Seite 1 von 1 Professionelles Handeln als Beitrag zur

Professionelles Handeln als Beitrag zur Verwirklichung der Menschenrechte;
am Beispiel Sozialer Arbeit
Vortrag 11. Nov. 2015 an der FH Bremen
Edi Martin
1. Folie: Titel des Referats Liebe Studierende, liebe Kolleginnen und Kollegen Vielen Dank für die Einladung nach Bremen. Es freut mich sehr Ihnen ein paar Anregungen zum professionellen Handeln vorstellen zu dürfen. Mit meinem Referat hoffe ich, Ihnen nachvollziehbar darlegen zu können, dass Professionen bei der Verwirklichung der Menschenrechte eine zentrale Rolle zukommt. Das heisst, auch Sie als Studierende und angehende Mitglieder einer Profession bzw. Sie als Professionelle oder Angehörige der Disziplin Sozialer Arbeit können einen massgeblichen Beitrag leisten zur Verwirklichung der Menschenrechte. Nur wenige Menschen sind sich bewusst, dass die Menschenrechte weit mehr sind als die Proklamierung guter Regeln für das menschliche Zusammenleben. Auch viele Professionelle des Gesundheitswesens oder der Sozialen Arbeit verstehen die Menschenrechte bloss als Bestandteil einer guten Gesinnung – einer Gesinnung, die einem anhält Menschen zu achten und human zu behandeln. Viele Professionelle haben keine Vorstellung davon, was die enorme Wirkkraft der Menschenrechte ausmacht und auf welche Weise Professionelle durch die Menschenrechte gefordert sind. 2. Folie: Titelseite Menschenrechte Amnesty International Vortrag 11. Nov. 2015 an der FH Bremen
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Mit der Menschenrechtserklärung von 1948 wurden die Menschenrechtsforderungen erstmals auf eine übernationale Ebene gehoben. Individuen in den einzelnen Staaten erhielten Rechte zugewiesen, die über den Nationalstaat hinausgehen. Bis dahin sah das Völkerrecht keine Verfahren vor, um Individuen Schutz gegenüber dem eigenen Staat zu bieten. Das Individuum war vorher ausschliesslich abhängig von der Freiheit oder Unfreiheit des politischen Systems, in dem es sich befand. Darauf weist Silvia Staub-­‐
Bernasconi im Geleitwort zum Buch ‚Menschenrechtsorientiert wahrnehmen – beurteilen – handeln’ hin (2011, S. 18). 3. Folie: UNO Sie hebt weiter hervor, dass erst seitdem im Jahr 2008 die UNO-­‐Vollversammlung ein individuelles Beschwerderecht für die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte beschloss, der übernationale Schutz auch für die Sozialrechte gilt. Seither untersteht jeder Staat einem doppelten Legitimationszwang. „Nach innen bedarf er weiterhin der traditionell-­‐rechtsstaatlichen Rechtfertigung, nach aussen unterliegt er der zusätzlichen Kontrolle durch die UNO-­‐Gremien und damit der Kritik anderer Staaten sowie transnationaler NGOs (Nichtregierungsorganisationen).“ (ebd.). Menschenrechte gelten für alle Menschen weltweit, an allen Orten und in allen Kulturen. Deshalb kann diese Forderung nach doppelter Legitimation auch an kontextbezogene, ethnische Gruppierungen, religiöse Gemeinschaften und Träger von Weltanschauungen gestellt werden. Es braucht Wachsamkeit in Bezug auf alle Formen von Überlegenheitsvorstellungen und absoluten Wahrheitsansprüchen. Diese Forderung nach doppelter Legitimation betrifft nicht nur alle Staaten und ethnische Gruppierungen, religiöse Gemeinschaften und Träger von Weltanschauungen, sie ist auch gegenüber den Professionen geltend zu machen. Professionen verfügen nicht nur über Wissen und Können, sie sind auch mit erheblicher Macht ausgestattet. So ist z.B. Soziale Arbeit national und international organisiert, sie hat eine Sozialgesetzgebung als Basis und eine Praxis Sozialer Arbeit mit teils mächtigen Organisationen. Auch die Profession der Sozialen Arbeit hat sich bezüglich der Einhaltung der Menschenrechte gegen innen und gegen aussen zu legitimieren. Gefordert sind dabei Berufsverbände, Ausbildungsstätten und Praxisorganisationen. Vortrag 11. Nov. 2015 an der FH Bremen
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4. Folie: IFSW-­‐IASSW Seit einigen Jahren sind international Bestrebungen im Gange, diesen Ansprüchen nachzukommen. Im Zusammenhang mit der UNO-­‐Menschenrechtskonferenz von 1993 in Wien haben Professionsvertreter und Lehrende zusammen mit dem UNO-­‐Zentrum für Menschenrechte das Manual „Human Rights and Social Work“ verfasst. Bei der Fachhochschule Ravensburg-­‐Weingarten ist die ins Deutsche übersetzte Version als Handbuch „Menschenrechte und Soziale Arbeit erhältlich. Zur Umsetzung der Kinderrechtskonvention verfasste die ‚International Federation of Social Work’ (IFSW) zudem das Manual „Social Work and the Rights of the Child“. Weitere wichtige Dokumente der Sozialen Arbeit, wie z.B. die ethischen Prinzipien Sozialer Arbeit, sind in der internationalen Dokumentensammlung des IFSW und der International Association of Schools of Social Work (IASSW) enthalten, welche im Anhang des Buches „Menschenrechtsorientiert wahrnehmen, beurteilen, handeln“ enthalten sind. Einen kleinen Beitrag zur Lehre der Menschenrechte will ich mit diesem Vortrag leisten. Auch das Interesse von Ihnen an dieser Veranstaltung teilzunehmen, lässt Hoffnung aufkommen. 5. Folie: Bild Grundbach-­‐Alpenlandschaft Vortrag 11. Nov. 2015 an der FH Bremen
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Ich erlaube mir nun die Aufmerksamkeit einen Moment lang auf die Schweiz zu lenken. Genauer auf eine Vergangenheit der Schweiz, die bis heute ihre Schatten wirft. Der Schriftsteller Franz Hohler hat vor einigen Jahren im Schweizer Radio DRS 1 folgenden Beitrag vorgetragen – den ich hier vorlese statt die Original-­‐Tonaufzeichnung abzuspielen, weil Franz Hohler den Radiobeitrag in Dialekt gesprochen hat, was für Sie möglicherweise wenig verständlich wäre: Übersetzt in die Deutsche Standardsprache hat Franz Hohler in der Sendung „Zytlupe“ folgendes gesagt: «Wenn ich Sie fragen würde, wann in den Vereinigten Staaten von Amerika die Sklaverei zu Ende gegangen ist, würden Sie vielleicht auf das 19. Jahrhundert tippen, und da wären Sie nicht daneben. Diese Verfassungsänderung wurde 1863 eingeführt, und der damalige Präsident Abraham Lincoln, der sie durchgebracht hatte, wurde zwei Jahre später von einem Südstaatler erschossen. Wenn ich Sie fragen würde, wann in der Schweiz die Sklaverei abgeschafft worden ist, würden Sie vielleicht sagen: ‹In der Schweiz? – Sklaverei? Also ... vielleicht so etwas wie Leibeigene im Mittelalter – hat es das überhaupt gegeben in der Schweiz? (......) Nein, Sie müssen viel mehr in die Nähe denken. Offiziell ist die Sklaverei bei uns 1978 abgeschafft worden. Bis dann durfte man vor allem in der Landwirtschaft Menschen arbeiten lassen, die man nicht bezahlen musste, die man hungern lassen durfte, die man bei jeder Gelegenheit schlagen durfte, mit Ruten, Peitschen und Lederriemen, die man mit blutigen Rücken in feuchte Keller und ungeheizte Schweineställe sperren durfte, ohne ihnen etwas zu essen zu geben, und diese Menschen hatten keine Möglichkeit, sich zu wehren, denn sie waren Kinder, die an ihre Meistersleute verdingt worden waren, und erst seit 1978 gibt es eine gesamtschweizerische verbindliche Regelung für Pflegekinder. Verdingkinder1, schon der Name klingt nicht gut. Mehr Ding als Kind, mehr Sachen als Menschen. 1930 gab es in der Schweiz 40 000 solcher Verdingkinder, und noch 1946 hatte allein der Kanton Bern 10 000 davon. Das Verfahren war einfach. Wenn eine Familie ein Kind nicht mehr selbst durchbringen konnte, aus Armut oder weil ein Elternteil gestorben war oder weil beide Eltern gestorben waren, suchte die Armen-­‐ oder Vormundschaftsbehörde eine Familie, die das Kind gegen ein Kostgeld bei sich aufnahm. Je niedriger das Kostgeld, desto günstiger für die Gemeinde. Diese Kinder wurden zum Teil öffentlich versteigert, und zwar nicht an den Meistbietenden, sondern an den Mindestbietenden. Man kann dies in Gotthelfs erstem Roman nachlesen, ‹Der Bauernspiegel›, der mit dem Donnersatz beginnt:‹Ich bin geboren in der Gemeinde Unverstand in einem Jahre, welches man nicht zählte, nach Christus.› Dort kommen Sie auch zu dieser Stelle, an der aus dem Verdingbub ein erwachsener Knecht geworden ist, der heiraten will und dann erst vom Gemeindeschreiber erfährt, dass er Schulden hat bei der Gemeinde. Der rechnet ihm alles vor, was er sie an Kostgeld gekostet hat, und es ist so viel mehr als das Wenige, was er sparen konnte, dass er an das Heiraten gar nicht mehr denken kann. Gut, werden Sie sagen, 19. Jahrhundert. Gut, sage ich, versteigert wurde im 20. Jahrhundert bald nicht mehr, aber lesen Sie einmal das Buch ‹Gestohlene Seelen› von Lotti Wohlwend. Dort erzählen Verdingkinder, die alle noch leben, wie sie es gehabt haben. Und dann werden Sie zu einer Stelle kommen, an der die Kinder einer Erziehungsanstalt an einem Sonntag in das nächste Städtchen sich einen Film anschauen gehen durften. Und für jeden Tag, den sie 1
Hans Walz hat mich darauf hingewiesen, dass die «Schwabenkinder» bzw. die «Hütekinder» in Süddeutschland ähnliche Schicksale erlebt haben. Vortrag 11. Nov. 2015 an der FH Bremen
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gearbeitet haben, hat man ihnen drei Rappen Sackgeld gutgeschrieben. Und sie gehen also für die Eintrittsbillette für diesen Film, der die Weltreise der Königin Elisabeth von England zeigt, zum Anstaltsleiter das Sackgeld abholen, und als unser Bub kommt, der dies erzählt, sagt ihm der Anstaltsleiter, er habe überhaupt nichts zugut, er habe ja keine Eltern und seine drei Rappen gingen an die Gemeindebehörde für sein Kostgeld. Ein Grund, ein Kind wegzunehmen, war übrigens auch, wenn es eine Mutter unehelich zur Welt gebracht hatte, denn es war klar, dass eine alleinstehende junge Frau nicht in der Lage sein kann, ein Kind aufzuziehen, sondern selbst in eine Erziehungsanstalt gehört. So geschehen dem Schriftsteller und Journalisten Arthur Honegger, der seine Mutter nie kennengelernt hat, sondern in Heimen und Anstalten und bei Pflegeeltern aufwuchs und dann als Sklave zu einem Bauern arbeiten gehen musste, bis er versuchte, sich zwanzig Franken zu organisieren, um seine vormaligen Pflegeeltern zu besuchen und diesen zu sagen, wie grausam er behandelt wurde. Daraufhin steckte ihn der Vormund in eine Anstalt für Schwererziehbare, bis er volljährig geworden war. Wenn Sie einmal Gelegenheit haben, den Film ‹Turi› zu sehen, der über sein Leben gemacht worden ist, dann gehen Sie ihn anschauen, er ist unerträglich. Auch das Buch ‹gestohlene Seelen› ist unerträglich, und gerade darum sollten wir es lesen. Denn die Menschen, die darin ihr Leben erzählen, die haben genau das ertragen müssen. Und für sie war der Film nicht nach anderthalb Stunden fertig, und sie konnten nicht einfach den Buchdeckel zuklappen und das Buch weglegen, sondern sie mussten durch all das hindurch, während ihrer ganzen Kindheit, die keine war, und litten darunter ein ganzes Leben lang, viele durften nicht einmal eine Lehre machen, geschweige denn in eine höhere Schule – warum auch, ein Sklave braucht nichts zu lernen, der soll arbeiten, aus dem wird sowieso nichts. Und die Sklavinnen, die zehnjährigen, die elfjährigen, die zwölfjährigen, sind vergewaltigt worden, noch und noch, von ihren Pflegevätern und sogar von den Söhnen der Pflegeeltern, die gar nicht viel älter waren als sie. Und die ganze Welt der Erwachsenen hat weggeschaut, der Vormund, die Fürsorgerin, der Pfarrer, der Lehrer, die Lehrerin; auch wenn diese Kinder blutig geschlagen in die Schule kamen und dort sogar zusammenbrachen, wollten sie die Zeichen nicht sehen. Niemand machte sich zum Anwalt dieser geplagten und einsamen Kinder, viele davon nahmen sich später das Leben, teils schon mit vierzehn Jahren, aber viele davon leben noch. Sie haben vielleicht den gleichen Jahrgang wie ich, und sie sind Zeugen dafür, dass die Schweiz im zwanzigsten Jahrhundert eine Sklavennation war, wie Amerika im neunzehnten Jahrhundert. Und sie warten darauf, dass dies in unsern Geschichts-­‐ und Schulbüchern steht. Sie warten auch darauf, dass sich irgendjemand bei ihnen entschuldigt, jemand aus der offiziellen Schweiz, so wie sich Bundesrat Egli einmal für die Aktion Kinder der Landstrasse entschuldigt hat oder Bundesrat Villiger für die Behandlung der nachrichtenlosen Vermögen. Sie warten darauf, mit ihrer Geschichte, die sie nicht einfach aus ihrem Leben streichen können. Und wenn dies die offizielle Schweiz vergisst, dann sollten wenigstens wir es nicht vergessen, Sie und ich.» Soweit der Text von Franz Hohler. Falls Sie diese «Zytlupe» von Franz Hohler betroffen macht, dürfte dies eine gute und erforderliche Voraussetzung dafür sein, um künftig dafür zu sorgen, dass solches nicht wieder geschieht – oder, stimmiger formuliert, nicht wieder durchgeführt wird. Es muss jedoch bezweifelt werden, ob Betroffenheit alleine ausreichend ist. Man muss überdies auch wissen, wie soziale Sachverhalte verantwortungsvoll bearbeitet werden können, wie Ethik, d.h. Wertewissen, im Handeln Sozialer Arbeit oder im Gesundheitswesen, Vortrag 11. Nov. 2015 an der FH Bremen
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systematisch handlungsleitend operationalisiert werden kann. Nur durch Empathie2 und systematischen Wertebezug im Handeln können wir uns vor ethischer Blindheit schützen. An dieser bisher unverarbeiteten Geschichte mit den Verdingkindern in der Schweiz waren auch Behörden, Organisationen und Mitarbeitende der damaligen Sozialen Arbeit beteiligt. Es verwundert auch, dass Lehrerinnen und Lehrer, Ärzte und Professionelle der Gesundheitspflege, Pfarrer und Polizisten diesen Kindern keinen Schutz angeboten haben. Noch immer ist in der Schweiz die Resistenz dagegen, diese Ereignisse zur Kenntnis zu nehmen und Wissen darüber allgemein zugänglich zu machen, gering. Trotzdem engagieren sich verschiedene Leute und Organisationen. Erste Forschungen haben stattgefunden. Der Regierungsrat des Kantons Bern hat sich öffentlich entschuldigt. Eine Wanderausstellung vermittelt Verdingkinder-­‐Geschichten und der Film der Verdingbub hatte 2011 Premiere. 6. Folie: Flyer Ausstellung und Film Es stellt sich eindringlich die Frage, wie konnte so etwas über eine so lange Zeit geschehen und verdeckt gehalten werden? Die Verletzung der Menschenwürde scheint unter anderem davon abhängig zu sein, wie in einer Gesellschaft die sozialpolitischen Antworten auf Armut und Elend ausfallen (und zwar in jeder Gesellschaft, unabhängig vom Entwicklungsstand). Zudem scheint die Verletzung der Menschenwürde davon abhängig zu sein, ob sich die Praxis Sozialer Arbeit3 willig und kritiklos, im schlimmsten Fall gar eifrig, in den Dienst sozialpolitischer Trends stellt. Im Hinblick auf die ansehnliche Anzahl Arbeitsloser, Langzeitarbeitsloser und Lohnabhängiger in prekären Arbeitsverhältnissen und die Anzahl Jugendlicher ohne Ausbildungs-­‐, Bildungs-­‐ oder Arbeitsplatz muss in der Schweiz erstaunt zur Kenntnis genommen werden, dass die Besorgnis über diese Zustände und die Bereitschaft, Massnahmen zur Unterstützung dieser Menschen und zur Einflussnahme auf den Arbeitsmarkt und das Ausbildungssystem zu ergreifen, um vieles kleiner ist als während der grossen Wirtschaftskrise zwischen 1929 und 1938. Damals, d.h. 1936, wurden in der Schweiz 93 000 Arbeitslose gezählt und es wurden von verschiedenen Instanzen Massnahmen ergriffen. Seit Mitte der Neunzigerjahre bis 2005 pendelt die Anzahl Arbeitsloser in der Schweiz plus/minus auf dem doppelten Wert (Bollmann 2006, S. 41f.). Alleine mit der 2
Fähigkeit, sich mittelbar oder unmittelbar in das Erleben einer andern Person einzufühlen, sie durch inneren Nachvollzug zu verstehen. 3
Als Praxis Sozialer Arbeit wird hier das Handeln von Behörden, Organisationen und Mitarbeitenden Sozialer Arbeit bezeichnet. Vortrag 11. Nov. 2015 an der FH Bremen
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Existenz der Arbeitslosenversicherung, welche seit 1976 obligatorisch ist, kann die fehlende Veränderungsbereitschaft nicht vollständig erklärt werden. Auch die zunehmende Anzahl der Kinder, die von Armut betroffen sind (Schultheis et al. 2008), die extrem angestiegenen Fallzahlen in der Sozialhilfe und die Tatsache, dass heute vorwiegend die Abhängigkeit der Klienten von der Sozialhilfe beklagt und problematisiert wird und nicht die sozialen Probleme, deretwegen diese Menschen die Sozialhilfe aufsuchen, stimmen nicht zuversichtlich. Auch die beträchtliche Anzahl von Menschen ohne gültige Aufenthaltsdokumente (in der Schweiz ‹Schriftenlose›, ‹Sans Papiers› und in Deutschland ‹Illegale› bzw. zutreffender ‹Illegalisierte› genannt) und das verdrängende Agieren von Politik und Behörden darauf, lassen aufhorchen. Ebenso bereitet die zunehmend restriktive Asylpolitik in der Schweiz Anlass zur Sorge, dass sich ähnliche programmartige Interventionen wiederholen können oder bereits im Gange sind. Im Buch zur Menschenrechtsorientierung zeigt Reiner Zitzmann auf, wie leicht verletzbar die Würde des Menschen in der Suchtkrankenhilfe in Deutschland ist und wie gross die Gefahr ist, aufgrund falsch verstandener Ökonomisierung und Kommerzialisierung, die Würde des Menschen aus dem Blick zu verlieren. Es fragt sich, wie erreicht werden kann, dass menschenverletzende programmartige Interventionen wie z.B. die Verdingung von Kindern oder die Aktion «Kinder der Landstrasse» im Rahmen Sozialer Arbeit nicht erneut möglich sind. Was kann helfen, diese Gefahr zu reduzieren? Fragen und Antworten abwarten! Meine folgenden Ausführungen betreffen Aspekte, die häufig ausser Acht gelassen werden Professionelle der Sozialen Arbeit bearbeiten soziale Sachverhalte und ihr Handeln gegenüber jenen beteiligten menschlichen Individuen, die sich nicht entziehen können, machen diese zu moralischen Sachverhalten, denn die Handlungen können als richtig oder falsch, als recht oder unrecht beurteilt werden. Daraus resultiert ein hoher moralischer Anspruch an die Soziale Arbeit. Dies dürfte auch der Grund dafür sein, dass die Definition der Internationalen Federation of Social Work (IFSW) von 2001 mit der Aussage endet: «(...) Dabei sind die Prinzipien der Menschenrechte und sozialer Gerechtigkeit für die Soziale Arbeit von fundamentaler Bedeutung.» 7. Folie: Definition Sozialer Arbeit 2001 Vortrag 11. Nov. 2015 an der FH Bremen
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Auch die neue internationale Definition von Sozialer Arbeit von 2014 enthält einen vergleichbaren Passus: 7.a, Folie: Definition Sozialer Arbeit 2014 Die internationalen Dokumente, welche auch die Definition Sozialer Arbeit beinhalten, sind im Anhang des Buches H. Walz, I. Teske & E. Martin (Hrsg.), Menschenrechtsorientiert wahrnehmen -­‐ beurteilen – handeln zu finden. Durch methodisches Handeln kann entscheidend dazu beigetragen werden, dass menschenverletzende programmartige Interventionen wie die Verdingung von Kindern künftig weniger möglich sind. Dabei sind folgende Hauptregeln zu beachten: 8. Folie: Professionelles Handeln erfordert ... •
Damit konkrete Sachverhalte und speziell die Bedürfnisse der Zielgruppen sorgfältig beachtet werden und das Handeln bewusst danach ausgerichtet werden kann, gilt es, sich auf wissenschaftliches und damit überprüf-­‐ und korrigierbares Wissen zu stützen. 9. Folie: Bewertungsoperationen müssen ... •
Wenn die Kriterien Transparenz, Kritisierbarkeit, Korrigierbarkeit und die Möglichkeit der einflussreichen Beteiligung von Betroffenen und weiteren Akteuren realisiert werden sollen, dann müssen Bewertungsoperationen gezielt, verlässlich und für alle Beteiligten zugänglich vorgenommen werden. Vortrag 11. Nov. 2015 an der FH Bremen
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•
Wenn Problemlösungsverfahren gemäss der allgemeinen normativen Handlungstheorie gestaltet und partizipativ bearbeitet werden, ist dies möglich 10. Folie: Werte sollen ... •
Werte sind eindeutiger und unmissverständlicher, wenn sie als zwei-­‐ oder mehrstellige Prädikate formuliert sind. Werte an und für sich gibt es nicht. Werte existieren nur dort, wo es Organismen gibt, die bestimmte Dinge, Zustände oder Prozesse bewerten, weil diese für sie zuträglich, d.h. gut sind oder weil diese abträglich, d.h. schlecht sind. Dazu ein Beispiel: „Gerechtigkeit“ gibt es nicht an und für sich. Es gibt jedoch „gerechte Behandlung von Menschen“, „bedürfnisgerechte Verteilung von Ressourcen“, „gerechte Anwendung von Gesetzen und Normen auf Menschen“. •
11. Folie: Die Problembestimmung ... •
Systematische Verfahrensentwicklung zeichnet sich u.a. dadurch aus, dass bei allen Bewertungsoperationen, d.h. bei der Problembestimmung, der Zielformulierung, der Auswahl der Methoden oder Handlungsregeln, der Beurteilung von Nebenwirkungen und der Evaluation, immer wieder auf die spezifisch sachverhaltsbezogen ermittelten Werte zurückgegriffen wird (bezüglich Nebenwirkungen werden auch andere Werte beachtet). Vortrag 11. Nov. 2015 an der FH Bremen
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Partizipative Zusammenarbeit mit den Zielgruppen beinhaltet auch, dass diese die zentralen Werte massgeblich mitbestimmen können. Methoden sind immer auf bestimmte Ziele hin ausgelegt. Dadurch lassen sich bestimmte Werte realisieren, andere nicht. Wenn nun bei der Auswahl der Methode die spezifisch fallbezogenen Werte nicht beachtet werden, dann läuft man Gefahr, zwar das zu tun was man gut kann, aber völlig an der angestrebten Verbesserung vorbei zu arbeiten. 12. Folie: Es empfiehlt sich ... •
Es empfiehlt sich, mit universellen Werten zu arbeiten. Universelle menschliche Bedürfnisse, die internationalen Dokumente zum Menschenrechtsschutz und der internationale Code of Ethics Sozialer Arbeit sind vorzügliche Quellen für Wertewissen. Vortrag 11. Nov. 2015 an der FH Bremen
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13. Folie: Wertsetzungen ... •
Wertsetzungen, die nicht mit universellen Werten übereinstimmen, sind zu problematisieren und mittels Kriterien-­‐ und Öffentlichkeitsarbeit zu bearbeiten. •
Unabdingbar ist die Fähigkeit zu Empathie. •
14. Folie: Lernen wir die Menschenrechte kennen Durch die hier dargelegte Art der Begründung von Interventionen in der Sozialen Arbeit werden die Menschenrechte und deren Verankerungen in nationalen, föderalen (in der Schweiz in kantonalen) und kommunalen Gesetzen und Verordnungen immer wieder konkret und lokal fassbar und gelangen so ins Bewusstsein der beteiligten Menschen. Das führt dazu, dass die Menschenrechte von vielen Menschen gewusst werden und wahrgenommen werden können als etwas, das auch sie und ihre Mitmenschen schützt und fordert. Dadurch bleiben die Menschenrechte nicht länger abstrakt – abstrakt nur als Proklamationen und Gesinnung. Sondern es wird erlebt, dass es sich um eine besonders gute Form der Beurteilung von realen Lebenstituationen handelt. Es wird auch deutlich, dass Menschenrechte nicht nur für die kulturell und geschichtlich anders entwickelten Regionen der Welt (die oft abwertend als weniger entwickelt bezeichnet werden) bedeutsam sind. Wie im Buchbeitrag von Heinz Allgäuer-­‐Hackl, Hans Eder und Gerhard Schwab über Entwicklungsarbeit und Soziale Arbeit und im Beitrag von Tove Simpfendörfer über die Behandlung der Aborigines sichtbar wird, verhilft uns Menschenrechtsorientierung auch in Vortrag 11. Nov. 2015 an der FH Bremen
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andern Gebieten der Welt zu sozial gerechteren und zukunftsgerechteren Urteilen. Fragen der Gerechtigkeit und der gerechten Behandlung von Menschen stellen sich jedoch auch in den uns vertrauten Gebieten der Welt, wo wir leben; in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Fragen der Gerechtigkeit behandelt Alfred Plewa in seinem Beitrag „Auf der Suche nach dem Gerechtigkeitssinn“ im erwähnten Buch und Christel Michel in ihrem Beitrag „Gerechtigkeit und Soziale Arbeit“. Roland Saurer und Irmgard Teske berichten in ihrem Buchbeitrag denn auch von engagierten Wohnungslosen in Deutschland und zeigen auf wie wichtig Partizipation als Gegenstrategie zur fürsorglichen Belagerung von Armen ist und wie nötig die Einmischung Sozialer Arbeit in den politisch-­‐gesellschaftlichen Diskurs auch hierzulande ist. Nur wenn Professionelle der Sozialen Arbeit ihre Projekte und ihre Fallarbeit systematisch und explizit und auf universelle Werte bezogen entwickeln und insbesondere die Bedürfnisse der Benachteiligten hoch gewichten, können sie den moralischen Anspruch, der mit Sozialer Arbeit verbunden ist, einlösen. Sie sind zudem aufgefordert, Kriterien-­‐ und Öffentlichkeitsarbeit als Arbeitsweise Sozialer Arbeit zu praktizieren, denn sie arbeiten in sozialen Rollen, welche sie in nahe Beziehung zu Benachteiligten bringen, was ihnen Kenntnisse über deren Lebensverhältnisse verschafft. Sie können also wohlinformiert dazu beitragen, dass Probleme, unter denen diese Menschen leiden, zu öffentlichen Angelegenheiten werden und dadurch die Politik veranlasst wird, sich deren Lösung anzunehmen.4 In diesem Sinne sind alle aufgefordert, dazu beizutragen, dass die Geschichte der Verdingkinder in der Schweiz endlich aufgearbeitet wird und sich die offizielle Schweiz öffentlich und bei den noch lebenden Betroffenen entschuldigt. Mit einem solchen Engagement kann man üben und erleben, wie Kriterienprobleme bearbeitet werden können. Je mehr Personen sich daran beteiligen, desto wahrscheinlicher dürfte es sein, dass künftig nicht derart verspätet reagiert wird wie im Fall der Verdingkinder. Immerhin konnten im Rahmen des Schweizerischen Nationalfondsprojekts «Verdingkinder, Schwabengänger, Spazzacamini und andere Formen der Fremdplatzierung und Kinderarbeit in der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert» Soziologen und Historikerinnen/Historiker der Universität Basel über 270 Interviews mit Betroffenen und deren Nachkommen führen. Eine Auswahl aus diesen Gesprächen liegt nun in Buchform vor (Leuenberger & Seglias 2008). Auch wenn wir uns in diesem Fall (zu) spät einsetzen, lohnt sich ein Einsatz, denn die Kinder von heute sollen beobachten und miterleben können, dass Kinderleiden nicht unbesehen ignoriert werden können. 4
So ist z.B. die Europäische Sozialcharta von der Schweiz bis heute nicht ratifiziert worden. Derzeit läuft in der Schweiz eine Kampagne «Pro Sozialcharta» des Berufsverbandes AvenirSocial mit dem Ziel, die Ratifizierung der revidierten europäischen Sozialcharta durch die Schweiz zu erreichen. Mehr dazu unter www.avenirsocial.ch Vortrag 11. Nov. 2015 an der FH Bremen
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15. Folie: Sie sollen uns Erwachsene fragen können, warum wir nicht lange vorher etwas unternommen haben, und sich später als Erwachsene daran erinnern, dass es an ihnen ist, Kinder zu schützen, auch solche, die ihnen fremd sind.5 16. Folie: Ich komme damit zum Schluss meines Referats: Als Professionelle sind wir alle – als Professionelle oder als angehende Professionelle auch Sie -­‐ speziell gefordert in diese Richtung zu lernen und zu arbeiten. 5
In der Schweiz ist zum Beispiel das Pflegekinderwesen noch immer äusserst unübersichtlich, so wird nicht einmal erfasst, wie viele Kinder ausserhalb ihrer ursprünglichen Familie platziert sind. Immerhin soll nun endlich die Pflegekinderverordnung revidiert werden. Mehr dazu unter: www.bsv.admin.ch, suchen unter «Pflegekinderverordnung». Vortrag 11. Nov. 2015 an der FH Bremen
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Literatur: Staub-­‐Bernasconi, S. (2011). Geleitwort. In H. Walz, I. Teske & E. Martin (Hrsg.), Menschenrechtsorientiert wahrnehmen -­‐ beurteilen -­‐ handeln. Ein Lese-­‐ und Arbeitsbuch für Studierende, Lehrende und Professionelle der Sozialen Arbeit (S. 16-­‐
33). Luzern: Interact. 17. Folie: Vortrag 11. Nov. 2015 an der FH Bremen
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