Kapitel 3: Eine schöne Geschichte

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Kapitel 3:
Eine schöne Geschichte
VON MANFRED MAI
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Gestern habe ich mal wieder eine schöne Geschichte gelesen, über die ich mich
richtig ärgern musste. Und seit heute Morgen weiß ich endgültig, dass sie nicht
stimmt. Doch bevor ich erzähle, weshalb sie nicht stimmt, will ich euch die
Geschichte schnell vorlesen.
„Mein Name ist Günther Bärlin. Ich bin zwölf Jahre alt und wohne in einer
Stadt im Ruhrgebiet. Da arbeiten viele Türken. Ihre Kinder gehen mit uns in
die Schule. Auch in meiner Klasse ist ein Türke. Er heißt Arkan. Der gefiel mir
sofort. Ich hätte mich gern mal mit ihm unterhalten, über die Türkei und wie
es dort ist. Aber Hans Endrainer, der stärkste Junge in unserer Klasse, hatte
etwas gegen Türken. Deshalb hat er uns verboten, mit Arkan zu reden. Und
weil wir alle Angst vor Hans hatten, taten wir, was er wollte.
Dabei konnte ich den Hans eigentlich nie leiden. Er hat immer Kleinere und
Schwächere geärgert und gequält, besonders den Harald Bühler. Dem versteckte er das Mäppchen, legte einen nassen Schwamm auf seinen Stuhl,
sperrte ihn in den Schrank oder schlug ihn einfach. Jeden Tag machte der Hans
etwas anderes. Und Harald Bühler konnte sich nicht wehren, weil er kaum
Muskeln hat. […]
Am Mittwoch kam Hans mit einem Blasrohr in die Schule. Gleich in der
ersten Stunde wollte er es ausprobieren. Da hatten wir
Deutsch bei Herrn Kleiner, und der versteht in solchen
Dingen keinen Spaß. Wir sagten zu Hans, er solle es
lieber lassen, doch der hörte nicht auf uns. Als Herr
Kleiner etwas an die Tafel schrieb, schoss ihm
Hans ein Papierkügelchen an den Hinterkopf.
,Wer war das?‘, brüllte Herr Kleiner.
Natürlich meldete sich niemand.
,Na gut, dann schreibt ihr bis
morgen alle die Erzählung ab, die
wir eben gelesen
haben.‘
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Draußen schien die Sonne. Es war richtiges Badewetter, und wir sollten
heute Nachmittag diese blöde Erzählung abschreiben. Alle sahen Hans an. Auf
einmal hob er langsam die Hand und sagte: ,Der Harald war’s.‘
Es wurde ganz still in der Klasse, bis Harald zu heulen anfing. Da rief Arkan
von hinten so laut, dass es jeder hören konnte: ,Ist gelogen! War nicht Harald,
war Hans!‘ Alle haben ihn ganz erstaunt angestarrt. Der hat Mut, dachte ich.
Hans bekam eine lange Strafarbeit und platzte fast vor Wut. Gleich nach der
Stunde rannte er auf Arkan zu und wollte auf ihn einschlagen. Da haben ich
und ein paar andere ihn festgehalten. Jetzt hat er nichts mehr zu sagen in der
Klasse. Niemand will mehr etwas mit ihm zu tun haben. Aber mit Arkan reden
und spielen wir jetzt alle.“
Ich weiß nicht, wie ihr die Geschichte findet. Ich habe mich auf jeden Fall
sehr über sie geärgert. Damit ihr auch versteht, warum, erzähle ich euch nun
meine Geschichte.
Ich heiße Bernhard Drechsler und gehe in die siebte Klasse einer Gesamtschule. Wir sind 31 Schüler. Eberhard und Heinz gehören auch dazu. Sie sind
die „Chefs“ in der Klasse, was sie sagen, wird gemacht. Wir anderen mögen die
beiden zwar nicht, aber keiner traut sich, etwas gegen sie zu sagen. Am allerwenigsten der kleine Robert, obwohl er am meisten zu leiden hat. Mit ihm treiben
sie es besonders toll. Und am schlimmsten ist es beim Sportunterricht. […]
Heute Morgen haben sie wieder so etwas Gemeines gemacht. Eberhard hat
einen Luftballon an dem Wasserhahn in unserem Klassenzimmer festgebunden. Kurz bevor Herr Burger hereinkam, drehte Eberhard den Hahn ein wenig
auf. Der Lehrer merkte es nicht und begann mit dem Unterricht. Wir schielten
immer wieder zum Wasserhahn, wo der Luftballon größer und größer wurde.
Auf einmal platzte er, und das Wasser spritzte bis zu Herrn Burger.
„Wer war das?“, wollte Herr Burger wissen. Er wartete eine Weile und
schaute dabei jeden an.
Als sich niemand meldete, sagte er: „Ihr habt bis zum Ende der Stunde Zeit.
Wenn sich der oder die Täter bis dahin nicht melden, wisst ihr, was folgt.“ […]
Herr Burger wollte gerade mit dem Unterricht weitermachen, da meldete
sich Heinz und sagte ganz laut: „Der Robert war’s. Ich hab’s genau gesehen.“
Mir gab es einen richtigen Stich. Ich dachte sofort an die Geschichte mit
Arkan. Mein Herz schlug immer fester. Im Magen surrte es ganz komisch, und
meine Hände wurden feucht.
Du musst es sagen, dachte ich, jetzt musst du es sagen. Du musst!
„Der Robert war’s nicht“, hörte ich mich sagen. Und nach einer kurzen
Pause: „Eberhard war’s, und der Heinz hat ihm dabei geholfen.“
„Stimmt das?“, fragte Herr Burger in die Klasse.
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Niemand sagte „ja“, auch nicht Robert.
„Eberhard, Heinz – seid ihr es gewesen?“
„Der Robert war’s“, sagte Eberhard, „fragen Sie doch die andern.“
Ich bin sicher, Herr Burger wusste, dass Robert es nicht getan hatte. Das
merkte man auch daran, wie er ihn fragte.
„Robert?“, sagte er nur.
Aber Robert sagte nichts.
„Eberhard, Heinz, Robert und Bernhard, ihr kommt in der großen Pause zu
mir. Verstanden?!“
Kaum war die Stunde zu Ende und Herr Burger aus dem Zimmer, kamen
Eberhard und Heinz auf mich zu […]. Zuerst stießen und rempelten sie mich
nur leicht an. Dann schlugen sie fester zu, auf die Armmuskeln und in den
Magen.
„Wenn du nachher dem Burger nicht sagst, dass der Robert es war, dann
geht’s erst richtig los“, drohte Eberhard und trat gegen mein linkes Schienbein.
Ich sah, wie die anderen aus dem Zimmer gingen, zum Fenster hinausschauten oder sonst etwas taten. Und da wusste ich endgültig, dass die Geschichte mit Arkan nicht stimmt.
Textsorten kennen
Die Erzählung
Eine Erzählung ist eine Geschichte von mittlerer Länge, die den Leser unterhalten
soll. Sie weist bestimmte Merkmale auf:
• Es gibt einen Erzähler. Das ist entweder ein Er-Erzähler oder ein Ich-Erzähler.
Ein Er-Erzähler erzählt alles aus der Sicht eines Beobachters, ein Ich-Erzähler aus der
Sicht der Hauptperson.
Beispiele: Als Robert eines Morgens erwachte, wunderte er sich … (Er-Erzähler)
Als ich eines Morgens erwachte, wunderte ich mich …
(Ich-Erzähler)
• Es werden treffende Verben verwendet, damit sich der Leser gut vorstellen kann,
was passiert.
Beispiel: Nicht: Der alte Mann ging …; sondern: Der alte Mann schlurfte …
• Passende Adjektive ermöglichen es dem Leser, sich ein genaues Bild von den
Personen und der Umgebung zu machen.
Beispiele: Personen werden evtl. als zornig, empört oder listig beschrieben und die
Umgebung als sonnig oder düster.
• Die Darstellung wirkt lebendig, weil hin und wieder auch erzählt wird, was die Personen fühlen, denken oder sagen.
• Die Handlung ist spannend und strebt auf einen Höhepunkt zu.
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In der Erzählung „Eine schöne Geschichte“ gibt es zwei Ich-Erzähler. Wie heißen sie? Nenne ihre Namen.
Der erste Ich-Erzähler heißt
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Der zweite Ich-Erzähler heißt
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.
.
a Wer erzählt eine Geschichte, die er nur gelesen hat?
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b Wer erzählt eine Geschichte, die er erlebt hat?
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Unterstreiche in der Geschichte, die der Ich-Erzähler selbst erlebt hat, den
Höhepunkt.
r Hinweis: Du solltest einen oder zwei Sätze unterstreichen.
Lesestrategien entwickeln
Den Aufbau eines Textes untersuchen
Jeder Text hat einen bestimmten Aufbau. Er besteht aus mehreren (Sinn-)Einheiten,
also aus Gruppen von Sätzen, die inhaltlich zusammengehören. Du solltest versuchen,
den Textaufbau zu durchschauen. Bei einer Erzählung gehst du so vor:
• Wenn du merkst, dass ein Abschnitt beendet ist und ein neuer Handlungsschritt
beginnt, kennzeichnest du den Beginn dieses neuen Handlungsschritts mit c.
• Anschließend siehst du dir alle Abschnitte noch einmal an. Frage dich, worum es
darin jeweils geht, und notiere den Inhalt mit wenigen Worten am Rand.
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Kennzeichne in der Erzählung alle Stellen, bei denen ein neuer Handlungsschritt beginnt, mit c. Notiere jeweils am Rand, worum es in diesem
Abschnitt geht.