Predigt: Lehre uns, unsere Tage zu zählen, damit wir ein

Gottesdienst am Ewigkeitssonntag, den 22. November 2015
In der Evangelischen Kirche Tägerwilen
Pfarrer Uwe John
Predigt: Lehre uns, unsere Tage zu zählen,
damit wir ein weises Herz gewinnen.
I 1 Herr, ein Hort warst du uns
von Geschlecht zu Geschlecht.
II 2 Noch ehe Berge geboren wurden
und Erde und Erdkreis in Wehen lagen,
bist du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit.
I 3 Du lässt den Menschen zum Staub zurückkehren
und sprichst: Kehrt zurück, ihr Menschen.
II 4 Denn in deinen Augen sind tausend Jahre
wie der gestrige Tag, wenn er vorüber ist,
und wie eine Wache in der Nacht.
I 5 Du raffst sie dahin,
ein Schlaf am Morgen sind sie
und wie das Gras, das vergeht.
II 6 Am Morgen blüht es, doch es vergeht,
am Abend welkt es und verdorrt.
I 7 Denn wir schwinden dahin durch deinen Zorn,
und durch deinen Grimm werden wir hinweggeschreckt.
II 8 Du hast unsere Sünden vor dich gestellt,
unsere verborgene Schuld ins Licht deines Angesichts.
I 9 All unsere Tage gehen dahin unter deinem Zorn,
unsere Jahre beenden wir wie einen Seufzer.
II 10 Unser Leben währt siebzig Jahre,
und wenn es hoch kommt, achtzig Jahre.
Und was an ihnen war, ist Mühsal und Trug.
Denn schnell ist es vorüber, im Flug sind wir dahin.
I 11 Wer erkennt die Gewalt deines Zorns
und deinen Grimm, wie es die Furcht vor dir verlangt?
II 12 Unsere Tage zu zählen, lehre uns,
damit wir ein weises Herz gewinnen.
I 13 Kehre wieder, DU! Wie lange noch!
Habe Mitleid mit deinen Knechten.
II 14 Sättige uns am Morgen mit deiner Gnade,
so werden wir jubeln und uns freuen alle unsere Tage.
I 15 Erfreue uns so viele Tage, wie du uns beugtest,
so viele Jahre, wie wir Unglück schauten.
II 16 Lass deine Knechte dein Walten schauen
und ihre Kinder deine Herrlichkeit.
I 17 Und die Freundlichkeit des Herrn, unseres Gottes, sei über uns,
gib dem Werk unserer Hände Bestand,
ja, gib dem Werk unserer Hände Bestand.
Psalm 90
Liebe Gemeinde!
Wie geht es ihnen mit den Aussagen von Psalm 90, den wir soeben miteinander
gebetet haben?
Das ist ein herber Bibeltext. Es gibt kaum einen anderen Text im Alten Testament, der so grundlegend und unverblümt von der Endlichkeit des menschlichen
Lebens spricht.
1. Die Wahrheit über uns Menschen
„Du lässt den Menschen zum Staub zurückkehren...“. Das ist die erste Aussage,
die dieser Psalm über uns Menschen macht. Du und ich – wir werden wieder zu
Staub. Unser Körper vergeht. Damit knüpft dieser Psalm bei der Schöpfungsgeschichte der Bibel an. Da wird Grundlegendes über unser Menschsein gesagt.
Wir sind „Erdenkinder“. Der Name des ersten Menschen in der Bibel „Adam“,
stammt vom hebräischen Wort für Erde, für Ackerboden „Adamah“. Wir sind
mit der Erde verbunden, wie alle Geschöpfe. Wir benötigen den Acker, der uns
Nahrung gibt und ohne diese Nahrung geht alles was Menschen schaffen und
leisten können zugrunde.
Der neunzigste Psalm „erdet“ uns. Wir sind Teil der Schöpfung, wir entstammen
der Erde und früher oder später kehren wir zum Staub der Erde zurück. Das ist
die Wahrheit.
Unser Leben ist begrenzt – siebzig oder achtzig Jahre sagt der Psalm. Wir haben
die Grenze inzwischen nach oben geschraubt. Es ist keine Seltenheit mehr, wenn
Menschen deutlich über neunzig werden. Und wenn ein siebzigjähriger stirbt,
kommt uns das inzwischen als zu früh vor. Die Medizin und der Wohlstand haben vieles möglich gemacht. Sie haben aber auch eine Kehrseite. Die zehn oder
fünfzehn Jahre mehr, sind teuer erkauft. Es gibt nicht nur die „fitten“ Neunzigjährigen, die sich ihres Lebens und ihrer Gesundheit erfreuen. Es gibt auch diejenigen auf unseren Pflegestationen, die an Demenz erkrankt sind und zunehmend dahin vegetieren. Und es gibt die traurigen Schicksale von Alten, die
kaum mehr besucht werden, weil Kinder und Enkel keine Zeit haben.
Wir müssen zur Erde zurückkehren, zu Staub werden – und niemand und nichts
auf der Welt kann daran etwas ändern! Das tut weh – aber, es kann auch tröstlich sein, dass wir sterben müssen.
2. Der Trost des neunzigsten Psalmes
Die herben Worte des Psalmes zeigen uns unseren Platz gegenüber Gott und in
der Schöpfung.
Tausend Jahre sind vor Gott, wie ein Tag – und unser Leben, wie das Gras, das
aufblüht und bald wieder vergeht.
Gegenüber aller menschlicher Selbstüberschätzung, gegenüber allem menschlichen Hochmut zeigt uns der Psalm, wer und was wir sind – vergänglicher Teil
der Schöpfung! Das tönt ernüchternd, aber damit ist auch etwas anderes, sehr
tröstliches gesagt. Das Aufblühen, die wunderbare Pracht der Natur, das Staunen
über diese Welt, das Wunder der Entstehung neuen Lebens, das Heranwachsen
von Kindern, der Frühling der Jugend und der Liebe, der Sommer des Lebens.
All das gehört auch zutiefst zu unserem Wesen! Wir sind Teil dieses wunderbaren Kreislaufs der Schöpfung!
Zu diesem Kreislauf gehört aber auch das Vergehen, der Abschied das Sterben.
Das ist nicht nur ein blindes Naturgesetz. Es ist von Gott gewollt, dass wir sterben müssen. So deutlich sagt es der Psalm. Gott führt uns zurück zur „Erde“.
Das hat auch Tröstliches. Wir müssen nicht ewig so weiterleben, wie wir sind –
unter Umständen mit Schmerzen, schwerem Leiden , aber auch mit charakterlich
Defiziten. „Die Hölle, das sind die anderen“, hat der Philosoph Jean Paul Sartre
geschrieben. Aber die Hölle, das kann auch ich allein mit mir selbst sein: mit
meiner Streitsüchtigkeit, meiner Wut, die ich nicht kontrolliert bekomme, meiner Bitterkeit, meinen bösen Gedanken, meinen fürchterlichen Ängsten.
Wir müssen nicht ewig weiterleben und mitansehen, welche schreckliche Dinge,
sich Menschen antun – oder selbst zu Opfern werden, oder noch grässlicher zu
Tätern.
Wenn wir ewig so weiterleben müssten, dann wäre das auch erschreckend. Der
Tod verhindert das. Der Tod ist der schmale Weg, auf dem wir aus der
Machtsphäre des Bösen herausgenommen.
Sterben und Tod sind keine Konstruktionsfehler in der Schöpfung. Sie sind Teil
der Schöpfung Gottes und neben allem Schweren und Traurigen hat das auch
gute Aspekte.
3. Unser Tod und der Zorn Gottes
Nun ist in Psalm 90 auch vom Zorn Gottes die Rede. „Denn wir schwinden dahin durch deinen Zorn,
und durch deinen Grimm werden wir hinweggeschreckt“, heisst es da.
„Zorn Gottes?“ Mit diesen Aussagen haben wir heute Mühe. Ein zorniger
Gott? Einer, der Wutausbrüche bekommt und dazwischen haut? Das ist für viele
Menschen eine ganz indiskutable Vorstellung. So ein Gott bitte nicht! Weil das
abstösst , ist in den Kirchen in den letzten Jahrzehnten kaum davon gesprochen
worden. Wir haben uns an den immer nur „lieben“ Gott gewöhnt. Doch die Bibel ist voll von Aussagen über den Zorn Gottes.
Wie können wir das verstehen? Gott ein rachsüchtiger Tyrann? In der Tat ist
vom Zorn Gottes die Rede, aber es ist ein totales Missverständnis, wenn wir
unreflektiert menschliche Vorstellungen auf Gott übertragen.
Gott wird in der Bibel als ein leidenschaftlich liebender Gott beschrieben. Leidenschaftlich bedeutet, dass er sich den Menschen als freies und selbständiges
Gegenüber geschaffen hat – und dass er um die Liebe seiner Menschen ringt.
Und Gott ist unendlich traurig und zornig über dass, was sich Menschen antun.
Er ist traurig und zornig darüber, wenn Menschen seinen Namen missbrauchen,
um Mitmenschen umzubringen. Es lässt ihn nicht kalt, wenn in seinem Namen
getötet und gehasst wird. Es trifft ihn, was wir alles tun, es kränkt ihn und es
macht ihn zornig.
Psalm 90 hilft uns zu verstehen, wie das gemeint ist. Da wird die Frage gestellt:
„ Wer erkennt die Gewalt deines Zorns und deinen Grimm, wie es die Furcht vor
dir verlangt?
Diese Fragen weisen darauf hin, dass wir den Zorn Gottes im Letzten nicht vollständig verstehen können. Es bleibt ein Geheimnis dabei, weil Gott Gott ist und
wir nur unvollkommene Menschen. Der Zorn Gottes steht über uns Menschen.
Gott sieht in das Verborgene unseres Lebens.
„ Du hast unsere Sünden vor dich gestellt,
unsere verborgene Schuld ins Licht deines Angesichts.“ So sagt es der Psalm.
Gott sieht in die Schattenseite und Abgründe, die jeder von uns hat – und die wir
voreinander verbergen. Gott ist dabei kein „Tüpfelischiesser“, der kleinliche
Listen führt. Es geht Gott nicht darum, genauestens die moralischen Vergehen
aufzuführen.
Es geht beim Zorn Gottes, um die verborgenen Dimensionen der Menschheit:
der Frevel an Gott, die Gedanken , Worte und Taten, mit denen wir Gott beleidigen und erniedrigen, uns selber meistens unbewusst.
Diese tiefe Störung in der Beziehung zu Gott, können wir nicht durch ein Verhaltenstraining oder ein Umlernen beseitigen. Hier geht es um Dimensionen, die
erschreckend sind. Machen Sie sich einmal klar: Es gibt keinen Tag seit der Erschaffung der Welt, an dem nicht irgendwo auf diesem Planeten gelogen, gehasst oder getötet wurde. Keinen einzigen Tag. Wir müssen nur einen Blick in
unsere heutige Welt werfen, um eine Ahnung von den dunklen Seiten der
menschlichen Natur zu bekommen.
Der Psalm zeigt, dass wir das Problem der abgrundtiefen Trennung von Gott
nicht lösen können.
Das hat Jesus dann durch seinen Tod am Kreuz getan. Er hat die Folgen dieser
tiefen Beziehungsstörung, dieses Risses auf sich genommen.
Der Psalmbeter, der ja lange vor Jesus lebte, konnte davon noch nichts wissen.
Er fleht angesichts des Zornes Gottes darum, dass er sich wieder zuwendet:
„Wende dich uns wieder zu! Wie lange noch! Habe Mitleid mit deinen Knechten.“
4. Lehre uns, unsere Tage zu zählen, damit wir ein weises Herz gewinnen.
Etwas bekannter ist der Vers in der Luther-Übersetzung: Lehre uns bedenken,
dass wir sterben müssen, damit wir klug werden.
Was bedeutet das, „klug zu werden“, ein „weises Herz zu gewinnen“?
Es ist zweierlei: Zum ersten kann uns die Endlichkeit unseres Lebens bewusst
machen, wie wertvoll unsere Lebenszeit ist. „Die Tage zählen“ heisst dann
nicht, hektisch losrennen und alles Mögliche in unser Leben hinein zu packen.
Das wird am Ende enttäuschend sein. Denn das Glück und ein gutes Leben erreiche ich nicht dadurch, dass ich möglichst viel gemacht und gesehen habe.
„Lebensquantität“ ist nicht „Lebensqualität“.
„Klug werden“, bedeutet, dass ich unterscheiden lerne zwischem dem was wirklich wichtig und bedeutsam ist und dem, was angesichts der Vergänglichkeit banal und unbedeutend ist. Unsere Endlichkeit hilft uns weise Prioritäten zu setzen. Es gibt dazu eine schöne Hollywoodtragikkomödie, „Das Beste kommt zum
Schluss“. Jack Nicholson und Morgan Freeman spielen darin zwei sehr unterschiedliche Männer, die todkrank sind. Im Spital lernen sie sich kennen und erstellen eine „Löffel-Liste“. Eine Liste von Dingen, die sie noch tun möchten,
bevor sie „den Löffel abgeben“. Sie verwirklichen einige dieser Dinge und am
Ende wird ihnen klar, dass das wichtigste im Leben ihre Beziehungen sind. Der
eine entdeckt die Liebe zu seiner Frau neu und den Wert seiner Familie. Der andere sehnt sich nach vielen Jahren Streit mit seinem Sohn aus – und als einer der
letzten Dinge streicht er von seiner „Löffel-Liste“ „das schönste Mädchen der
Welt küssen“ , nachdem er seiner kleinen Enkeltochter, die ihn noch nie zuvor
gesehen hatte, einen Kuss gibt.
Ein schöner Film, der zeigt, dass die Endlichkeit unseres Lebens, uns helfen
kann, das wirklich Wichtige zu erkennen.
Es gibt aber noch zweite Dimension darüber hinaus, was „klug werden“ bedeutet. Bisher war nur von unserer Vergänglichkeit die Rede. Aber der Psalm weist
implizit darauf hin, dass es noch mehr gibt. Es wird von Gott als demjenigen
gesprochen, der ewig ist und ein „Hort“, also eine Zuflucht der Menschen, von
Generation zu Generation.
Ist Veränglichkeit des Lebens das einzige, was es im Angesicht des ewigen Gottes zu sagen gibt? Oder können wir Menschen teilhaben an der Ewigkeit Gottes?
Schon in der Natur ist Veränglichkeit, Tod und Sterben nicht das letzte Wort.
Wir wissen das. Die Natur sieht in jedem Herbst und Winter so aus, als ob alles
stirbt. Und doch kommt jedes Jahr ein neuer Frühling mit überbordender Fülle!
Ist die Natur ein Gleichnis für uns Menschen? Ein Hinweis, dass es mehr gibt
als Vergänglichkeit?
Im Alten Testament hatten die Menschen nur eine unklare Hoffnung auf ewiges
Leben. Es war mehr eine Ahnung, als eine feste Glaubensüberzeugung. Und zur
Zeit von Jesus wurde im Judentum heftig darüber diskutiert.
Erst die Worte von Jesus, sein Sterben am Kreuz und seine Auferweckung haben hier eine neue Dimension gebracht. Jesus hat deutlich und ausdrücklich vom
ewigen Leben gesprochen. Der Apostel Paulus greift später den Vergleich mit
der vergänglichen Natur und der Auferstehung auf. Er vergleicht Sterben und
Auferstehung mit einem Weizenkorn, dass bei der Aussaat in den Boden gelegt
wird und scheinbar tot ist. Dort im Frühjahr wächst daraus neues Leben. So ist
auch das Sterben für ihn ein Übergang, der zum ewigen Leben führt. Paulus be-
schreibt es so: Jedes Samenkorn, das gesät wird, muss vergehen, ehe neues Leben daraus wächst. .....
42 Genauso könnt ihr euch die Auferstehung der Toten vorstellen. Unser irdischer Körper ist wie ein Samenkorn, das einmal vergeht. Wenn er aber auferstehen wird, ist er unvergänglich. 43 Was begraben wird, ist unansehnlich und
schwach, was aufersteht, ist herrlich und voller Kraft.
44 Begraben wird unser irdischer Körper; aber auferstehen werden wir mit einem Körper, der von unvergänglichem Leben erfüllt ist. Denn wie es einen
sterblichen Körper gibt, so gibt es auch einen unsterblichen.....Nach der Auferstehung werden wir dann wie Christus einen himmlischen Leib haben.
(1. Korinther 15, 42 ff in Auswahl)
„Klug werden“ – ein weises Herz gewinnen“- bedeutet auch zu begreifen, dass
Gott uns durch Tod und Sterben hindurch ewiges Leben schenken will.
Vergänglichkeit und Tod – Sterben und loslassen – aber auch Hoffnung auf
Auferstehung und ewiges Leben. Das ist der Weg, den Gott uns bestimmt hat.
AMEN.