Europa driftet auseinander: Ist der Süden der neue

Europa driftet auseinander:
Ist der Süden der neue Osten?
Vortrag und Paneldiskussion
Dienstag, 15. September 2015
Karl-Renner-Institut, Wien
Vortrag
PHILIPP THER
Vorstand des Instituts für Osteuropäische Geschichte an der Universität Wien; Autor des
Buches „Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa“
Information:
Dr. Gerhard Marchl
Karl-Renner-Institut, European Politics
[email protected]
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Ich wundere mich manchmal darüber, dass das Auseinanderdriften von Nord- und Südeuropa
in Wien nicht stärker diskutiert wird, denn Österreich liegt geographisch und in seiner
finanziellen und wirtschaftlichen Verfassung zwischen dem Norden und dem Süden Europas.
Zugleich hat kein anderes westliches Land so stark von der Öffnung des Eisernen Vorhangs
profitiert. Österreich würde daher besonders darunter leiden, wenn die EU weiter
auseinanderwächst.
Darum geht es in meinem Vortrag heute Abend: Warum haben sich Nord und Süd in
den letzten Jahren so stark auseinanderentwickelt? Kann man den Süden überhaupt in einen
Topf werfen und warum geschieht das so häufig? Inwieweit haben der Süden und vor allem
das Schlüsselland Italien die Krise von 2008/09 überwunden? Wieso werden von der EU und
vor allem von der Regierung Merkel wirtschaftspolitische Rezepte empfohlen, die in mancher
Hinsicht den Schocktherapien in Osteuropa nach 1989 ähneln? Inwieweit können neoliberale
Ansätze wirken, und wenn nicht, wird der Süden insgesamt zu einem neuen Osten?
Bevor ich auf die längerfristigen ökonomischen Verwerfungen zu sprechen komme,
möchte ich kurz auf die hier verwendeten Raumbegriffe eingehen. Die Regierungen und Eliten
Europas haben den Kontinent seit jeher in verschiedene Großregionen unterteilt. Seit dem
Wiener Kongress ist vor allem die Unterscheidung zwischen West und Ost üblich. Dabei wurde
der Osten, der in der Wahrnehmung der meisten Zeitgenossen hinter Wien begann, mit einer
Reihe von Stereotypen befrachtet. Der Osten war gleichbedeutend mit Rückständigkeit,
Armut, Autokratie, vor allem in Gestalt des russischen Zaren, später auch Nationalismus. Der
Kalte Krieg bestätigte diese alten Vorstellungen und Bilder, allerdings kam die
Systemkonkurrenz zwischen Ost und West hinzu. Die Herausforderung durch den
Kommunismus veränderte auch den Westen Europas und insbesondere die Frontstaaten des
Kalten Krieges. Gerade wegen der Systemkonkurrenz wurden die Sozialsysteme massiv
ausgebaut und soziale Spannungen soweit möglich verringert. Dies ermöglichte den
Unterschichten einen sozialen Aufstieg, das klassische Arbeitermilieu löste sich weitgehend
auf.
Diese Tendenz zur Konvergenz gab es auch auf internationaler Ebene. Der Wohlstand
in den südlichen EG-Staaten nahm in der Nachkriegszeit kontinuierlich zu. Daher schwächten
sich die Vorurteile gegenüber den Südeuropäern ab, die es nördlich der Alpen in den 60er
Jahren durchaus noch gab. Insgesamt sind die Stereotype gegenüber dem Süden und dem
Osten vergleichbar, beide Teile Europas galten als rückständig, arm, manchmal auch faul und
korrupt. Die Krise von 2008/09 hat diese Konvergenz gestoppt und einen neuen Graben
zwischen Nord und Süd aufgeworfen. Damit meine ich jetzt nicht Griechenland, das in vieler
Hinsicht ein Sonderfall ist, sondern das uns benachbarte Italien.
Krisenvergleich
Nun aber zur Krise selbst. Man muss dabei zwischen einer Finanz-, Budget- und
Wirtschaftskrise unterscheiden. Osteuropa war vor allem von der Finanzkrise betroffen, 2008
versiegten nach dem Crash an der Wall Street die Kapitalströme in die Reformstaaten.
Dadurch kam es zu einem massiven wirtschaftlichen Einbruch, in einigen Staaten sank das
Bruttoinlandsprodukt um mehr als 15 Prozent. Lettland, die Ukraine, Rumänien und Ungarn
mussten vom IWF vor dem wirtschaftlichen Zusammenbruch gerettet werden. Der Preis für
die Rettungsprogramme waren weitere soziale Einschnitte bzw. eine Radikalisierung der
neoliberalen Wirtschafts- und Sozialpolitik. Doch ab 2010/11 wuchs die Wirtschaft wieder, was
auch an statistischen Effekten beziehungsweise dem tiefen Einbruch von 2008/09 liegt.
Die südlichen EU-Staaten wurden von der Krise erst mit Verzögerung getroffen. Dort
war die staatliche Budgetkrise das größte Problem, niemand wollte diesen Ländern noch Geld
zu niedrigen Zinsen leihen, um ihre krisenbedingt stark steigenden Haushaltsdefizite
abzudecken. Hinzu kam ein Spekulationseffekt: Eben weil die Zahlungsfähigkeit der südlichen
Länder plötzlich in Frage stand, mussten sie immer höhere Zinsen für Staatsanleihen
bezahlen. Man hätte das durch die Ausgabe von Euro-Bonds verhindern können, aber die
wurden bekanntlich auch wegen des Widerstands aus Wien nicht eingeführt. Zum Höhepunkt
der ersten Euro-Krise im Herbst 2011 betrug der Zinsabstand zwischen deutschen und
italienischen Staatsanleihen über fünf Prozent. Italien versuchte seit 2010, das Vertrauen in
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seine Staatsfinanzen durch immer neue Sparpakete wiederherzustellen. Sogar an den
Schulen und Universitäten wurde massiv eingespart. Aber die Austeritätspolitik erzeugte eine
Negativspirale. Wegen mangelnder Nachfrage und weil der Staat seine Rechnungen bei
Firmen nicht mehr bezahlte (die Außenstände betrugen zeitweise über 100 Milliarden Euro),
verstärkte sich die Rezession, dementsprechend sanken die Steuereinnahmen. Italien
rutschte daher nach kurzer wirtschaftlicher Erholung im Jahr 2010 in eine erneute und
dauerhafte Rezession. Anbei sehen Sie auf meinem ersten Schaubild den Verlauf der Krise
seit 2008/09.
Erst in jüngster Zeit ist die italienische Wirtschaft wieder ein bisschen angesprungen. Joseph
Schumpeter hat in die Kapitalismusforschung (wenngleich zu Unternehmen und nicht zu
Staaten) die These der produktiven Krisen eingebracht. Auf Italien und Europa trifft das nicht
zu, denn die Ursache der ersten Eurokrise, die hohe Staatsverschuldung, ist nicht gesunken,
sondern gestiegen. Vor der Krise betrug sie etwas über 100 Prozent im Verhältnis zum BIP,
heute 133 Prozent. Das italienische BIP ist etwa auf den Stand der späten neunziger Jahre
zurückgegangen, die Industrieproduktion sank um mehr als 25 Prozent. La crisi – wie man auf
Italienisch sagt – ist also keineswegs vorbei, alle wichtigen Wirtschaftsdaten Italiens haben
sich seit 2009 verschlechtert.
Um das Ausmaß der Krise zu verstehen, habe ich als Historiker einen diachronen
Vergleich unternommen und die Wirtschaftskrise nach dem Zusammenbruch des
Kommunismus mit der Krise Italiens seit 2008 verglichen. Hier das Schaubild dazu:
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Man kann hier sehen, dass die Krise Italiens in mancher Hinsicht bereits länger dauert und
insgesamt tiefer ist als jene der postkommunistischen Länder nach 1989. Ich erwähne das,
weil man daraus zwei Schlussfolgerungen ableiten kann: 1) Die Eurozone ist immer fragiler
als man denkt, Italien als ein Schlüsselstaat der EU noch lange nicht über den Berg. 2) Der
Weg aus der Krise war offensichtlich nicht erfolgreich. Ich komme später noch auf die Frage
zurück, ob es Alternativen gegeben hätte.
Die Wahrnehmung von außen
Reale Unterschiede wurden in der modernen europäischen Geschichte schon oft überzeichnet
wahrgenommen. Meistens dauert es auch eine Weile, ehe historisch tradierte Stereotypen als
nicht mehr aktuell oder unpassend wahrgenommen werden. Ein Beispiel dafür ist der Begriff
„polnische Wirtschaft“, der einst von Preußen benutzt wurde, um die eigene imperiale
Herrschaft über die angeblich rückständigen Polen zu legitimieren, wobei die österreichischen
Aufklärer in Galizien ähnlich dachten. Polnische Wirtschaft stand für Rückständigkeit, Armut,
Faulheit und Chaos. Das hat sich nach 1989 grundlegend geändert. 1992 begann der
Aufschwung Polens, nach 23 Jahren ununterbrochenen Wirtschaftswachstum, oft mit EUSpitzenwerten, hat „polnische Wirtschaft“ eine ganz andere Bedeutung gewonnen. Dagegen
sind die südlichen EU-Staaten und Italien bezüglich der Stereotype fast dort angekommen, wo
sie in den 60er Jahren starteten.
Die zunehmende Missachtung und das „In-einen-Topf-Werfen“ symbolisiert vor allem
der Begriff „PIIGS“, der ebenfalls während der ersten Eurokrise aufkam. Das Kürzel stand für
Portugal, Italien, ursprünglich auch Irland, Griechenland und Spanien. Man hätte das auch
anders abkürzen können, aber offenbar war die Anspielung auf die Tierwelt gewollt. Die
Staatengruppe PIGS (bald ohne Irland) fasst den „Süden“ als einen Großraum zusammen wie
einst den Ostblock. Das ist zwar irreführend, weil zum Beispiel Spanien 2010 unter ganz
anderen Problemen litt als Italien – dort waren eine Immobilienblase und die private
Verschuldung das Problem, nicht das staatliche Defizit. Griechenland ist wie erwähnt in
mehrfacher Hinsicht ein Sonderfall. Aber trotzdem wurden all diese Länder in einen Topf
geworfen, der Süden wurde zu einer wirtschaftspolitischen Metapher.
Dabei gibt es auch innerhalb Italiens riesige Unterschiede, die Sie ja wahrscheinlich
kennen – der wohlhabende Norden steht dem armen Süden gegenüber. Diese regionalen
Unterschiede haben sich seit der Krise wesentlich verstärkt, der Mezzogiorno hat proportional
noch weit mehr Industrie und Arbeitsplätze eingebüßt als die Lombardei oder das Veneto.
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2013 erwirtschaftete der Süden Italiens ein geringeres kaufkraftbereinigtes BIP pro Kopf als
Polen. So gesehen ist der Süden also tatsächlich der neue Osten.
Für junge Italiener gilt das erst recht. In unseren Medien werden häufig die
erschreckenden Statistiken zur Jugendarbeitslosigkeit zitiert, die immer noch bei über 40
Prozent liegt. Aber auch jene jungen Italiener, die noch eine Stelle haben, leiden unter dem
wirtschaftlichen Niedergang. Italiener unter 35 Jahren haben im Jahr 2013 ein
durchschnittliches steuerpflichtiges Einkommen in Höhe von 540 Euro im Monat erreicht. 1
Selbst wenn man die Arbeitslosen aus dieser Statistik herausrechnet, ist das in etwa so viel
wie in Deutschland Hartz IV plus Wohnungszulage bzw. wie in Österreich die Grundsicherung
mit Zulagen. Die miserablen Anfangsgehälter haben zur Folge, dass sich junge Italiener keine
eigene Wohnung leisten können und mehrheitlich bei den Eltern wohnen. Auch der Zugang
zum Arbeitsmarkt läuft sehr häufig über die Familie. Beides verstärkt die schon länger
feststellbare Re-Patriarchalisierung der Gesellschaft. 2 Auch die Sozialleistungen für junge
Familien sind mager oder nicht-existent, Hort- und Kindergartenplätze rar und teuer – nicht
zuletzt wegen der Austeritätspolitik.
Der Neoliberalismus beschädigt damit die gesellschaftlichen und ökonomischen
Ressourcen, auf denen er eigentlich beruht. Noch beunruhigender ist die Tendenz, die Schuld
an der Krise der EU oder Angela Merkel umzuhängen. Da ist zwar etwas dran, weil die
einfallslose Sparpolitik in der Tat von Berlin empfohlen wird, aber die Schuldzuweisungen
gefährden den Zusammenhalt Europas. Die Parteien, die gegen Brüssel wettern und gegen
den Euro sind, haben in Umfragen seit einiger Zeit eine deutliche Mehrheit. Es gibt also die
handfeste Gefahr nicht nur einer ökonomischen, sondern auch einer politischen Sackgasse.
Der Transfer neoliberaler Ideen vom Osten in den Süden
Der wachsende Wohlstand der meisten neuen EU-Mitgliedsstaaten und der wirtschaftliche
Niedergang im Süden haben zu einer Art Rollentausch geführt: Jetzt werden von den
mediterranen Ländern jene wirtschaftlichen und kulturellen Anpassungsleistungen erwartet,
die man in den neunziger Jahren von den EU-Beitrittskandidaten verlangte. Sie sollen
rationaler wirtschaften, den Gürtel enger schnallen, wie es oft heißt, und sich im Grunde an
eine protestantische Ethik anpassen. Auch die wirtschaftspolitische Standardrezeptur ist
erstaunlich ähnlich. Wie in der postkommunistischen Welt ist der Ausgangspunkt stets die
Austeritätspolitik, gefolgt von einer Triade aus Privatisierung, Liberalisierung und
Deregulierung. Oft werden die Reformen in Osteuropa sogar als Vorbild angepriesen.
Ein Beispiel für diesen Positionswechsel zwischen dem Osten und dem Süden ist die
internationale Rezeption des lettischen Programms zur Bewältigung der Krise von 2009. Statt
die damalige nationale Währung Lats abzuwerten, verhielt sich die lettische Regierung so, als
hätte sie den Euro bereits eingeführt. Der Kurs der Währung blieb fast unverändert,
stattdessen vollzog man eine „innere Abwertung“. Die Gehälter der Staatsbediensteten
wurden im Schnitt um 25 Prozent gekürzt, die Renten und die ohnehin geringen
Sozialleistungen zusammengestrichen, Schulen geschlossen und der Service der
Krankenhäuser auf lebenserhaltende Operationen reduziert. Dieses präzedenzlose
Sparprogramm verschärfte die Rezession und trieb innerhalb von zwei, drei Jahren an die
zehn Prozent der Bevölkerung in die Emigration. In Litauen und Rumänien, das ebenfalls vom
IWF mit Notkrediten „gerettet“ wurde, war die Auswanderung ähnlich hoch, Rumänien
verzeichnete einen Bevölkerungsverlust von 2,4 Millionen Menschen.
Doch ab 2010/11 wuchs das Bruttoinlandsprodukt wieder, nicht zuletzt wegen des
drastisch reduzierten Ausgangsniveaus. Anfang 2013 reiste die IWF-Präsidentin Christine
Lagarde zu einem Staatsbesuch nach Riga und sagte dort stolz: „Wir sind hier, um Ihre
Errungenschaften zu feiern.“ Anschließend lobte sie die eigene Organisation, der IWF sei
stolz, mit seinem Rettungspaket zur lettischen „success story“ beigetragen zu haben. Ende
1
Vgl. dazu die Berechnungen der Agentur Datagiovani: »Sempre meno giovani contribuenti in Italia«,
online verfügbar unter: {http://www.datagiovani.it/newsite/wp-content/uploads/2012/05/ComunicatoDichiarazioni-dei-redditi-2011-dei-giovani.pdf} (Stand Mai 2014).
2 Ginsborg
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2008 hatte der Währungsfonds Hilfen im Umfang von 7,5 Milliarden Dollar bewilligt – für ein
so kleines Land eine riesige Summe. Die lettische „Erfolgsgeschichte“ wurde über die Medien
und Expertenberichte in die Welt getragen, die New York Times schrieb darüber, das deutsche
Handelsblatt adaptierte einen Leitspruch aus der DDR: „Von Lettland lernen, heißt siegen
lernen“. 3
Die krisenbedingte, in ihrem Umfang und Tempo präzedenzlose Auswanderung, die
auch den vermeintlichen Musterknaben Irland hart trifft, wurde in diesen Artikeln mit keinem
Wort erwähnt. Damit haben Rumänien und die baltischen Staaten ihre sozialen Probleme
gewissermaßen exportiert. Würden sich nach Anwendung ähnlicher Sparmaßnahmen
vergleichbar viele Italiener auf den Weg machen, wären wir jetzt mit ungefähr 5 Millionen
italienischen Arbeitsmigranten konfrontiert. Diese Berechnung ist selbstverständlich
hypothetisch, sie soll nur zeigen, dass man vorsichtig sein sollte, eine ökonomische Rezeptur
oder gar eine „Rosskur“ von einem Land auf ein anderes zu übertragen.
Auch Griechenland musste sich nach langem Widerstand gewissermaßen
postkommunistischen Reformen unterziehen. Neben Rentenkürzungen, Stellenstreichungen
und Arbeitsmarktreformen gehört dazu die Gründung einer „griechischen Treuhand“ zur
Privatisierung der Staatsbetriebe. Diese Idee stammt aus Berlin, wo man offenbar vergessen
hat, dass die ostdeutsche Treuhand bis 1994 Privatisierungsverluste von 270 Milliarden DMark einfuhr statt der erwarteten 600 Milliarden Gewinne. Der Grund war ein unterschätzter
Marktmechanismus: Wenn man einen Großteil einer Volkswirtschaft auf den Markt wirft, sinkt
logischerweise der Preis für die zu privatisierenden Unternehmen.
Aber die Übertragung ökonomischer Standardrezepturen gehört seit jeher zu den
Kennzeichen der neoliberalen Ordnung. In Polen und Russland waren Anfang der 90er Jahre
die gleichen amerikanischen Berater tätig, bekanntlich führte das zu denkbar
unterschiedlichen Resultaten. Auch die deutschen Sozial- und Arbeitsmarktreformen oder die
schwarz-blauen Privatisierungen nach der Jahrtausendwende wurden jeweils mit Verweis auf
externe Vorbilder durchgesetzt.
In diesem Internationalismus, eigentlich eine Tradition der Linken, liegt eine der
Stärken des Neoliberalismus. Argumente und Maßnahmen für mehr Sozialstaatlichkeit
verharren dagegen fast immer in einem nationalstaatlichen Bezugsrahmen, ob nun die
Mütterrente in Deutschland oder die Gratiszahnspange in Österreich. Auch der
Keynesianismus, mit dem Österreich und die Bundesrepublik auf die Krise von 2008/09
reagierten, wurde international nicht wirklich propagiert.
Damit wäre ich abschließend bei den drei Wegen aus der Wirtschaftskrise
angekommen, die in Europa nach 2009 begangen wurden. Nicht nur Österreich und
Deutschland, auch Polen und die Slowakei setzten auf eine antizyklische Gegensteuerung.
Anstatt eines Sparprogramms wurden die Staatsausgaben stabilisiert oder gesteigert. Diese
Gruppe an Ländern konnten einen wirtschaftlichen Absturz vermeiden und die Krise am
schnellsten überwinden, wenngleich durch stark steigende Staatsschulden. Der zweite Typus
waren jene Länder, die ihren vorherigen neoliberalen Kurs noch zuspitzten, das Baltikum,
Rumänien, in mancher Hinsicht Ungarn. Dort stellte sich zwar wieder ein Wirtschaftswachstum
ein, aber um den Preis demographischer Substanzverluste, die man nicht mehr kompensieren
kann. Der dritte Typus waren die südeuropäischen Länder, die zwar einen strikten Sparkurs
verfolgten, neoliberale Reformen aber nur teilweise umsetzten.
Die Ursachen der fortdauernden Krise gehen jedoch über den Neoliberalismus, den
man nicht zum Popanz aufbauen sollte, hinaus. Es ist zum Beispiel weder durch den IWF noch
durch Frau Merkel vorgegeben, dass die Lasten der Krise derartig einseitig auf die junge
3
Vgl. Higgins, Andrew: »Used to hardship, Latvia accepts austerity, and its pain eases«, in: New York
Times (01. Januar 2013), online verfügbar unter:
{http://www.nytimes.com/2013/01/02/world/europe/used-to-hardship-latvia-accepts-austerity-and-itspain-eases.html?_r=0} (Stand Mai 2014); vgl. Neuerer, Dietmar: »Von Lettland lernen, heißt siegen
lernen«, in: Handelsblatt (28. Februar 2012), online verfügbar unter:
{http://www.handelsblatt.com/politik/international/vorbild-fuer-krisenstaaten-von-lettland-lernen-heisstsiegen-lernen/7063756.html} (Stand Mai 2014).
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Generation abgewälzt werden, während – das als Ergänzung – die Beschäftigungsquote unter
den älteren Menschen sogar gestiegen ist. Nach 1989 war es in Osteuropa genau umgekehrt,
dort litten vor allem die Rentner und die älteren Generationen unter den Reformen. Damals
dachte man offenbar zukunftsgewandter. Angesichts der einfallslosen Sparpolitik muss man
sich fragen: Warum gibt es keine oder jedenfalls keine genügenden Investitionsprogramme im
Bereich von Zukunftstechnologien wie der Solarenergie? In Israel zum Beispiel steht auf jedem
Hausdach vorschriftsgemäß ein Warmwasserboiler, warum nicht in Italien oder Griechenland?
Es gibt viele gesellschaftliche und politische Probleme, die wir hier diskutieren können, damit
möchte ich erst einmal schließen.
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