Predigt: Mt 25, 31-46 Vom Weltgericht von W.Tiedeck, 15.11.2015 Liebe Gemeinde, zwei Männer sitzen im Zug. Fragt der eine den anderen: „Na, wohin fahren Sie denn?“ Worauf der Befragte erwidert: „Das weiß ich nicht. Hauptsache, ich fahre, es geht mir gut (ich bin gesund) und ich habe einen bequemen Sitz.“ Viele Menschen verhalten sich so in Bezug auf ihre Lebensreise. Wohin geht die eigentlich? Am Ende des Kirchenjahres ist die Zeit des Innehaltens, in der die Predigttexte sich mit dem beschäftigen, was noch auf uns zu kommt. Jesus schließt am Ende seiner Wirkungszeit mit einer Rede an die Jünger über die Zukunft der Welt. Er sitzt am Hang des Ölbergs, seine Jünger haben sich um ihn geschart. Wenig später wird er von Judas verraten und seine Leidenszeit beginnt. Jesus spricht über die Zukunft des Tempels, über Kriege, die Verkündigung der Botschaft vom Reich Gottes allen Völkern, von falschen Propheten, die sagen, wo Christus zu finden sei. Er mahnt die Jünger sich vorzubereiten, zu wachen und bereit zu sein für die Wiederkunft des Herrn. Er schließt seine Rede an die Jünger mit den folgenden Worten, Mt 25,31-46: 31 Doch wenn der Menschensohn in Herrlichkeit wiederkommt, und alle Engel mit ihm, wird er auf seinem Thron der Herrlichkeit sitzen. 32 Alle Völker werden vor ihm zusammengerufen, und er wird sie trennen, so wie ein Hirte die Schafe von den Ziegen trennt. 33 Die Schafe wird er zu seiner Rechten hinstellen, die Ziegen zu seiner Linken. 34 Dann wird der König zu denen auf seiner rechten Seite sagen: `Kommt, ihr seid von meinem Vater gesegnet, ihr sollt das Reich Gottes erben, das seit der Erschaffung der Welt auf euch wartet. 35 Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich war durstig, und ihr gabt mir zu trinken. Ich war ein Fremder, und ihr habt mich in euer Haus eingeladen. 36 Ich war nackt, und ihr habt mich gekleidet. Ich war krank, und ihr habt mich gepflegt. Ich war im Gefängnis, und ihr habt mich besucht.´ 37 Dann werden diese Gerechten fragen: `Herr, wann haben wir dich jemals hungrig gesehen und dir zu essen gegeben? Wann sahen wir dich durstig und haben dir zu trinken gegeben? 38 Wann warst du ein Fremder und wir haben dir Gastfreundschaft erwiesen? Oder wann warst du nackt und wir haben dich gekleidet? 39 Wann haben wir dich je krank oder im Gefängnis gesehen und haben dich besucht? 40 Und der König wird ihnen entgegnen: `Ich versichere euch: Was ihr für einen der Geringsten meiner Brüder und Schwestern getan habt, das habt ihr für mich getan!´ 41 Und dann wird sich der König denen auf seiner linken Seite zuwenden und sagen: `Fort mit euch, ihr Verfluchten, ins ewige Feuer, das für den Teufel und seine bösen Geister bestimmt ist! 42 Denn ich war hungrig, und ihr habt mir nichts zu essen gegeben. Ich war durstig, und ihr gabt mir nichts zu trinken. Ich war ein Fremder, und ihr habt mich nicht in euer Haus eingeladen. 43 Ich war nackt, und ihr habt mich nicht gekleidet. Ich war krank, und ihr habt mich nicht gepflegt. Ich war im Gefängnis, und ihr habt mich nicht besucht.´ 44 Dann werden sie fragen: `Herr, wann haben wir dich jemals hungrig oder durstig oder als Fremden, nackt, krank oder im Gefängnis gesehen und dir nicht geholfen?´ 45 Und er wird ihnen erwidern: `Ich versichere euch: Was ihr bei einem der Geringsten meiner Brüder und Schwestern unterlassen habt, das habt ihr an mir unterlassen!´ 46 Und sie werden der ewigen Verdammnis übergeben werden, den Gerechten aber wird das ewige Leben geschenkt.« (Neues Leben) Dort, vor seinem Thron, endet die Lebensreise eines jeden von uns. Die Wiederkunft von Jesus, wenn er als der Herrscher erscheinen wird, der auf dem Thron sitzt und Richter sein wird, kann Beklemmung oder Angst auslösen. Wie wird es mir dann ergehen? Werde ich angenommen werden oder verstoßen werden? Im Hebräerbrief heißt es (9,27f): 27 Und genauso, wie es bestimmt ist, dass jeder Mensch nur einmal stirbt, worauf das Gericht folgt, 28 genauso starb auch Christus nur einmal als Opfer, um die Sünden vieler Menschen wegzunehmen. Er wird wiederkommen, aber nicht noch einmal wegen unserer Schuld, sondern er wird all denen Rettung bringen, die sehnsüchtig auf seine Rückkehr warten. Wir brauchen keine Angst zu haben vor der Wiederkunft Jesu. Jesus sagt uns zu: Joh. 5,24 Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen. Wir dürfen uns freuen! Also kein Gericht für Jesus-Nachfolger? Nicht, wenn es um die Frage des ewigen Lebens geht. Doch Paulus schreibt, dass auch die Christen vor Gottes Thron erscheinen müssen, um Rechenschaft abzulegen. 2 Kor 5,10 …wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi, damit jeder seinen Lohn empfange für das, was er getan hat bei Lebzeiten, es sei gut oder böse. (auch Röm. 14,10) Es geht darum, den Lohn für die Nachfolge Jesu zu erhalten. Doch unsere Schuld wird ebenfalls zur Sprache kommen, damit auch denen Gerechtigkeit widerfährt, an denen wir schuldig geworden sind. Der Glaube allein rettet, aber es ein Glaube, der in der Liebe tätig wird und gute Werke hervorbringt. Wie können wir dann den heutigen Predigttext verstehen? Er ist für die Ausleger einer der schwierigsten Texte im Mt-Evangelium. Jesus beginnt mit einem bildhaften Vergleich: Ziegen waren kälteempfindlicher. Schafe konnten im Pferch unter freiem Himmel untergebracht werden. Deshalb wurden sie abends voneinander getrennt. Wer sind die Notleidenden, denen die grundlegendsten Dinge des Lebens fehlen? Von wem redet Jesus, wenn er sagt: Ich versichere euch: Was ihr für einen der Geringsten meiner Brüder und Schwestern getan habt, das habt ihr für mich getan!´ Drei bedeutende Auslegungstraditionen (vgl. Ulrich Luz, Matthäus-Kommentar): - die universale - die klassische - die exklusive Die universale Auslegung Sie hört man heute am häufigsten. Das entscheidende Kriterium im Gericht wird die Frage nach den Werken der Barmherzigkeit sein, die man den Armen und Leidenden dieser Welt, sowohl Christen wie Nicht-Christen, hat zukommen lassen. Die Nationen umfassen alle Menschen. Der Text wird als eine unübertreffliche Zusammenfassung des Evangeliums und dessen, was wir tun sollen, verstanden. Der Text wird gesehen als ein Beispiel für ein undogmatisches, praktisches Christentum. Er konzentriert sich auf Nächstenliebe und nicht auf Glaubensätze und Bekenntnisse. Er ist ein Schlüsseltext für die Befreiungstheologie. Man kann Gott nur lieben, wenn man die Armen liebt und auf ihrer Seite steht. Diese Auslegung ist keine alte Auslegung. Erst Anfang des 19. Jahrhunderts, nach der Aufklärung und mit Beginn der liberalen Theologie kam sie auf. Es gibt hier auch keine wirkliche ewige Verlorenheit. Wenn Jesus die Armen auch ohne jeden Bezug auf den Glauben an ihn als seine Brüder bezeichnet und sich mit ihnen identifiziert, dann sind sie ja angenommen und können nicht mehr verloren gehen. Die klassische Auslegung Bis ca. 1800 sah die verbreitetste Interpretation in den „geringsten Brüdern“ die Mitglieder der christlichen Gemeinschaft, der Kirche. Durch die Säuglingstaufe gehörte praktisch jeder in Europa dazu. Das, was im Gericht zählt, sind die Werke der Barmherzigkeit, die man den in Not geratenen Mit-Christen getan hat. Der Text hat einen ermahnenden Charakter. In der Reformationszeit hat man sich manchmal schwer getan, die Errettung durch den Glauben und das Urteil über uns auf Grund der Werke zusammen zu bringen. Am anschaulichsten wird diese Auslegung in der Legende von St. Martin. Der junge Offizier Martin von Tours begegnet am Stadttor von Amiens an einem bitterkalten Wintertag (um 334) einem nur leicht bekleideten Bettler. Er teilt seinen Armeemantel und gibt ihm eine Hälfte. „In der Nacht, die auf die Mantelteilung folgte, erschien Martin im Traum Jesus Christus, bekleidet mit Martins halbem Militärmantel. Zu den ihn umgebenden Engeln sprach Christus: ‚Martinus, der noch nicht getauft ist, hat mich mit diesem Mantel bekleidet!‘” Eine deutliche Anspielung auf Mt 25. (Weiteres auf http://www.heiliger-martin.de/geschichte/mantelteilung.html) Die exklusive Auslegung Sie ist eine Fortentwicklung und Präzisierung der klassischen Auslegung und wird von allen evangelikalen Auslegern weltweit, die ich gefunden habe, vertreten. Ihre ersten Vertreter finden sich ebenfalls im 19. Jh. Diese Auslegung wird vehement abgelehnt von liberalen Theologen. Alle Völker oder Nationen werden zusammengerufen und aufgeteilt. Wer sind diese? Mt 24, der Anfang der Rede Jesu macht deutlich, wer mit „Völkern“/“Nationen“ gemeint ist: Mt 24,9 Dann werden sie euch der Bedrängnis preisgeben und euch töten. Und ihr werdet gehasst werden um meines Namens willen von allen Völkern. 14 Und es wird gepredigt werden dies Evangelium vom Reich in der ganzen Welt zum Zeugnis für alle Völker, und dann wird das Ende kommen. Jesus spricht hier also von Nicht-Christen. Wer sind die „geringsten Brüder und Schwestern“? Mt 10, 40-42 Wer euch aufnimmt, der nimmt mich auf; und wer mich aufnimmt, der nimmt den auf, der mich gesandt hat. 41 Wer einen Propheten aufnimmt, weil es ein Prophet ist, der wird den Lohn eines Propheten empfangen. Wer einen Gerechten aufnimmt, weil es ein Gerechter ist, der wird den Lohn eines Gerechten empfangen. 42 Und wer einem dieser Geringen auch nur einen Becher kalten Wassers zu trinken gibt, weil es ein Jünger ist, wahrlich, ich sage euch: Es wird ihm nicht unbelohnt bleiben. Mt 12, 50 Denn wer den Willen tut meines Vaters im Himmel, der ist mir Bruder und Schwester und Mutter. Im Matthäus-Evangelium werden die Nachfolger Jesu als die „geringsten Brüder“ bezeichnet. Das Erstaunen der Helfenden und der Nichthelfenden im Gericht. Dies setzt das Nicht-kennen dieser Rede Jesu voraus. Wer heute diese Geschichte hört, wird im Gericht nicht mehr sagen können, er habe nicht gewusst, dass Jesus in den Notleidenden gegenwärtig ist. Diese Punkt deutet ebenfalls darauf hin, dass es sich um Nicht-Christen handelt, die sich vor dem Richter verantworten müssen. Das Schicksal der Menschen aus den Völkern/Nationen entscheidet sich an ihrer Haltung zu Christus, ob sie ihn aufgenommen haben oder nicht. Auch in der verborgenen Gestalt der Nachfolger. Rettung ohne Glauben an Jesus? Unser Text ist eine Ergänzung zu den ansonsten eindeutigen Aussagen des NT, dass nur der Glaube an Jesus rettet. Wir müssen es ein Stück weit offen lassen, wie Gott die Menschen beurteilen wird, die nach Maßgabe ihrer Erkenntnis und Herzenseinstellung mit Barmherzigkeit in ihrem Leben gehandelt haben, und dabei Christus gedient haben. Die Rede von Jesus beginnt in Kap. 24 mit dem Chaos, das in der Welt am Ende der Zeit herrschen wird, und mit der Verfolgung der Nachfolger Jesu. Seine Rede schließt in diesem Textabschnitt mit einem Trostwort für die Jünger. Er identifiziert sich mit ihnen und ihrem Leiden. Dieses Wort von Jesus sagt indirekt, dass die Verkündigung der Guten Nachricht unter allen Völkern Leiden mit sich bringt, und Aufgabe eines gesicherten, komfortablen Lebens. Heute werden die westlichen Missionare mehr und mehr zu einer Minderheit in der weltweiten Christenheit. Der Großteil der missionarischen Arbeit wird von einheimischen Brüdern und Schwestern wahrgenommen, in Indien, in China, in Nigeria, in Brasilien. Sie missionieren im eigenen Land unter den vom Evangeliums unerreichten Volksgruppen und senden Missionare aus in die Nachbarländern. Oft unter großen Entbehrungen und Anfeindungen und Verfolgung. Dies führt zu einer Frage an uns: Nehmen wir Anteil an den Leiden unserer Geschwister? Reichen wir ihnen die Hand und unterstützen sie? Kümmern wir uns um die, die als Flüchtlinge zu uns kommen? Gal. 6, 10 Lasst uns jede Gelegenheit nutzen, allen Menschen Gutes zu tun, besonders aber unseren Brüdern und Schwestern im Glauben. Wenn Jesus im Gericht diejenigen verurteilt, die nicht am Schicksal seiner Brüder und Schwestern Anteil genommen haben, wie wird er dann über die denken, die sich selber in der Nachfolge Jesu sehen, aber die leidenden Mitbrüder und Mitschwestern vergessen? Thomas Schirrmacher, ein führender evangelikaler Theologe sagte vor kurzem in einer Predigt: Es gibt nur zwei Arten von Christen im NT: Leidende und Mit-Leidende. Eine dritte Art, der es gut geht und die nur für sich selbst lebt, aber die Geschwister vergisst, gibt es nicht im NT. Unser Herr helfe uns, ihn in seinen verfolgten und bedrängten Nachfolgern zu sehen und ihnen beizustehen. Amen.
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