Reinhold Kittelmanns Erinnerungen an die Vertreibung aus Schlesien

Reinhold Kittelmanns
Erinnerungen an die
Vertreibung aus
Schlesien
Reinhold Kittelmann aus Rabishau (Niederschlesien) erlebte als
Zehnjähriger die Besetzung seiner Heimatstadt durch russische Truppen
und die anschließende Übernahme durch polnische Verbände. Sehr bald
wurden die dort ansässigen Deutschen aus ihrer Heimat ausgewiesen
und in Viehwaggons nach Helmstedt befördert. Zielort war Holzminden.
Dort wurden die Heimatvertriebenen zunächst verpflegt, in
provisorischen Unterkünften untergebracht und später in Wohnungen,
die von Einheimischen zur Verfügung gestellt werden mussten,
eingewiesen.
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Reinhold Kittelmann stammt aus Rabishau. Er erlebte die Vertreibung
aus Schlesien als Zehnjähriger. Erhaltenes Erinnerungsstück ist ein
Reisekorb, der auf der Flucht dabei war.
Herr Kittelmann erinnert sich, dass bis Mai 1945 Geschützdonner zu
hören war, es aber auf dem Land und in Rabishau ruhig blieb. Im Mai
1945 besetzten russische Truppen das Gebiet bis September / Oktober;
danach tauchten polnische Gruppen auf. Sie trieben die Deutschen aus
ihren Häusern heraus und führten sie zusammen ein bis zwei
Tagesmärsche weg, um sie sich dann selbst zu überlassen. Wenn sie
dann zurückkehrten, fanden sie ihre Häuser ausgeplündert vor, und die
Tiere im Stall waren nicht gefüttert und gemolken. Diese Art Vorfälle
wiederholte sich.
Weihnachten 1945 trafen in Rabishau Flüchtlingsgespanne ein, die sich
um die Schule herum aufstellten. Diese Flüchtlinge kamen aus
Oberschlesien und wollten über die Tschechoslowakei nach Bayern
ziehen, um nicht in einer russisch besetzten Zone anzukommen.
Nachdem Niederschlesien unter polnische Verwaltung kam, wurden die
Deutschen ausgewiesen. Am 16. Juni 1946 war auf einem Anschlag an
einer Linde zu lesen, dass die deutsche Bevölkerung am 16. Juli das
polnisch verwaltete Gebiet verlassen müsste und nach Westdeutschland
umgesiedelt werden sollte. Für die Vorbereitung des Abtransportes
standen also nur vier Wochen Zeit zur Verfügung. Sammelstellen wurden
bestimmt, an denen sich die für die Ausweisung bestimmten Deutschen
einfinden sollten. Als Sammelstelle für die Orte Birngrütz, Mühldorf,
Heine und Rabishau war die Nervenheilanstalt in Plagwitz bei Löwendorf
bestimmt.
Die Familien durften nur soviel Gepäck mitnehmen, wie sie tragen
konnten, darunter fielen auch Lebensmittel für die Selbstversorgung
während der nächsten Tage und für jede Person Bettzeug, Kopfkissen
und Oberbett. In das Bettzeug konnte man etwas Geld oder andere
wichtige Dinge einnähen in der Hoffnung, auf diese Weise etwas zu
retten. Immer wieder wurde neu geplant und überlegt, was man
mitnehmen sollte. Es wurde immer neu zusammengestellt und sortiert.
Kleidungsstücke wurde mehrfach übereinander gezogen. Schließlich war
der Augenblick gekommen, an dem man sein Haus verlassen musste.
Sicherlich haben alle noch einmal etwas gegessen, aber ob dieses Essen
geschmeckt hat? Dies ist nicht vorstellbar.
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Auf den Bauernhöfen, so erzählt Herr Kittelmann, hat man noch ein
letztes Mal die Tiere gefüttert, getränkt und gemolken, danach hat man
die Ställe aufgemacht und die Tiere laufen gelassen.
834 Heimatvertriebene sammelten sich in Plagwitz. Bei Ankunft mussten
alle eine Reihe von Tischen passieren, auf denen ihr Gepäck gefilzt
wurde. Willkürlich entnahmen Polen, die das Gepäck kontrollierten, alles,
was sie gebrauchen konnten.
Handwagen, auf denen die Deutschen Gepäck mitführen wollten, wurden
weggenommen. Nur ein Handwagen gelangte in dem ganzen Transport
mit in den Westen.
Die Deutschen (ab sechs Jahren) erhielten weiße Armbinden, mit denen
sie als solche gekennzeichnet wurden.
Die Wartezeit an der Sammelstelle betrug zwei Tage.
Der Abtransport erfolgt mit der Reichsbahn in leeren Viehwaggons. Mit
zugeteilten Zetteln wurden die Menschen auf die Viehwaggons verteilt.
Familien bemühten sich zusammen zu bleiben, doch gelang dies nicht
immer. Vielen Frauen fehlten auch die Männer, die ja als Soldaten
entweder an der Front oder gefangen oder gefallen waren.
Alte Menschen mussten in die Waggons gehoben werden.
Während der Bahnfahrt gab es nur wenige Stopps auf offener Strecke,
damit die Menschen ihre Notdurft verrichten konnten. Herr Kittelmann
erzählt, dass alte Menschen häufig nicht aßen und tranken, um
unterwegs vor dieser „Notlage“ verschont zu bleiben.
In den Waggons saß man auf seinem Gepäck.
Erster Halt des Transportes war Marienborn bei Helmstedt. Dort wurde
von
amerikanischen
Besatzungssoldaten
eine
Vorregistrierung
vorgenommen. Die Kinder erhielten etwas Milch, sonst gab es Brot und
warmen Tee.
Als Zielbahnhof war Holzminden bestimmt.
Insgesamt war der Transport eine Woche unterwegs, erinnert sich Herr
Kittelmann.
Nach der Ankunft in Holzminden wurden die Schlesier mit Tiergespannen
der Fuhrunternehmer Balke und Kreykenbohm am Bahnhof abgeholt.
Die Vertriebenen aus Rabishau, dessen Bevölkerung unter Graf
Schaffgott evangelisch reformiert worden war, sollten Holzminden
zugeteilt werden, die katholischen Schlesier aus Ottendorf und Birngrütz
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wurden nach Bevern gebracht. Damit ergab sich auch eine Verteilung
der Schlesier nach ihrer Konfession.
Auf Gespannfahrzeugen wurden die Rabishauer zunächst zur Stadthalle
gebracht, ihrer ersten Unterkunft in Holzminden. Dort gab es erst einmal
eine warme Mahlzeit.
In Holzminden war der Oberschlesier Paul Kretzschmer Stadtdirektor
geworden. Er sprach gut englisch und konnte sich direkt mit dem
englischen Kommandanten verständigen. So konnte Kretschmer sehr
schnell organisieren und mit Hilfe der Rabishauer die Versorgung der
ersten Tage sicherstellen.
In den ersten beiden Wochen gab es weiterhin täglich eine warme
Mahlzeit in der Stadthalle.
Herr Kittelmann schildert die Verteilung der Vertriebenen auf die
Wohnhäuser:
Die Flüchtlinge wurden wieder mit Gespannen abgeholt. Nun ging es in
den Straßen von Haus zu Haus in Begleitung der energischen RoteKreuz-Schwester Frau Schaper (die Ehefrau von Dr. Schaper). In die
Häuser der Einwohner wurden Flüchtlinge eingewiesen. Dafür mussten
Zimmer abgetreten werden. Auch mussten Möbel und etwas Hausrat
beschafft werden. Die den Flüchtlingen zugewiesenen Unterkünfte
hatten oft keine eigene Küche. Manchmal waren anfangs keine Betten
vorhanden, so dass auf dem bloßen Fußboden geschlafen werden
musste.
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