Die Geschichte der Sprachen im abendländischen Denken Von Arno Borst über die Sprache denkt der Mensch nicht schon nach, seitdem er sie spricht, sondern erst nachdem ihm sein Wesen und sein Weltbild fragwürdig geworden sind.! Er freut sich noch an dem \Vunder, daß er sich mitteilen, andere anrufen, Dinge bezeichnen, Ereignisse festhalten kann, und grübelt schon über dem Rätsel, daß sich ihm mit alledem das Wesen von Mensch und Welt nicht kundgibt. So fragt er nach dem Wesen der Sprache, die ihm gehört und ihm doch das Letzte versagt. Er sucht die Antwort gern im Innern der Sprache selbst, rückt sie von seinem schwankenden Dasein ab, bezeichnet sie gar als das verborgene, bergende "Haus des Seins". Martin Heidegger will so "die Sprache als die Sprache zur Sprache bringen"; wie einst Heraklit von Ephesos umkreist er mit tiefsinnigen, dunklen Wortspielen das immergleiche Geheimnis. Die Geschichte lichtet es kaum, denn sie ist "die Wiederkehr des Möglichen"; Geschichtlichkeit ist unser stetes Schicksal, die Frage nach der Sprache ist immer dieselbe. Darum darf Heidegger die Methode Heraklits wieder aufnehmen. Zwar liegen zwischen dem Griechisch Heraklits und dem Deutsch Heideggers zweieinhalb Jahrtausende, die im Denken und Sprechen der Menschen tiefe Spuren hinterließen; doch Heidegger entzieht sich diesen Eindrücken, indem er sich seine eigene Sprache schafft. Sie ist schwer verständlich und ungesellig; sie vernachlässigt also eine Aufgabe der Sprache, um das' Wesen der Sprache zu bedenken. Wer umgekehrt verfährt, wer seine geschichtliche Welt mitsamt den Mitmenschen und Umständen sprachlich bewältigen will, muß einen anderen, kaum minder hohen Preis zahlen: Er hängt unweigerlich a~ von den jeweiligen sprachlichen Lautungen und geschichtlichen Geschehnissen, und sie beschränken ihn. Auf diese Beschränkung stoßen die Menschen schon ohne pblloscphlsche Besinnung, wenn sie ihre Umwelt erfahren. Sie ärgern sich, daß Ausländer sie nicht begreifen, und sind von der unverständlichen Hinterlassenschaft ihrer Vorfahren befremdet. Dann fragen sie wohl nach der Geschichte der Sprachen, der geistigen Gebilde, die sich unterscheiden und verwandeln. Sie finden die Antwort in den weitläufigen Museen des Wissens, in entfremdeten, versachlichten Systemen von Fakten und Daten. Die Sprachwissenschaft etwa erforscht wie Jacob Grimm die geschichtlichen Änderungen sprachlicher Formen und findet Lautverschiebungen, Sprachverwandtschaften, Sprachstrukturen. Die Historie untersucht wie Leopold Ranke die sprachlich überlieferten geschichtlichen Materialien und entdeckt die Begebenheiten "in ihrer menschlichen Faßlichkeit, ihrer Einheit, ihrer Fülle". Aber was besagen dem lebendigen Menschen, der nach seiner Sprache fragt, tote Buchstaben und vergangene Vorgänge, die bloß der Spezialist versteht? Bleibt nicht doch eine Kluft zwischen dem Jeweiligen und dem Immergleichen, den Sprachen und der Sprache, den Geschehnissen und der Geschiehtlichkeit, den Schöpfungen des Menschen und seiner Beschaffenheit? Und liegt nicht in dieser Lücke die Antwort auf unsere Frage nach der Sprache? Wilhclm von Humboldt hat darauf längst eine Antwort gegeben, die man heute wieder zu verstehen beginnt: Das Allgemeine verwirklicht sich nur im einzelnen. Sprachliche Bildungen entspringen dem Bewußtsein des Menschen; sie verkörpern als geschichtliche Formen den Willen des Menschen. Die einmaligen Äußerungen sind Teile unseres Innern; jede sprachliche Erscheinung ist als geschichtliche Erfahrung ein Stück von uns. 1 Der Aufsatz baut einen Vortrag weiter aus, mit dem die Goethe-Gescllschaft Hannover im Januar 1960 einen Zyklus "Von der Sprache" eröffnete. 129 Damit verändert sich die Frage nach der Sprache zur Frage nach dem Menschen, aber sie bleibt beim Thema; denn der Mensch ist das geschichtliche Wesen, welches spricht. Unsere Sprache und Geschichte, alles, was wir sagen und tun, kommt uns von weit her als Erbe zu; keiner kann sich seine Sprache allein zimmern, keiner seine geschichtliche Lage selbst einrichten. Traditionen und Situationen begrenzen unsere Inspirationen; die Muttersprache und die Umstände bestimmen weithin unser Weltbild. Wir sind dennoch frei und verwenden das überkommene, als wäre es unser; für einen Augenblick haben wir es in der Hand. Dann aber entflieht es uns ohne mögliche Wiederkehr; was wir einmal gesagt und getan haben, ist unwiderruflich und wirkt in eine Zukunft, über die wir nicht verfügen. Unser sprachliches und geschichtliches Leben ist also punktuell und fragmentarisch; es gestattet uns nicht, die dauernde und ganze Wahrheit zu erfahren. Aber wir können uns ihr - auf einem anderen Wege als Heidegger - nähern, wenn wir die Punkte verbinden und die Fragmente sammeln, wenn wir also die befragen, die vor uns unser Schicksal teilten und doch ihr eigenes Leben lebten. In der Geschichte wurden vielleicht noch nicht alle Möglichkeiten des Menschseins verwirklicht, aber zumindest mannigfaltigere, als ein einzelner ausdenken könnte; aus der Geschichte läßt sich also wenn nicht vom Wesen, dann doch von der Rolle der Sprache mehr entnehmen als aus einsamer Meditation, und am meisten wohl aus der Sichtung von Zeugnissen, die in einer geschichtlich bedingten Sprache und Lage von der Geschichte der Sprachen handeln. Denn dann greifen wir beides, Formen und Gedanken, Bedingtes und Dauerndes,Diachronisches und Synchronisches, Werden und Wesen der Sprachen und der Sprache. Der Ausschnitt, den ich biete, ist punktuell und fragmentarisch, wenn auch nicht beliebig. Ich befrage hier nur sechs Zeugen aus jeweils verschiedenen Zeiten, Nationen und Wirkungsbereichen; nur so läßt sich die ganze Spannweite des geschichtlich Verwirklichten andeuten. Aber jeder dieser Männer hat in seinem Kreise Weltrang, und jeder steht beherrschend an einer Zeitwende. Hinter den Aussagen stehen Schicksale; was da über die Geschichte der Sprachen gesagt wurde, war einmal Wirklichkeit und hat lange nacligewirkt. Deshalb lasse ich die Zeugen möglichst selbst sprechen und erteile ihnen keine Zensuren, auch wo ich ihnen nicht glaube. Verstehen ist schon genug; es ist auch schwer genug. * Umdas Jahr 600nach Christus wird in Sevillader Provinzialrömer Isidorzum Bischof geweiht .. Er spricht lateinisch, lebt mit dem klassischen Erbe und träumt noch vom römischen Weltreich, das in der katholischen Kirche fortlebe. Aber dem romanischen Geist tritt die germanische Macht entgegen; das Spanien Isidors ist beherrscht von den Westgoten, die bis vor kurzem ein nichtrömisches Christentum vertraten, auch jetzt noch eine fremde Sprache reden und der lateinischen Kultur mißtrauen. Die rohe Kraft droht die hohe Bildung zu erdrücken. Doch Isidor bleibt nicht im Elfenbeinturm; er bejaht das Geschehene und sucht das Auseinanderklaffende neu und fest zu verbinden. Er tritt zu den westgotischen Königen, deren Freund er wird, und lehrt sie, die römische Sprache, Kultur und Kirche von innen her zu ergreifen; dabei lernt er von ihnen die Absage an Roms Staatsmacht, den Glauben an Spaniens umgrenzte Größe und an die sichere Ordnung des Weltgefüges. Isidor von Sevilla schreibt nicht gotisch, sondern bleibt beim Latein, doch anders als Cicero. Aus der fein abgetönten, kompliziert gestuften Literatensprache wird ihm ein Verständigungsmittel mit übersichtlichem Satzbau und kärglichem Wortschatz, mehr der Klarheit als der Feinheit dienstbar, eine Brocke zu den Barbaren. Diese Sprache gibt runde Realitäten; jedes Wort hat seinen festen Ort, und in jedem ist ein Stück Welt abgebildet. Im Klang des Wortes enthüllt sich schon 130 seine Bedeutung; wer genau hinhört, vernimmt aus der Sprache die Stimme des Schöpfers und den Sinn des Seins. Das lateinische Wort für "Sprache", lingua, kommt von ligare, binden: Sprache verbindet Worte durch artikulierte Laute.s Sermo, die Rede, entstand aus serere, zusammenfügen; Das Gespräch verbindet die Redenden.s In den Wörtern für "Sprache" ist also bereits die Leistung der Sprache definiert: Sprache verbindet. Darum koppelt Isidor tausendfach den Wortklang mit der Wortbedeutung und schlingt die Sprache als Band um den natürlichen, geschichtlichen und geistigen Kosmos, den seine Enzyklopädie beschreibt. Dieses große Werk, "Zwanzig Bücher Etymologien oder Ursprünge", bei Isidors Tode 636 noch unvollendet, soll das antike Wissen für die barbarische Zeit komprimieren und der Gegenwart den Weg zurück zum Ursprung bahnen, wieder von der Sprache her. Denn der Christ Isidor vertraut der Heilsgeschichte: Aus dem Gleichklang der Worte ergibt sich ihr Ursprung, und wer die Worte kennt, hat die Sachen selbst; denn beide kommen von Gott. So hätte Gott diesen Einklang von Lautung und Sinn und Ding bei der Schöpfung ersonnen? Aber nein, Sprache ist Sache des Menschen. Die Bibel berichtet im ersten Buch Mose, daß Gott die Tiere zu Adam führte, damit dieser ihnen Namen gebe. Der erste Mensch also schuf die Sprache, denn er war weise und kannte die Natur der Dinge; er bannte sie ins hebräische Wort.4 Spätere Menschen gaben freilich den Dingen neue Namen, weniger nach Einsicht als nach Willkür; denn der Besitzer kann sein Eigen nach Belieben nennen.! Sprache ist nicht nur Abglanz der Welt, auch Werkzeug des Menschen. Erklärt sich daraus schon die Vielfaltder Sprachen? Nein, denn nicht das Hebräische allein ist treffend; wer sich heutigentags genau ausdrücken will, muß lateinisch reden.s Jedes Zeitalter hat also eine eigene und einzige Sprache. Auch der Einzelmensch ist zwar befähigt, jede mögliche Sprache zu erlernen; doch im sicheren Besitz hat er nur eine, seine Sprache, und sie genügt." Dieses geschichtliche Schicksal ist gut, denn es ist kein Zufall; Gott gab es. Moses erzählt, daß alle Welt einerlei Sprache hatte, bevor sie anfing, den Turm von Babel zu bauen; um das Werk zu hemmen, verwirrte Gott ihre Sprache und zerstreute so die Völker. Die eine hebräische lingua, die alle Wörter und Sachen und alle Menschen miteinander verbunden hatte, wurde bei diesem einmaligen Anlaß zerspalten, und mit ihr die Menschheitjf denn es sind die Sprachen, die die Völker bilden.t Aber Gott hat die Sprachen geteilt; darum gibt es nach der alten kosmischen Symbolzahl genau 72 Sprachen.I? Und darum sagen sie mit all ihren unterschiedlichen Benennungen dasselbe. Die jeweilige Sprache erlaubt den Zugang zur ewigen Wahrheit, und die Geschichte verstellt ihn nicht. Isidor betont, daß das Latein gerade jetzt, durch die Barbaren der Völkerwanderung, vermischt und verderbt wird.ll Dennoch kann er auch jetzt noch Gottes Schöpfung und Vorsehung aus lateinischen Vokabeln entziffern. Vor Gott - und das heißt schon: in ihrer Struktur - hat jede Sprache gleichen Rang. Zwar sind Hebräisch, Griechisch, Latein besonders geheiligt, weil sie über dem Kreuze Christi standen und weil in ihnen die Bibel verbreitet ist;12 sie vertreten auch die natürlichen Grundformen der Artikulation: Hebräisch ist guttural, Griechisch palatal, Lateinisch dental.P Doch heilig ist nur ihr geistlicher Gehalt, nicht ihre natürliche Gestalt; denn Sprache als Form ist bloß menschlich. Gott und die Engel reden nicht; Gottes Wort schuf die Welt lautlos. Und mit dem WeItende werden die Sprachen wieder aufhören; im Himmel singen die Heiligen I Etymologiarum hier XI, 1,51. • VI, 8,3. • n, 16,2. I IX, 1, 14. • IX, 1,3. sive originum libri Xx, hg. W. M. Lint/ray, 2 Bände, Oxford 1911, unpaginiert, ' XII, 1,1-2. IX, 1, 10. It IX, 2, 2. 11 IX, 1,8. 7 a I, 29, 2-3. • IX, 1, 1. 11 IX, 1,7. 131 nicht hebräisch.l+ Aber so hoch das Ewige über dem Geschöpflichen steht, Gott segnet alle Sprachen und die ganze Weltgeschichte; und der Mensch vermag in allem den Schimmer der Wahrheit zu erkennen. Dennoch bleibt Raum für die Menschen, für ihre weitverzweigte Geschichte, ihre selbstbewußten Völker und ihre mannigfaltigen Sprachen. Im Vorübergehenden ist das Dauernde enthalten; Sprache und Geschichte sind handgreiflich und doch gestuft bis in die Wolken. So hilft Isidor die Synthese von germanischer Staatlichkeit, lateinischer Bildung und katholischem Glauben begründen, die das abendländische Mittelalter kennzeichnet; so wird Isidors Enzyklopädie zu einem Grundbuch des Mittelalters, das darin tausend Jahre lang die Wunderwerke Gottes benannt und bestimmt findet. Und in Isidors spanischer Heimat wird lange danach, noch zur Zeit des Cervantes, der Glaube fortleben, daß die Sprache den Kosmos spiegelt und daß der Mensch, auch der Dichter, die göttliche Schöpfung nur hörend und nachgestaltend wiederholt. Die sprachliche Aussage wird zur Etymologie, zur Bekundung der Wahrheit. * Im Jahre 1302 wird Dante Alighieri aus seiner Vaterstadt Florenz verbannt; denn er steht zwischen den Fronten seiner Zeit, zwischen dem geistlichen und politischen Universalismus des mittelalterlichen Papst- und Kaisertums und der Autonomie des modernen Bürgertums. Daß er im Exil bleibt und die Parteien geistig vereint, macht ihn unglücklich und unsterblich. Irdisches Glück erhofft er sich nicht von städtischer Freiheit oder von geistlicher Gewalt, sondern von einem profanen Weltkaiser. Aber geistigen Halt findet er in der kirchlichen Scholastik; er bildet sich am Latein. Doch mit dessen Hilfe schafft er den Städtern ein neues Ausdrucksmittel, die italienische Literatursprache, und er schafft sie aus der heimischen Mundart von Florenz, in der die Weiblein redcn15 und die Eltern sich liebend fanden.l8 Diese Muttersprache ist indes nicht die erste und die beste, wie jeder gerne möchte; auch der Florentiner hat doch dieganze Welt zum Vaterland, so wie der Fisch das ganze Meer. Deshalb wird Dantes Buch "Von der Volkssprache" lateinisch geschrieben. Die älteste und treffendste Sprache ist allerdings weder die der Mutter abgelauschte noch auch die in der Schule erlernte, sondern das Hebräische; denn wir würden es ohne Mutter und Schule sprechen, wenn unsere Art noch wie im Anfang wäre. Diese geheiligte Sprache wurde der Menschennatur bei der Schöpfung mit Wortschatz, Grammatik und Aussprache eingepflanzt als Leihgabe der ewigen WahrheitP Sie hervorzubringen, war freilich die Tat des Menschen. Freiwillig wandte er sie sofort dem Schöpfer zu; Adams erstes Wort, sei es als Frage, sei es als Antwort, war das freudige EI, das hebräische "Gott".18 Sprache ist Gespräch mit Gott, Gebet einerseits und Gnade anderseits; noch den begnadeten Dichter befähigt das himmlische Wort, den Kosmos nachzuschaffen.19 • Doch die ursprüngliche Gabe ist uns nicht geblieben; wir selbst haben sie verscherzt. Als die Menschen hochmütig den Turm von Babel bauten, verfielen sie ihrer Eigensucht, und wie sie das Gebet versäumten, vergaßen sie durch Gottes Wunder die hebräische Sprache der Natur und Gnade. Die Berufszweige beim Turmbau, Architekten, Steinmetzen, Lastträger, bauten nun, jeder, für sich, nach ihrer Willkür neue Idiome zusammen; sie sind spezialisiert, ungenau und darum verschieden.w Ihr aller erstes Wort hieß "Wehe!", sie sind Früchte von Sünde und Leid.21 Dante glaubt, daß die Namen U U 11 17 11 IX, I, 11-13. Epistola X, 10, hg. A. MonIi, Le lettere di Dante, Mailand 1921, S. 340. Il Convivio 1,13,4-5, hg, G. Bume/li - G. Vande/li, Opere di Dante, Bd. 4, Florenz 1934, S. 83. De vulgari eloquentia 1,6, hg. A. MarigIJ, Opere di Dante, Bd, 6, Florenz 1938, S. 30-36. I, 4, 4 S. 22. 10 I, 1, 1 S. 4. '0 I, 7 S. 38-44. 11 I, 4, 4 S. 22. 132 die Konsequenzen der Dinge sein müßten;22 aber sie sind es nicht mehr. So hoch Dante Isidor von Sevilla in den Himmel hebt,23seine Etymologien überzeugen ihn nicht mehr; er meidet Wortspiele. In der Sprache hausen heute weder Wahrheit noch Natur mehr. Wer die Wahrheit weiß wie die Engel, steht über den Worten; auch wer wie die Tiere instinktiv handelt, bleibt sprachlos.ss Nur wir Menschen, zwischen Normen und Fakten irrend, brauchen die Sprache wie der Reiter das Pferd,26 um zu uns selbst und zu den Mitmenschen zu gelangen.P Der Weg ist uns durch die Geschichte erschwert; seit Babel verwandeln Zeit und Raum die Idiome, und Gott hütet sie nicht mehr. Man findet keine symbolische Ordnung von 72 Sprachen; die Erfahrung zählt allein in Italien mehr als tausend Dialekre.s? Und jede Sprache besagt etwas Eigenes, zumal die dichterisch geformte: Homer und die Psalmen lassen sich nicht recht ins Lateinische übersetzen." Diese Bürde ist nun freilich zugleich Würde, wenn auch nur im begrenzten Kreis der Heimat. Die Volkssprache ist weder heilig noch allgemein, aber lebendig und biegsam. Einst war Hebräisch unsere Muttersprache, aber heute ist unser Toskanisch edler als alle toten Idiome.P Der Ausländer versteht uns nicht, und auch die antiken Bewohner unserer Städte würden, wiederauferstanden, ihre modernen Nachfahren nicht begreifen.s? Die Volkssprache spiegelt zudem nicht die reine und ruhende Wahrheit, sie bedarf der persönlichen Anstrengung des Dichters. Doch eben dadurch wird sie unvergleichlich. In der "Göttlichen Komödie" verleiht Dante dem Italienischen diesen Rang. Das Werk umfaßt noch einmal wie Isidors Enzyklopädie kosmisch Natur, Geist und Geschichte; doch es schildert zugleich die Heilsgeschichte eines einzelnen, nämlich Dantes selber. Im Weg des Dichters faßt sich die Welt zusammen, in seiner Sprache wird sie offenbar. Gewiß, die Natur schenkte uns Sprache; aber der Mensch macht daraus, was ihm gefällt, secondo ehe v' abbella, So war es schon immer; bereits Adams Idiom wurde spielerisch abgewandelt und ging lange vor Babel unter. Vielleicht sprach Adam gar nicht Hebräisch; sein erstes Wort war der emotionale Freudenruf 1.31 Dantes Gesinnungswandel ist tief begründet. Sprache ist nun Ausdruck der Seele, Schönheit und Kunst, und so ist ihre Geschichte nicht mehr Sündenschuld; denn jeder Mensch muß seine Sprache reden, jeder hat auch seine eigene Weltgeschichte. Selbst im Jenseits sind die menschlichen Charaktere nicht verwischt, die Idiome nicht aufgehoben; Dante trifft dort seine Zeitgenossen wieder, und man erkennt auch ihn am Dialekt als Florentiner.P Nur darf er nicht nach italienischen Volksgenossen fragen.aa Denn alle Menschen sind gleich, vereint in Strafe, Buße oder Jubel; sie verstehen einander alle, soweit sich jeder zu sich selbst bekennt. Unverständlich stammelt nur, wer sich nicht entscheidet: die feigen Engel, die beim Kampf zwischen Michael und Luzifer abseits standen,34 oder Nimrod, der den Turm von Babel bauen wollte und alleingelassen wurde. Man hört ihn schreien: RapheI mqj amech zabl alm}, und niemand versteht das.35 Sprache und Geschichte bezeichnen also den Menschen in seiner Einmaligkeit und Endlichkeit; diese Aktualität aber hat durch Gottes Willen ewige Bedeutung. Jede menschliche Eigenart ist Teil des göttlichen Plans, jedes Ereignis ist Zeichen; der sinnliche Laut verweist auf menschliche Schicksale und geistige Gründe. Darum ist Dantes Italienisch sinnenhaft, anschaulich, •• La Vita Nuova XIII, 4, hg, M. Barbi, Edizione nazionale delle opere di Dante, Bd. 1, Florenz 1932, S.53. ' 13 La Divina Commedia, Paradiso X, 131, hg. G. Vandelli, 16. Aufl., Mailand 1955, S. 699. It De vulgari eloquentia I, 2 S. 10-16. 15 11, 1, 8 S. 168. 11 I, 3,2 S. 18. 17 I, 10, 9 S. 86-88. Ja 11Convivio I, 7, 15 S.46£. It De vulgari eloquentia I, 1,4 S.8. 10 I, 9, 7 S. 70. 11 La Divina Commedia, Paradiso XXVI, 124-138 S.852ff. n Inferno X, 25£. S.75. 11 Purgatorio XIII, 85-96 S.413 . .. Inferno Ill, 25 S.21. BI XXXI, 67 S. 260. 133 aus dem Alltag des Volkes geschöpft und zugleich lateinisch gelehrt, vergeistigt, hintergründig; darum durchzieht musikalische Bewegung die strenge Versform der Terzinen; darum häufen sich die poetischen Bilder, die hinter der wörtlichen Bedeutung einen tieferen Sinn enthüllen. Aber diese Zusammenhänge sind keine zuständlichen Gleichungen wie bei Isidor, sondern bewegende Gleichnisse. Der Dichter findet sie nicht vor, er stiftet sie erst; er schafft durch seine Sprache eine neue Welt der Kunst. Noch vertritt sie den Kosmos der Schöpfung, aber halb verdeckt sie ihn schon; die Renaissance wird den Menschen selbst zum Schöpfer erheben. Von Dantes Synthese zwischen Wirklichkeit und Gedanke, Aktualität und Poesie werden die Dichter zehren; die Italiener werden Dante den Glauben an die dauernde Harmonie des geformten Klangs verdanken. Die sprachliche Gestaltung wird zur Dichtung, zur Verkündurig der Schönheit. * Im Oktober 1517 erhebt in Wittenberg Martin Luther den großen Protest der gottsuchenden Seele gegen die verdinglichte Theologie des Mittelalters, die der Mönch und Professor bislang lehrte und nicht zu beleben vermochte. Die Welt erweist sich nicht als ruhendes System, auch nicht als bewegte Harmonie, sondern als ein Hindernis zwischen der betenden Seele und dem gnädigen Gott. Dazwischen soll sich von nun an keine irdische Macht, weder die katholische Kirche noch die lateinische Sprache, drängen. Die kraftvolle Mundart des Reformators, in der seine Seele schwingt, steht unvermittelt vor dem ehernen Worte Gottes, der Heiligen Schrift. Leidenschaftlich drängend, faßt Luthers Deutsch das persönliche Erleben in plastische, strömende Sätze. Luther fragt die mutter jhm hause, die kinder auf! der gassen, den gemeinen man auf! dem marckt und schaut ihnen auf! das maul.SG Doch in paradoxer Wendung verwirft eben diese handfeste Sprache die Welt und beschwört den Geist Gottes. Die geballte Wucht von Luthers Bibelübersetzung wird die deutsche Hochsprache grundlegen; doch Luther will nicht dies, sondern jedem Gläubigen seinen Weg zum Worte Gottes ebnen. Im Anfang war das Wort, jedoch nicht das menschlich-irdische. Wahre Sprache kommt von Gott her und ruft den Menschen an; dieser kann nur antworten. Zwischen der Ursprache Gottes und den Menschensprachen tut sich ein ewiger Abgrund auf, den Isidor nicht sah und Dante verdeckte. Wohl benannte der erste Mensch die Welt, aber ohne Gottes Vollmacht, also unverbindlich. wy mans nent, alßo ists genent. Sprache ist Vorrecht des Menschen, aber was Adam tat, können wir auch; denn Adam heißt zu Deutsch Mensch, und alle Menschen sind ein kuch mit Adam.S? Schon die älteste Sprache hatte wenig Autorität. Hebräisch ist wohl unter den Idiomen das allereinfachste, 38 allerbeste und reichste, majestätisch, herrlich und rein; doch schon bald unterlag es dem geschichtlichen Verfall.39 Was im menschlichen Sprechen etwa noch Gültiges blieb, zerfiel beim Turmbau von Babel; hier maßten sich die Menschen eigensüchtig das Göttliche an und verloren es, völlig.s? Seitdem ist unser Reden ein Irren; Babel wiederholt sich in jeder eigenmächtigen Auslegung von Gottes Wort, in jeder Abkehr von ihm.41 So ist der babylonische Turmbau Sinnbild der Welt, der geistlichen mit Papsttum und Bettelorden, der politischen mit tyrannischen Fürsten und Türken.P Diese mensch11 Sendbrief vom Dolmetschen, in: Werke, Gesamtausgabe, Weimar seit 1883 (abgekürzt: WA), hier Bd. 3011, S.637. a7 Predigten über das erste Buch Mose, WA Bd. 14, S.I25£ • .. Neue Tischreden Nt. 7167, WA Bd.48, S.700. 31 Tischreden Nr. 1040, WA Tischreden Bd. t, S. 524£.; Nr. 3271, Bd. 3, S.243£. '0 Vorlesungen über 1. Mose, WA Bd. 42, S.413. Cl Dictata super Psalterium, WA Bd. 3, S. 308. &! Predigten über das erste Buch Mose, WA Bd. 14, S.212. 134 lichen Zusammenrottungen gegen Gott werden heute wie in Babel gestraft durch Krieg, Hunger und Niedergang des wahren Glaubens.O Die Wirrnis ordnet sichnicht mehr zur Symbolzahl, gleich als mmten es gerad zwey und siebenzig sprachen sein. U Solange die Dingwelt nicht vor dem Worte Gottes verstummt, wird sie weiter in ihrer Konfusion verkommen. Ein ittlige sprag hatt ir eigen art.45 Aber ihre Formen vergehen, nur ihr Gehalt besteht. Gesegnet ist bloß die Sprache, die von Gott kommt und die zu Gott geht: die Bibelsprache und die Gebetssprache. Die Bibelsprache: Wir müssen Hebräisch und Griechisch fur allen andern ehren, weil sie das Alte und das Neue Testament bewahren; sie sind die scheyden, darynn dis messer des geysts stickt. Der tiefere Sinn der Sprachengeschichte ist es denn auch, Gottes Wort auszubreiten. Die Römer durften Latein zur Weltsprache machen, damit das Evangelium überall Frucht trage; die Türken durften Konstantinopel erobern, damit die verjagten Griechen dem Abendland das Neue Testament eröffneten. U Auch das Plingstwunder bescherte den Aposteln die Kenntnis aller Sprachen, damit sie Gottes Wort verstehen und es allen Völkern predigen konnten.s" So erwächst aus allen Zungen das eine Gottesvolk, in dem wir alle ussers Gottis sprach lind wort kennen und von Gott nicht anders reden als er selbst.48 Da Christus zu allen Menschen in allen Zungen spricht, darum sollen auch wir ihn in allen Zungen loben; und der deutsche Beter ruft seinen Gott auf deutsch.w Die Gebetssprache: Ich danck Gott, das ichyn deutscher Zllngen meynen gott alßo hö"reund jinde; als ich und sie mit myr a/her nit funden haben, widder in lateynischer, krichscher noch hebreiseher zungen.50 Luther liebt seine Muttersprache (er führt das Wort Muttersprache ins Hochdeutsche ein), doch heilig ist sie ihm nicht; denn sie ist wandelbar und begrenzt. Einst war sie wohl mit dem Griechischen verwandt, das so voll und schön klingt, und mit seiner einfachen Wahrheitsliebe und Innigkeit mag das Deutsche auch heute noch die vollkommenste Sprache sein;51 was finster bleibt, ist nicht wal deudschgeredet.52 Aber das betrifft nur den Sprachgeist. Die Form zerfiel in Dutzende von Dialekten; die groben Bayern verstehen sich nicht einmal mehr gegenseltig.s' Luther freut sich, daß Kaiser Maximilian und die kursächsische Kanzlei die Mundarten in eine getzogen haben zu jener Meißener Sprache, die Luthers Bibel dann zur deutschen Hochsprache machen kann.5t Doch ordnet auch diese weltliche Einung das Irdische nur partiell; denn Meißener, Böhmen, Polen und Schlesier bleiben einander fremd.65 Geschichtliche Zufalle regieren die Welt: Die babylonische Gefangenschaft verdarb das reine Hebräisch ganz;58 hätte Hannibal die Römer besiegt, die gelehrte Welt spräche heute Punisch statt Larein.P Aber was liegt auch daran? Zwar leben in der Völkergeschichte Gottis wunder lind werck und gewaltige Exempel von Glauben und Unglauben ;58 Vorlesungen über 1. Mose, WA Bd. 42. S.421f. In Genesin declamationes, WA Bd. 24. S.227. " Tischreden Nr. 5521. WA Tischreden Bd. 5, S.212. " An die Ratherren aller Städte deutsches Lands, WA Bd, IS, S. 37 £. n Hauspostille von 1544, WA Bd. 52, S. 315. " An die Ratherren aller Städte deutsches Lands. WA Bd. IS, S.41. CI Tischreden Nr. 2388, WA Tischreden Bd. 2, S. 443. iD Vorrede zu der vollständigen Ausgabe der "deutschen Theologie", WA Bd, 1, S.379. 11 Tischreden Nr. 4018, WA Tischreden Bd. 4, S.78f. It Deudsch Catechismus, WA Bd. 30 I, S. 198. 63 Tischreden Nr. 4018, WA Tischreden Bd. 4, S. 79. " Nr. 2758, WA Tischreden Bd. 2. S.639£. 55 Nr. 6108, WA Tischreden Bd. 5. S. 492• • 1 Nr. 2758, WA Tischreden Bd. 2, S.639. 67 Nr. 3766, WA Tischreden Bd. 3, S.597. 61 An die Ratherren aller Städte deutsches Lands. WA Bd. IS, S. 52. U U 135 doch als dingliche und irdische bleibt die Historie verfallen und heillos. Der Etymologe kann die Welt nicht ordnen, der Dichter sie nicht verklären; auch im Sakrament werden Wort und Zeichen allein durch den inneren Glauben zusammengezwungen. Die Seele verschmäht die Welt, die Gott ihr entzieht. Aber wenn sie vor die Offenbarung tritt, dann darf sie nicht ekstatisch murmeln, sie muß sich erklären und den unfaßbaren Gott mit verständlichem, gefaßtem Wort rufen. Dann wird sie seine Stimme, Gericht und Verheißung, hören, lautlos, aber vernehmlich. Von' den Sprachen im Jenseits sagt Luther nichts. Sein Beispiel wird die neuere Theologie auf das innere Wort hinlenken, das sich nicht verleiblicht; Luther wird die Deutschen anleiten, ihre Muttersprache zu lieben, aber allein den Geist zu beachten und die Form geringzuschätzen. Die sprachliche Außerung ist Theologie, Bekenntnis vor Gott. * Im November 1688landet in England das Schiff, das Wilhelm von Oranien und John Locke aus Holland bringt. Beide, der König und der Philosoph, vollenden die englische Revolution; sie ersetzen absolutes Gottgnadentum durch parlamentarische Konstitution, Hegemonie durch Gleichgewicht, Religionskämpfe durch liberale Toleranz, Rationalismus durch Empirismus. Zwei Jahre später, 1690, begründet Lackes "Abhandlung über den menschlichen Verstand" den Umbruch. Das Buch ist nicht einsam ergrübelt, sondern vielfach mit Freunden besprochen.w Locke möchte lieber blind als taub sein, er braucht das Gespräch. Man spürt es an seiner Sprache. Sie ist nüchtern und umgänglich, weitschweifig, um deutlich zu werden, unscharf, um höflich zu bleiben. Ohne gelehrte Etymologien, dichterische Bilder und geistliche Steigerungen spricht hier ein Laie, der lieber in die Welt horcht als seinen Theorien traut. Der Stil ist der Mensch; Locke, von Beruf Arzt, glaubt allein an die sinnliche Erfahrung, nicht an die Postulate der Religion und Vernunft, nicht an die heilsgeschichtliche Vorsehung, nicht an die Ordnungsmacht der Sprache. Immerhin war es Gott, der den Menschen sprachbegabt schuf, weil er ihn zum geselligen Wesen bestimmte; Gemeinschaft setzte Verständigung voraus.t? Aber diese Sprache, die die Gesellschaft verbindet, kann nur Gedanken mitteilenjs! sie verkündet keine ewigen Ideen. Es gibt keine angeborene Idee oder Sprache, keine Tradition der Wahrheit; der Mensch benennt die Dinge nach WiIlkür.62 Die Namen der Dinge rühren nur in gewissem Grade an deren Wesen;63 viel eher können sie uns über den Ursprung unserer Ideen aufklären. sc Sprache bildet sich nämlich aus seelischen Vorstellungen; sie können bei unerfahrenen Menschen falsch sein. Woher etwa sollte der erste Namengeber Adam Erfahrung haben? Er hatte Phantasie, nichts weiter.es Seine Nachkommen teilen und entfalten seine Macht; sie verfeinern die Sprache, indem sie aus dem Sichtbaren höhere Begriffe ableiten. 66 Spirit bedeutete anfangs nichts Geistiges, bloß den Hauch des Atems; das Wort Angeh für die unsichtbaren Engel meinte eigentlich nur "Boten".67 Die sinnliche Erfahrung ist also die Grundlage unseres Denkens und Sprechens; doch wir können uns nicht einmal an sie exakt halten. Oft verwechseln wir unsere Worte mit den Dingen, oft denken wir uns beim Sprechen gar nichts.68 Die mathematisch-physikalische und die moralische Gewißheit ist der Lautsprache unerreichbar; sonst würde sie dem Japaner und dem Taubstummen ebenso An Essay Concerning Human Understanding, The Epistle to the Reader, hg. J. A. SI. John, The Philosophical Works of John Locke, 2 Bände, London 1901, hier Bd, 1, S.118. '0 Ill, 1, 1 Bd.2, S. 1. 11 11, 18,7 Bd. 1, S. 347; Ill, 6,33 Bd.2, S. 63f.; Ill, 10,23 S.108. IS Ill, 2, 1 Bd.2, S.4. la Ill, 2,2 S.4£. " n, 15,4 Bd. 1, S. 319 Ci Ill, 6, 44 Bd.2, S. 69£. .. 111,6,45 und 51 S. 70£. und 73£. 17 III, 1,5 S.2 . •• II, 13,18 Bd. 1, S. 291; 11, 32,7 S. 522; III, 2, 5 Bd.2, S. 7; III, to, 4 S. 95£.; III, 10, 14 S.101. it 136 wie dem Engländer einleuchten.w Weil Sprache beliebig ist, deshalb sind die Sprachen veränderlich und verschieden, geprägt von geschichtlichen Mächten, der Lebensweise und Gewohnheit des Landes.I? Kaum eine von zehn Vorstellungen läßt sich adäquat übersetzen; "ein Pfund" ist für den modernen Engländer etwas ganz anderes als für den alten Römer."! Fremde Sprachen und frühere Zeiten bauten sich andere Vorstellungswelten auf als wir; darum verstehen wir sie nicht. Ja, jeder einzelne spricht nach seinen individuellen Erfahrungen. "Gold" ist für den einen nur etwas glänzend Gelbes, für den zweiten auch etwas Schweres, für den dritten dazu etwas Bildsames; niemand kann das Ding "Gold" durch dieses eine Wort vollständig beschreiben.P Diese theoretische Autonomie und Aporie der Sprache wird in der Bibel als Sprachverwirrung geschildert: In Babel verstand jedermann nur noch sich selbst; die Sprache diente nicht mehr der Konversation.P Das biblische Ereignis macht also einerseits die Grundstruktur von Sprache überhaupt sichtbar, und es war anderseits nur ein momentanes Durcheinander der Begriffe, nicht aber die Geburtsstunde der neueren Sprachen. Denn diese sind zwar nicht weniger unvollkommen als Sprache überhaupt, aber sie wurden von Gemeinschaften praktisch erprobt. Ihre soziale Funktion mindert den Erkenntnisdefekt; the convenience of communication schränkt die Willkür der Benennungen ein.74 Die Sprache kann nicht wahr, doch sie muß verständlich sein.75 Ihre Geschichte ist zuvorderst Sozialgeschichte. Diese aber spielt nur in geschlossenen, gleichzeitigen Verbänden, sie begründet keine Tradition. Geschichte ist das Spielfeld für freie Experimente; wir können daraus nur liberale Lebensweisheit lernen, kein verpflichtendes Erbe empfangen.P Warum zum Beispiel sollen alle Nachkommen Adams zur Erbsünde verdammt sein, wegen des Sündenfalls, von dem die meisten Menschen nie gehört haben? Es gibt keine Heilsgeschichte, kaum eine Weltgeschichte. Antike Autoren sind uns unverständlich, ihre historischen Nachrichten sind unzureichend überliefert, gefälscht oder erlogen, mindestens schwer zu deuten. Für unser Leben brauchen wir nicht jene vergangenen Welten, sondern das Nächste, nicht das Latein, das der Erwachsene im Alltag, tausend gegen eins, niemals benutzt, sondern unsere englische Muttersprache; und wenn wir außerdem Fremdsprachen lernen, dann am besten das Französische, die Sprache unserer heutigen Nachbarn."? übrigens eignen wir sie uns nicht nach grammatischen oder rhetorischen Schulp regeln an; man lernt eine Sprache am besten beherrschen durch lebendiges Schreiben und Sprechen, das die innere Tätigkeit unserer Seele ausdrückt.ts Auch in Zukunft wird der Mensch in seine Umwelt hinaushorchen, sich von ihr bilden lassen und sich nicht auf seinen kleinen Verstand verlassen. Töricht wäre es, die Idiome der Welt pfingstlich durch eine künstliche Universalsprache reformieren zu wollen. Auch die Muttersprache muß bleiben, wie sie gerade ist, mehr vom Gebrauch der Massen als von der Einsicht der Klugen geformt. Denn der Klugen sind wenige, die Sprache aber ist für alle; das Volk setzt die sprachlichen wie die staatlichen Normen, und sie sind allemal praktisch." Niemals wird die Sprache zum fortschreitend gefüllten Schatzhaus menschlichen Wissens, weil sie demokratisch und mittelmäßig bleibt; der große Weltkaiser Augustus hatte nicht mehr Gewalt über sie als jedes lallende Kind.s? An der immergleichen menschI, 3, 19 Bd. I, S. 173. 70 Il, 22,6-7 Bd. 1, S.417£. 71 111,5,8 Bd.2, S.34£. III, 2, 3 S. Sf. 71 1II, 6, 28 S. 59. 7& 11, 28, 2 Bd. 1, S. 483. n Ill, 2,8 Bd. 2, S. 74. Tt Some Thoughts Concerning Education § 182, in: The Works of John Locke, Bd, 8, London 1794, S.174f. f7 § 162-164 S. 152f.; § 189 S.181£. n § 165 S. 153f.; § 168 S. 160. 7t An Essay Concerning Human Understanding Ill, 6,25 Bd.2, S. 55£. 10 Ill, 2, 8 S. 8. It 7' 137 lichen Durchschnittlichkeit ändern Adam, Babel, Pfingsten nichts. Versuchen wir, "mit unserer Mittelmäßigkeit zufrieden" zu leben;81 denn die Wahrheit ist nicht für uns. Das Band zwischen Wahrheit, Sprache und Geschichte wird zerschnitten; entschiedener als Luther trennt Locke die Geschichte von Gott, den Menschen von der Natur. Wir vernehmen noch die ewig wahre, stumme Sprache Gottes und der Natur, aber wir können sie nicht in unsere Worte übersetzen, die Gott und Welt nicht mehr zu Gesprächspartnern haben. Die Sprache, jede Sprache bleibt auf unser Innenleben beschränkt, mehr als psychologische Wahrheit kann sie nicht vermitteln; sie bietet also eher Empfindungen als Erkenntnisse, leichter den Augenblick als die Zeitenfolge. Von diesen Lehren Lockes wird das 18. Jahrhundert die Vorliebe für sentimentale Gefühle, das Vertrauen zur Natur, den Glauben an die Erfahrung, das Mißtrauen gegen die Überlieferung lernen; Locke wird die angelsächsische Philosophie auf die praktische, technische Nützlichkeit verweisen, der englischen Sprache ihre unlogische Sachlichkeit bestätigen und eine ganze Epoche anregen, sich illusionslos in dieser Welt einzurichten, ohne sie überwinden oder verstehen oder verbessern zu wollen. Der sprachliche Ausdruck ist Psychologie, Kunde von der Menschenseele. * Im Frühjahr 1794lieferte man den Marquis Antoine de Condorcet in ein französisches Provinzgefängnis ein; hier endete tags darauf durch Gift dieser nicht geniale, aber typische Geist, der kein Zeitgenosse aller Zeiten, doch in seinen Tagen berühmt war. Durch Arbeiten zur Integralrechnung und Kometentheorie bekanntgeworden, wandelte sich der Mathematiker zum Theoretiker der Französischen Revolution; der Adlige proklamierte die Republik des souveränen Volkes. 1792 wurde er Präsident der Nationalversammlung und suchte durch Schulreformen der Revolution auch' die Zukunft zu sichern. Das souveräne Volk muß eins werden, also eine Sprache reden. Die aristokratische Bildung vermittelte bisher den Privilegierten an Hand der lateinischen Klassiker eine schwülstige, abstrakte, mit Gleichnissen überladene Hochsprache, die vom unverbildeten Volk nicht verstanden wurde. Künftig aber müssen alle in der Volksschule die gleiche Sprache lernen, ohne alte Bücher und antike Idiome, die noch voller Irrtümer stecken; mit dem Latein müssen auch die rückständigen bäuerlichen Mundarten Frankreichs im historischen Museum verschwinden. Die Sprache der Zukunft wird das moderne, unteilbare, klare Französisch sein. Condorcet erlebte die Zukunft nicht mehr; als 1793 die Blutherrschaft der radikalen Jakobiner die intellektuellen Weltverbesserer stürzte, mußte sich der Präsident in der Provinz verstecken, um der Guillotine zu entgehen. In dem Dreivierteljahr zwischen Sturz und Selbstmord, 1793/94, schrieb Condorcet in seinem ländlichen Versteck die "Skizze eines historischen Abrisses der Fortschritte des Menschengeschlechts". Sie ist nicht die originellste, wohl aber die konsequenteste Darstellung der revolutionären Geschichts- und Sprachauffassung, typisch bis in Condorcets Sprache hinein. Sie spiegelt einen farblosen Mann und seine leidenschaftliche Parteinahrne; schmucklos und schwungvoll entwirft sie eine leicht faßliche und höchst dynamische Sozialmathematik, ohne menschliche Intimität, mit grausamer Präzision. Der Mensch, so lesen wir, erfand ja die Sprache nicht selbstherrlich, denn er ist ein Geschöpf der Natur; Rousseau hatte es gelehrt. Sprache entstand also als Eindruck von Naturerscheinungen auf die empfängliche Seele; aus der Natur schöpfte die erste paradiesische Sprache dichterische Gleichnisse. Ihrer bedienten sich bereits vor der Gründung politischer Gruppen die ersten Menschen, die wenigen Jäger und Fischer; denn 11 Lockes Grabschrift. 138 die Sprache ist Ursprung und Anfang jedes ordre social.82 .Ähnlich dachte Locke; doch bei Condorcet sind Sprache und Geschichte wieder zusammengefaßt als Teile eines unaufhaltsamen Prozesses, der die sozialen Lebensformen von Fortschritt zu Fortschritt treibt. Indem die Jäger und Fischer sich allmählich zu größeren Hirtenvölkern versammelten, wurde ihre Sprache geschmeidiger und vielfältiger, blieb aber bildhaft und naturnahe.P Als dann der Ackerbau differenziertere Umwelten schuf, trennten sich die Sozialverbände, und die Sprachen erlebten ihr Babel; jede Gruppe erarbeitete sich ihre Sondersprache. Sie änderte sich im Laufe der Zeit, wenn im Handel oder Krieg die Völker sich trafen. Auch im Innern des Volkes spalteten sich Sprache und Sozialordnung, seitdem die Priester die tätigen Schichten unterdrückten. Diese schlauen Schurken verbesserten die Sprache zu einem willkürlichen, aber zugleich fast mathematischen System abstrakter Zeichen, die die höhere Wahrheit des Gedankens wiedergaben. Doch hielt die Priesterkaste diesen bedeutsamen Fortschritt streng geheim. So entstanden zwei Klassen, die Sprache wurde doppeldeutig: Abbild der Natur und Sinnbild des Denkens, Ausdruck der Dichtung und Instrument der Wissenschaft.84 In der klassischen Antike blieben die sozialen Schichten und auch die Sprachstrukturen auf diese Weise getrennt. Immerhin drangen die höheren Bildungssprachen dank der römischen Weltherrschaft über alle Grenzen hinweg und regten den geistigen Austausch wenigstens der Oberen an.85 Er erlosch allerdings im Mittelalter unter der barbarischen Herrschaft der Priester; der Fortschritt wurde gewaltsam aufgehalten. Es blieb der Zwiespalt zwischen dem gelehrten Latein und den rohen Volkssprachen. 86 Erst Dante zerbrach die Fesseln der Frömmler; Humanismus und Buchdruck gestalteten die Volkssprachen vollends zu Instrumenten des Denkens für alle Stämme und Stände.s? Dies ist der gegenwärtig erreichte Zustand; der Fortschritt von Bildern zu Gedanken, von Eindrücken zum Ausdruck ist allgemein geworden. Am geschliffensten und deshalb am weitesten verbreitet sind die Sprachen der gelehrtesten und freiheitlichsten Völker, der Engländer und der Franzosen.w Französisch wird bereits zur Gemeinsprache Europas.s'' , Wenn Revolution und Aufklärung erst überall sich durchsetzen, dann wird "die Sprache eines großen Volkes" die ganze Welt erobern: und diese pfingstliche Sprache wird wiederum das Französische sein, dessen Reinigung und Einigung Condorcet soeben befohlen hat.90 Doch sobald die Vernunft allein regiert, muß sich auch der Fortschritt. beschleunigen, unwiderstehlich wie das Gesetz der Schwerkraft, und dann wird kein Einzelvolk mit seiner Sprache mehr dominieren können: dann werden alle Völker brüderlich gleich und vollkommen sein.91 Sie werden zusammen die vagen und dunklen Sprachen der Dichter und der Denker ersetzen durch eine wahrhafte langue universelle, die exakte Sprache der Algebra und Chemie. Sie wird endlich die Natur selbst definieren und vom Irrtum frei sein; sie wird alle Sprachen in sich vereinen und in alle anderen übersetzt werden können.92 Dann wird die Geschichte und vielleicht sogar der Tod überwunden von der klassenlosen Universalgesellschaft, die das Jenseits überflüssig macht. Condorcets Bild ist der christlichen Deutung der Heilsgeschichte recht genau nachgestaltet, braucht aber Gott nicht mehr: die Vernunft selbst wird zur Religion, und die Mathematiker sind ihre Historiker und ihre Propheten. Condorcet selbst fühlt sich als Priester des Fortschritts, und es erschüttert ihn nicht, wenn die Revolutionsmechanik sein Leben bedroht und auslöschen wird. Die voraussehbare Geschichte der immer größeren Verbände überrollt das Individuum: der Fortschritt der Gattung zu 11 Esquisse d'un tableau historique des progres de l'esprit humain, hg, O. H. Prior, Paris 1933, S. 1,3, 6,8,16. sa S. 24. .~ S. 27, 31, 41 If. 11 S. 50,79. .a S.198 . u S.93. .7 S. 117£., 1371f. • t S.195. •• S.9. tl S.204. IS S. 174, 180ff., 225f., 233ff. 139 ihrem Optimum kann nach dem Schicksal von Einzelmenschen nicht fragen und darf nichts historisch Gewachsenes bestehen lassen, weder die Sprachen noch die Völker. Aus französischem Vernunftglauben erwächst Condorcets unbändiges Vertrauen Zum Fortschritt, nicht als wissenschaftliche Folgerung, sondern als Wunschtraum. Er wird die Gesellschaftslehre des 19. Jahrhunderts befruchten; er wird durch alle Katastrophen ungeschmälert fortwirken, wenn man in Amerika Übersetzungsmaschinen baut und von Elektronengehirnen eine Universalsprache errechnen läßt; er wird auch den dialektischen Materialismus beseelen, der die klassenlose Gesellschaft als irdisches Paradies verheißt. Die sprachliche Formel ist Soziologie, Produkt einer Gruppe. * Zwischen dem 20. Juni und dem 2. August 1950 druckte die Moskauer "Prawda" fünf Briefe von J osef Stalin ab, die dann unter dem Titel "Der Marxismus und die Fragen der Sprachwissenschaft" als Broschüre erschienen. Auf ihren sechzig Seiten stürzte der kommunistische Diktator und Chefideologe die materialistische Welt- und Geschichtsauffassung um. Nicht zufällig gab die Sprachtheorie den Anstoß. Die Sprache kann Gedanken lenken; darum ist sie das wichtigste Machtmittel jeder Ideologie. Ein Werkzeug des Kampfes war sie schon 1904 für den jungen Stalin. Und er hatte es gebilligt. daß die offiziöse Geschichtslehre der Sowjetunion bis 1950 auf den Thesen eines Sprachforschers ruhte. Dieser, Nikolai Marr, hatte sie etwa im Geiste Condorcets formuliert. Grundlage der Geschichte sind die gesellschaftlichen Entwicklungszustände der Menschheit. Im paradiesischen Urkommunismus, als alle körperlich arbeiteten, bedurfte es keiner Sozialordnung und nur einer Gestensprache; erst die priesterlichen Unterdrucker erfanden die Wortsprache, um die Ausbeutung ideologisch zu verteidigen. A.hnlich sollen die derzeitigen Nationalsprachen die kapitalistische Ordnung stützen. Die künftige klassenlose Gesellschaft wird sich eine ganz neue Weltsprache aufbauen, die handfest und doch durchgeistigt ist, also die Klassensprachen überwindet; sie kann, wie in der Urzeit, auf die Lautsprache wohl ganz verzichten. Denn Sprache und Geist sind ideologische Klassenprodukte, Überbau ohne Eigengewicht; den ruckartigen, aber konsequenten Veränderungen der ökonomischen Basis folgen sie sklavisch, entwickeln sich also nicht linear. Auch innerhalb jeder Entwicklungs- und Produktionsstufe bilden die Sprachen ein sinnloses Chaos von Kreuzungen und Mischungen, das der babylonischen Sprachverwirrung 'gleicht. Ihr Geist, ihre Form und Geschichte sind der Beachtung kaum wert. Daraus folgt in der Praxis jene Sprachbarbarei mit Abkürzungen. Fremdwörtern, immer wiederholten Propagandaformeln, die wir auch aus der deutschen Erfahrung kennen, und die noch heute als Begleiterscheinung des Materialismus auch in der westlichen WeIt grassiert. Dagegen wendet sich nun Stalin 1950, in einer gewandelten Situation. Der "Vaterländische Krieg" gegen Hitler rief die nationalrussischen Gefühlswerte wach; Mao Tse Tung war in China damit vorangegangen. Der Bolschewismus herrscht nun in vielen Ländern; gleichwohl (oder deshalb) kann er die Geschichte nicht, wie er plante, aus den Angeln heben; nicht einmal in Rußland ist das Endziel der klassenlosen Gesellschaft erreicht. Jetzt verschiebt eine "Revolution von oben"93 die Akzente von der unbedingten Hoffnung zur geschichtlichen Leistung. Stalin vergöttert die Geschichte; sogar die marxistischen Dogmen sind historisch zu prüfen, nicht blindlings hinzunehmen.w Die Schematik des Diamat löst sich in Geschichte auf, die man studieren muß und nicht hinterm Ofen aus dem Kaffeesatz herauslesen kann.95 Die Freiheit des Geistes wird anerkanntj'" denn die Sprache ist frei. Sie ist kein ideologischer Überbau, nicht der IS It Der Marxismus und die Fragen der Sprachwissenschaft, Berlin 1953, S. 35. S. 12, 66. .. S.41. .. S. 38. 140 ökonomischen Basis verhaftetj+? von den sprunghaften, dialektischen Revolutionen der Klassen bleibt sie unberührr.w Das Russische zum Beispiel blieb von Puschkin bis heute gleich, während Rußland doch zwei gesellschaftliche Umstürze, den kapitalistischen und den sozialistischen, erIebte;99 auch die Französische Revolution war keine sprachliche Umwälzung.loo Denn die Sprache ist nicht von einer ephemeren Klasse geschaffen, sondern "durch den ganzen Gang der Geschichte der Gesellschaft", durch "die Bemühungen Hunderter von Generationen".IOI Sprache berührt "ausnahmslos" jede Tätigkeit des Menschen und den Menschen selbst;I02 er braucht sie zum Umgang mit seinesgleichen, auch mit seinen Feinden.lo3 Und die Geschichte tut das Notwendige: Schon immer besaß der Mensch eine Lautsprache.ws Sie entstand in der kommunistischen Urgesellschaft an einer einzigen Stelle; so primitiv und dürftig sie war, sie wurde "im grauesten Altertum" zur Grundlage der modernen Sprache.los Stalin distanziert sich von der Theorie der Ursprache.P! wohl weil er die Sprache nicht auf ein überzeitliches oder geistliches Podest heben will; aber ein Urphänomen ist sie ihm doch. Woher kommt dann die Verschiedenheit und Verwandlung der Idiome? Offenbar vom Fortschritt. Soziale, wirtschaftliche, politische und geistige Phasenunterschiede trennten die Stämme voneinander, aber zugleich bereicherten Erfahrungszuwachs und -austausch die differenzierten Sprachen.tv? Ihre Mannigfaltigkeit ist also kein Abfall vom Ideal. Der Babylonische Turm über diesen dynamischen Systemen fehIt freilich nicht; es sind die reaktionären Großreiche wie das Imperium der römischen Sklavenhalter oder der mittelalterliche Feudalismus. Imperialistisch zersplittern und verwirren sie die Völkerschaften und Sprachzonen, ohne lebensfähige größere Einheiten zu schaffen.los Das feudale Chaos wurde in der frühen Neuzeit durch die Nationen und ihre Nationalsprachen überwunden. Diese sind nicht von den Kapitalisten gemacht, sondern ruhen auf urtümlichem Grund; die bourgeoisen Krämer haben sie zwar durch ihren Jargon verschandelt, aber nicht verwandelt.P" Noch in der sozialistischen Epoche gelten die Nationalsprachen weiter; zu ihnen gehört das Russische. Darum will Stalins Sprachform nun russisch wirken, Fremdwörter meiden, flüssig und sprachgerecht sein. Stalin nimmt die gegenwärtige Sprachenvielfalt sogar in Schutz gegen die angelsächsische Fortschrittsideologie; diese will die gewachsenen Idiome imperialistisch durch die englische Weltsprache unterdrücken. Der wahre Fortschritt, auch der russische Traum von der Welterlösung, wird zum Fernziel. Erst nach dem Endsieg des Sozialismus können die Nationen mit ihren Hunderten von Sprachen frei zusammenwirkenjl-" dann werden sich die nationalen Sprachen zu zonalen und diese zu einer internationalen vereinen. Dies wird "natürlich weder die deutsche noch die russische noch die englische, sondern eine neue Sprache sein, die die besten Elemente der nationalen und zonalen Sprachen in sich aufgenommen hat".11l Doch es wird kein mathematisches Zeichensystem sein, wie Condorcet und Marr meinten; ohne Lautsprache verstehen die Menschen einander nie. Stalin preist die Sprache als Attribut des Menschen, als eigene Größe von "nahezu unbegrenztem" Wirkungsbereich.ll2 Sie ist weder auf die ökonomische Wirklichkeit noch auf die ideologischen Gedanken beschränkt; sie ist nach einem Wort von Kar! Marx "die unmittelbare Wirklichkeit des Gedankens".1l3 In der Sprache wird also das Denken zur geschichtlichen, weltverwandelnden Macht. Die Wirkung von Stalins Gedanken mag durch seinen Tod 1953 gehemmt worden sein, beendet ist sie vermutlich noch längst nicht. Denn unabhängig von Stalin und außerhalb der ideologischen Lager 17 lOO 101 101 lot UI S.5ff. S. 19f., 33£. S. 8,27. S.42. S. 15, 18. S. 13. la 101 101 107 110 11a S.9. S.8. S.55. S. 14,32. S.64£. S. 48. .. S. 6f., 10f. S. 13,29. m S. 14, 32. 101 S. 14f. III S. 62,65. 101 141 kommen heute viele zu dem ähnlichen Ergebnis, daß die Sprache eine Gestalt, also ein Ganzes sei. Sie entstammt der menschlichen Seele, doch sie wendet sich nach außen und baut unsere Welt. Aber sie besteht nicht ohne den Menschen. Die Untersuchung der Sprache führt zur Anthropologie, zur Besinnung auf das Wesen des Menschen. * Die sechs hier' kurz skizzierten Beispiele bieten uns grundverschiedene Weltbilder und Sprachauffassungen; sie lassen sich nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen, es sei denn der allgemein menschliche. In einem Punkte nämlich kommen sie überein : Bei all diesen Menschen sind Sprachdenken, Geschichtsauffassung, Sprachform und geschichtliche Lage eng miteinander verquickt; die Idee läßt sich von der Wirklichkeit, der Gedanke von der Form nicht ablösen. Zwar ließe sich leicht (wie manche Forscher es lieben) das historisch Bedingte, um nicht zu sagen das Falsche, ausscheiden; nur würde man dabei die befragten Gestalten selbst mitten durchschneiden und ihnen das Leben nehmen. Man muß sie so verstehen, wie sie waren; und sie verstanden allesamt das Dasein als Ganzes. Sie entzogen sich ihrer Gegenwart mit ihren Irrtümern nicht; sie blickten auf die Vergangenheit und in die Zukunft von einem jeweils sehr entschiedenen Standpunkt aus, mit dem sie die Welt aus den Angeln zu heben gedachten. Sie waren nämlich alle aktive Naturen, nicht eigentlich Schreibtischgelehrte ; auch was sie schrieben, stand unter dem Primat der praktischen über die reine Vernunft. Unsere Auswahl ist also einseitig, aber sie muß es sein. Es gab und gibt bedeutende Denker, die die Sprache als geschlossenes System oder als zeitloses Spiel betrachten; sie trennen in ihrem Denken und Wirken sehr viel schärfer den Inhalt von der Form, die Sprache von der Geschichte. Aber wer so die Probleme voneinander isoliert, isoliert sich gewöhnlich selbst von seiner Zeit, meist nicht so vollständig, wie er möchte, aber so weit, daß er ihr nichts Verbindliches mehr sagen will. Für unsere sechs Zeugen dagegen ist Sprache kein sauber präpariertes Phänomen, sondern als Form ein Bekenntnis, das den ganzen Menschen ausspricht, und als Inhalt ein Aufruf, der alle Menschen anspricht. Weil diese Sprache nicht erdacht, sondern gelebt wurde, bezeichnete sie wirklich den Menschen. Darum schloß sich nicht nur bei jedem einzelnen der Kreis von Sprache und Geschichte; sie setzten auch in ihrer Reihe insgesamt einige Marksteine für die historische Entwicklung des Sprach-, Geschichts- und Menschenbildes, ja für die Wesensbestimmung von Mensch, Geschichte und Sprache selbst. Denn es sind nicht allein Phasen der abendländischen Anthropologie, es sind auch Grundzüge möglichen menschlichen Verhaltens, die wir beobachtet haben: die Verherrlichung des Schöpfers durch sein Geschöpf, der Stolz auf die nachschaffende Macht des kreatürlichen Menschen, die Einsicht in die Brüchigkeit des Irdisch-Menschlichen, die Hinnahme der alles bestimmenden physischen Natur, die Hoffnung aufVerbesserung des sozialen Daseins, die Unterwerfung unter die Gesellschaft. In gleicher Weise bilden die untersuchten Geschichtsauffassungen eine Kette durch die Zeiten und zugleich einen Kreis um das Problem: Geschichte ist möglich als heilsgeschichtliche Vorsehung Gottes, als Aktualisierung des menschlichen Augenblicks, als Verfallenheit der Welt, als Experiment der Gesellschaft, als Anlauf zu einer höheren Zukunft, als zwangsläufige Mechanik. Ebenso sind die Ansichten von der Sprache nicht bloß Stadien eines Ablaufes, sondern auch Teilaspekte eines Sachverhaltes: Sprache kann verstanden werden als Stimme Gottes und Bekundung der Wahrheit, als Ausdruck der Seele und Verkündung der Schönheit, als Sinnbild der korrupten Welt und Bekenntnis zu Gott, als Eindruck der Natur und Kunde von der Menschenseele, als Verständigungsmittel und Produkt einer Gruppe, als gestalthaftes Zeichen des menschlichen Daseins. 142 Jedes der sechs vorgeführten Weltbilder ist in sich schlüssig; aber sie sind miteinander unvereinbar, sie lassen sich nicht zusammenfassen zu einer Summe, zur ganzen Wahrheit über Mensch, Geschichte und Sprache. Und daran würde sich wenig ändern, wenn wir an Stelle von sechs ein paar tausend Zeugen verhören wollten.114 Nicht als ob sich dann Tausende von völlig getrennten Wahrheiten ergäben. So unübersehbar vielfältig die geschichtlichen Situationen und die jeweiligen Inspirationen auch sind, es gibt doch nicht unbegrenzt viele Grundstrukturen menschlichen Verhaltens zum Problem Sprache und Geschichte. Einige, wenn auch nicht alle, werden von unseren Kronzeugen repräsentiert, und man könnte sie leicht zu reinen Idealtypen abstrahieren. Dann freilich könnten sie keine Normen setzen, weder für die Erkenntnis noch gar für das Handeln. Wirksam sind sie nur in geschichtlichen Verkörperungen; diese aber lassen sich nicht verallgemeinern. Isidors System und Stalins Situation sind exemplarisch, aber nicht übertragbar. Wir können sie nicht miteinander vertauschen und nicht einfach für uns verwenden. Was nützen sie aber dann noch für die Frage nach dem Wesentlichen, für uns? Bleibt uns nicht doch bloß die Weisheit Heraklits, daß alles fließt und niemand zweimal in denselben Fluß steigen kann? Es bleibt uns doch mehr. Eine vollständige und klare Ordnung ist wohl deshalb unmöglich, weil die Geschichte kein geschlossenes System ist, sowenig wie die Sprache, sowenig wie der Mensch selbst. Weil der Mensch fragmentarisch ist, darum braucht er ja Sprache und Geschichte, darum teilt er sich mit, ruft andere an, beschwört Gegenstände und Geschehnisse; darum ist er auf Traditionen und Situationen angewiesen. Aber er tut das nicht, um sich hinter Fremdem zu verstecken, sondern um sich selbst deutlich und eindeutig zu bestimmen. Er hört von allen Seiten vielerlei Stimmen, die ihn angehen; aber er muß darauf antworten, die Verantwortung für das übernehmen, was zu ihm gehört. Diese auswählende Selbstbestimmung ist seine Freiheit und seine Pflicht. Vorgänge und Vorbilder zwingen ihn nicht zur Nachahmung von Beliebigem, sondern zur Entscheidung und zum Standhalten. Eben dies lehrt die historische Betrachtung, das Gespräch mit dem Vergangenen. So trostlos das Chaos des Bekannten ist, so tröstlich ist die Chance des Bekennens. Die Geschichte ist noch nicht zu Ende; auch die heutige Entfremdung des Menschen von seiner Sprache und Geschichte muß nicht das letzte Wort sein. Sprache und Geschichte werden morgen anders sein, als sie jemals waren; aber sie könnten morgen wieder das sein, was wir sind. Was die Sprache ist und was aus unserer Sprache wird, hängt jedenfalls davon ab, wie wir zu unseren Worten stehen. u, Dies geschieht in meinem auf 6 Bände geplanten Buch: Der Turmbau von Babel, Geschichte der Meinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker, Stuttgart seit 1957, bisher 4 Bände. Dort findet man das Gesamtproblem erörtert und die Sekundärliteratur aufgeführt. SONDERDRUCK HEFT AUS "WIRKENDES 3, JAHRGANG 10 Pädagogischer Verlag Schwann Diisseldorf WORT"
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