, sein Glück ebenfalls als Gastarbeiter in der Bundesrepublik zu versuchen, schien durch dieses Schlüsselerlebnis geweckt worden zu sein, vermutet Öcal. Der Vater, ein begeisterter Jäger, habe darüber hinaus immer von einem ganz bestimmten Jagdgewehr aus deutscher Fabrikation geträumt: „Die Flinte hat er sich aber bis zu seinem Tod vor einigen Jahren nie gekauft“, ergänzt die Mutter einer zehnjährigen Tochter lachend. Den Vater zog es zunächst nach Niedersachsen. Der Lehrer verdingte sich in Deutschland jedoch zunächst hauptberuflich als Maschinenschlosser. Seine Lehrtätigkeit führte er an einer deutsch-türkischen Schule fort. Die Familie folgte dem Vater später nach Deutschland, und Serpil Öcal besuchte zunächst die Hauptschule: „Am Anfang sprach ich noch sehr schlecht Deutsch. Das wurde mit den Jahren aber immer besser, vor allem, da mein 11 Titelthema KV-Blatt 02.2016 Foto: Klotz 12 Der Patient ist mehr als seine Krankheit: Die Lichterfelder Fachärztin für rehabilitative Medizin Nazire Serpil Öcal. Fortsetzung von Seite 11 Vater mich sehr unterstützte. Er kannte sich mittlerweile im deutschen Schulsystem gut aus und konnte mir, wo es nur ging, beratend zur Seite stehen.“ Am Anfang hieß es: Warten Die fördernde Natur des Vaters zahlte sich aus: Nach der siebten Klasse wechselte die gute Schülerin zur Realschule. Es folgte der Besuch des Gymnasiums, als Pennälerin war Serpil Öcal als einziges türkischstämmiges Mädchen unter 166 Schülern des Jahrgangs bereits eine „Exotin“ – nach dem „Abi“ führte der Weg die junge Frau zum Sozialpädagogik-Studium – allerdings zum Überbrücken der Wartezeit auf einen Platz als Medizinstudentin. Auf der Universität war sie wieder eine „Exotin“: „Wir waren in unserem Jahrgang elf türkische Studierende. Wie eine kleine Clique haben wir auch oft zusammengehockt und eine Lerngruppe gebildet“, erinnert sich Öcal. Der Mensch als Ganzes Nach dem Studium stand Nazire Serpil Öcal zunächst vor einem Problem: „Mitte der 1990er-Jahre herrschte eine große Arbeitslosigkeit unter Deutschlands Ärzten, da konnte man bei der Bewerbung nicht besonders wählerisch sein.“ Nach mehreren erfolglosen Bewerbungen verschlug es die junge Nachwuchsmedizinerin schließlich in eine naturheilkundliche Klinik im westfälischen Hattingen. Einen ihrer anleitenden Ärzte nennt Öcal rückblickend als ein ihr wichtiges Vorbild für ihr Selbstverständnis als ganzheitliche Medizinerin: „Dieser Arzt bracht mir den Bereich der ganzheitlichen Medizin näher, ich lernte, dass ein Patient mehr ist als seine Krankheit. Mir war sehr wichtig, dass eben dieser Ausbildungsbetreuer auch das verkörperte, was er seinen Patienten als Arzt jeden Tag mit auf den Weg gab. Er ernährte sich dementsprechend gesund und legte viel Wert auf einen nachhaltigen Lebensstil.“ Auch heute noch ist es Serpil Öcal wichtig, in ihrer Sprechstunde nicht primär Krankheiten, sondern Menschen zu behandeln: „Bei mir in der Praxis heißt es nicht: ,In Zimmer vier wartet die Gallenblase!‘“ Die Gestaltung der Behandlungsräume spiegelt das Selbstverständnis der Ärztin wider: In den Praxisräumen schmeichelt leise Entspannungsmusik aus versteckten Lautsprechern; statt nach Desinfektionsmittel duftet es nach Tee und Gebäck. Die dominierenden Farben sind warmes Gelb und ein sanftes Grün. Vor der Rezeption stehen nur wenige Stühle – ein klassisches Wartezimmer gibt es nicht: „Die vieldiskutierten langen Wartezeiten versuche ich in meiner Praxis soweit es geht zu vermeiden. Niemand soll sich hier auf die sprichwörtliche lange Bank geschoben fühlen“, erklärt Serpil Öcal die schlichte elegante Ausstattung des Wartebereichs. Keine Kiez-Ärztin Den Praxisstandort inmitten eines beschaulichen Neubaugebietes in Berlin-Lichterfelde hat Serpil Öcal ganz bewusst gewählt. Als eine Ärztin für eine ausschließlich türkischsprachige Patientenklientel versteht sie sich nicht: „Die eigene Praxis war schon immer mein Traum. Mir war jedoch immer wichtig, dass es keine Kiezpraxis werden soll. Ich will Menschen aus den verschiedensten kulturellen und ethnischen Hintergründen behandeln, nicht nur eine bestimmte Gruppe. C M Y CM MY CY Ganz von Nachteil sind Öcals Kenntnisse der türkischen Sprache jedoch nicht: 35 % ihrer Patienten sind Türken, die aus allen Teilen Berlins nach Lichter felde in ihre Praxis kommen, teils aus weiter entfernten Stadtteilen und Bezirken wie Adlershof oder Spandau: „Besonders die Älteren unter meinen türkischen Patienten fühlen sich einfach wohler, wenn sie mit mir in ihrer Muttersprache sprechen können – das merke ich immer wieder. Da gehen viele erst richtig aus sich heraus und teilen CMY K Titelthema KV-Blatt 02.2016 mir auch Dinge mit, die zwar für eine ganzheitliche Behandlung sehr wichtig sind, im Gespräch mit einem ausschließlich deutschsprachigen Arzt aber wohl unausgesprochen bleiben würden.“ Ich bin einfach ich! Auch traurige Dinge kommen dabei zu Tage; Geschichten von struktureller Diskriminierung, etwa am Arbeitsplatz. Serpil Öcal berichtet von einem Fall, in dem sie einen türkischstämmigen Patienten krankgeschrieben hatte, da er wegen Mobbings am Arbeitsplatz schwere gesundheitliche Auffälligkeiten zeigte. Einige Tage nach der Diagnose bekam sie Post vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK): Die Krankschreibung werde nicht anerkannt. Da sowohl Patient als auch behandelnde Ärztin denselben kulturellen Hintergrund hätten, müsse es sich wohl um ein „Gefälligkeitsgutachten“ handeln. Die Miene der ansonsten gutgelaunten und sympathischen Ärztin verfinstert sich an dieser Stelle des Gesprächs für einen kurzen Augenblick. „Ich glaube manchmal, dass viele Leute denken, alle Berliner Türken würden sich 13 untereinander kennen“, kommentiert Öcal augenzwinkernd den Vorfall. Dabei liegt ihr nichts ferner, als sich ausschließlich einer bestimmten Klientel zu widmen – das betont sie immer wieder im Gespräch mit dem KV-Blatt: „Eine Praxis ausschließlich für Türken …nein … das war nie geplant“, sagt sie. Die Frage, ob sie sich denn als Teil einer türkischen Community sehe, wird kopfschüttelnd verneint: „Nein, auf keinen Fall. Was soll das sein? Ich bin einfach ich!“ Dr. Christian Klotz 20131007 Anzeige KV Blatt Berlin 2in1 Quick 210x151 pp.pdf 2 08.10.2013 10:51:17 Anzeige
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