Christus im Nächsten - diakonische Spiritualität im Alltag leben

Christus im Nächsten - diakonische Spiritualität im Alltag leben
Vortrag beim Tag der Rummelsberger Gemeinschaften
15. Mai 2015 von Rektor Dr. Günter Breitenbach
Sehr geehrte Mitglieder der Rummelsberger Brüderschaft und der
Diakoninnengemeinschaft Rummelsberg, werte Gäste, meine lieben Schwestern und
Brüder,
"Christus im Nächsten. Diakonische Spiritualität im Alltag leben." Über diakonische
Spiritualität im Alltag soll ich heute früh zu Ihnen sprechen. Und über den
Bezugspunkt dieser Spiritualität: Christus und seine Gegenwart im Nächsten.
Das ist nun für Rummelsberger Diakone und Diakoninnen kein fremdes Thema,
sondern eher eines, das dem Identitätskern der beiden Gemeinschaften zuzuordnen
ist: Diakonie - Spiritualität - Alltag - Nächster - Christus. Alles Begriffe, die in der
gemeinschaftlichen Welt großgeschrieben werden und die zu Recht in den
Mittelpunkt dieses Tages der Gemeinschaften im Jubiläumsjahr stehen.
Ich kann aus meiner Erfahrung nur bestätigen: Eine handfeste diakonische
Alltagsspiritualität, das ist ein Markenzeichen Rummelsberger Diakone und
Diakoninnen, und es ist ein wertvoller Schatz in beiden Gemeinschaften. Es ist
vielgestaltig gelebte Praxis. Und es ist Ausdruck unseres Leitbildes und unserer
Identität.
Dies alles wird in Diakonie und Kirche geschätzt und gerne angenommen. Vor allem,
wenn deutlich wird, dass Diakone und Diakoninnen aus ihren geistlichen Auftrag
keinen berufspolitischen Mehrwert ableiten wollen.
Wer mit Rummelsberger Mitarbeitenden spricht, wird für die geistliche Prägung durch
die Gemeinschaften einen hohen Respekt finden, auch einen gewissen Stolz auf
unsere Kultur in Gottesdiensten, bei Einführungen und Verabschiedungen, in
Seelsorge und Andachtsleben, an Würde und Stil in den Häusern. Das alles bleibt
nicht ohne Wirkung.
Und wenn man im Lande herumfragt, wofür man Diakone und Diakoninnen schätzt,
dann wird häufig die Verbindung von Fachlichkeit und Frömmigkeit genannt, die sie
in ihrem Dienst auszeichnet. Ich freue mich, wenn Gemeinden und Einsatzstellen das
wahrnehmen, wenn sie bei Diakonen und Diakoninnen genau dieses suchen: Die
Verbindung von Diakonie und Spiritualität im Alltag.
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I. Spiritualität und Frömmigkeit
Erlauben sie mir, dass ich mit ein paar Klärungsversuchen beginne.
Spiritualität und Frömmigkeit
Nach allgemeinem Verständnis meinen beide Begriffe das Gleiche. Unter Spiritualität
ebenso wie unter Frömmigkeit versteht man eine bewusste Lebensführung in der die
Gegenwart des Heiligen. Diese findet ihren Ausdruck in Gebet und Meditation,
Erkenntnis und Weisheit, Mitgefühl und Toleranz, Ehrfurcht und Dankbarkeit. Es geht
um eine innere Haltung, um eine Erfahrung mit sich selbst. Sie erwächst aus der
aktiven Hinwendung an das transzendente Gegenüber und sie gewinnt Gestalt in
mitmenschlicher Praxis und religiöser Übung.
Natürlich kann man sagen, Spiritualität meint dasselbe wie Frömmigkeit, nur eben in
einer nicht so kirchlich vereinnahmten Sprache. Für mich gibt es dennoch einen
feinen Unterschied in der Akzentsetzung. Spiritualität klingt offener, unbestimmter,
individueller. Mehr auf die eigene Person und ihre Suche ausgerichtet als auf ein
vorgegebenes Glaubensgebäude. Frei von Dogmatismus und moralischer Enge.
Weniger mit der Autoritätsthematik belastet. Und nicht männerfixiert. Stärker auf die
Einübung geistlicher Formen ausgerichtet, auf das Überschreiten des Alltags, auf
besondere Orte und Zeiten.
Dennoch: Ich persönlich habe den Eindruck, dass über Spiritualität in den
vergangenen 25 Jahren eher zu viel gesprochen wurde. Und dabei ging es nach
meiner Beobachtung oft mehr um die Bedürfnisse und Erfahrungsmöglichkeiten des
Menschen als um das transzendente Gegenüber.
Ich nähere mich daher derzeit wieder vorsichtig dem alten Wort Frömmigkeit. Bei
allen seinen historischen Altlasten scheint mir der Begriff Frömmigkeit der weitere
und weltlichere zu sein. Er beschreibt unsere gesamte im Alltag gelebte
Gottesbeziehung. Er bezieht sich weniger auf bestimmte religiöse Formen und
Vollzüge, auf Übungen und Auszeiten, sondern beschreibt einen umfassenden
Gottesbezug im ganz normalen Leben. Eine Haltung der Offenheit, der Ehrfurcht und
der Treue gegenüber Gott, die aller Glaubenspraxis voraus liegt. Es geht um die
Gegenwart Gottes im Alltag, nicht um unsere vorläufigen und weltlichen Formen, ihm
Antwort zu geben.
Natürlich geben wir unserer Frömmigkeit Ausdruck in unserer Praxis Pietatis. Die
Formen, in denen dies jeweils geschieht, gehören in den Bereich der guten Werke.
Es ist gut, wenn wir eingeübte und reflektierte Formen unseres Gottesdienstes und
Gebets, unserer Gemeinschaft, unserer Schrifterschließung und unseres
Hilfehandelns haben. Und wenn wir dafür auch immer neue Formen finden. Aber sie
sind nicht die Sache selbst.
Was ist diakonische Frömmigkeit? Es ist eine ganz normale evangelische
Frömmigkeit, die ernst nimmt, dass ein Glaube ohne Werke tot ist. Es ist eine
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Frömmigkeit, die die diakonischen Erfahrungen und die sozialen Themen vor Gott
bringt. Nicht nur im Kontext der Diakonie, sondern überall dort, wo Menschen an
ihrem Platz im Namen Jesu für Gerechtigkeit und Frieden eintreten und
Nächstenliebe üben. Ganz ausgerichtet auf den Menschen. Und sensibel für die
Frage, wie Gott bei den Menschen gegenwärtig ist. Also eine Frömmigkeitsform, die
wir sehr häufig finden.
Eine besondere Prägung erfährt diese Frömmigkeit naturgemäß im Kontext der
Diakonie. Die Diakonie ist nüchtern und handfest, sach- und fachkundig. Sie weiß,
dass man wirtschaften muss, verwalten und bauen. Sie ist mit dem Menschen
vertraut in allen seinen Verrichtungen und Verwicklungen. Sie sieht ihn in allen
seinen Bezügen. Körperlich, seelisch, individuell und gemeinschaftlich. Sie
beschäftigt sich mit Lebenslagen und Lebenswelten, mit Chancen und vertanen
Chancen, mit dem Recht der Schwachen und mit himmelschreiendem Unrecht. Sie
weiß um Brüche, Verletzungen und Behinderungen. Sie ist diskret und würdigt das
Fragmentarische. Sie widmet sich der Pflege und der Begleitung bis zuletzt. Sie lässt
sich nicht abbringen von der Achtung und der Achtsamkeit. Sie fördert die Mündigkeit
und hält fest an der unveräußerlichen Würde des Menschen, die in seiner
Gottebenbildlichkeit gründet.
Das alles prägt eine diakonische Frömmigkeit. Sie sieht den Menschen in der
Gegenwart Gottes. Sie traut der Macht Gottes im Leben der Menschen. Und sie tut
ihren Dienst an den Menschen in Jesu Namen. Es ist ihr ein Herzensanliegen, den
Nächsten, der uns begegnet, als Gottes Kind wahrzunehmen, das Unansehnliche
nicht zu scheuen und angesichts der Ausweglosigkeiten und Abgründe dem zu
vertrauen, der uns erlöst hat. Sie wird konfrontiert mit dem Sinnlosen und
Ausweglosen, mit der Gleichgültigkeit und dem atemberaubend Bösen. Sie weiß
aber auch um die Realität von Sinnstiftung und Heilung, von Begegnung und
Gemeinschaft, von Versöhnung und Neubeginn. Unsere Frömmigkeit ist so
diakonisch, wie sie menschlich ist. So geistlich, wie sie weltlich ist. Sie ist so
christusnah, wie sie menschennah ist.
Was ist Alltagsfrömmigkeit? Sie ist nicht die Frömmigkeit des Sabbats, des Lobens
und Ruhens, des Festmahls und der Feierlichkeiten, der Gipfelerlebnisse und der
großen Tiefen, der Freizeit und der Auszeit. Sie ist die Frömmigkeit in der Zeit. In der
Endlichkeit der sechs Schöpfungstage. Es sind Tage des Gleichmaßes und des
Unverhofften, der Mühe und des Schmerzes, des Geboren Werdens und von der
Erde genommen Seins. Alltagsfrömmigkeit versucht, alle diese Tage durchzuhalten.
Sie stellt sich dem Augenblick und der sich mal dehnenden, mal rasenden Zeit.
Alltagsfrömmigkeit, das heißt: Gott ist da in alledem. Gott verbirgt sich. Er wird
gesucht und geleugnet. Er gerät in Vergessenheit und zeigt sich unter seinem
Gegenteil. Er wird Mensch und stellt sich allem, was menschenmöglich ist. Was
seinen geringsten Brüdern getan ist, ist ihm getan. Säkular sollen wir an ihn glauben,
alltäglich, diakonisch.
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Eine Frömmigkeit des Alltags braucht elementare Formen, die in unsere
Alltagsvollzüge eingehen. Nicht die umfassende Fürbitte, sondern das
sekundenkurze punktgenaue Gebet. Nicht die Bibel im Luthergriff, sondern das
Wiedererkennen eines biblischen Bildes oder Bezuges im Leben. Nicht der lautstarke
Gesang der Gleichgesinnten, die alles auswendig können, sondern das taktvolle
Treffen des richtigen Tones. Nicht die Auszeit, sondern die mühevoll
herausgeschundenen Minuten. Seelsorge zwischen Tür und Angel und kasuales
Handeln, weil die Lage da ist und einer jetzt etwas machen muss. Nicht das
Herausgehoben sein durch Talar oder Albe, sondern das den anderen gleich sein im
Alltagskleid. Alles alltäglich und unspektakulär. Aber eben auch alltagstauglich. Eine
Kunst, die nur ungekünstelt gelingt.
Alltagsfrömmigkeit oder -spiritualität beginnt also nicht mit der Suche nach
spirituellen Formen. Sie beginnt mit der Aufmerksamkeit für das, was geschieht.
Dieses geistlich zu durchdringen, darum geht es. Es mit Jesus in Verbindung zu
sehen. "Alle, was ihr tut, mit Worten oder mit Werken, das tut alles im Namen des
Herrn Jesus und dankt Gott, dem Vater, durch ihn." Kol 3,17.
Welche Rolle spielen Diakone und Diakoninnen bei der Entwicklung diakonischer
Alltagsspiritualität?
Es ist klar, dass eine diakonische Spiritualität nicht das Sondergut von Diakonen und
Diakoninnen ist. Wenn Diakone und Diakoninnen für eine diakonische Kirche und
eine kirchliche Diakonie eintreten, dann wollen sie das allgemeine Diakonentum der
Gläubigen fördern und ermutigen, es aber nicht ersetzen. Eine diakonische
Frömmigkeit und eine fromme Diakonie existiert unabhängig davon, ob es in einer
Gemeinde, einem diakonischen Werk oder in einer Einrichtung Diakone und
Diakoninnen gibt. Und sie existiert auch außerhalb der Diakonie.
Diakone und Diakoninnen schätzen es nicht, wenn der Eindruck erweckt wird, als sei
der sonntägliche Gottesdienst das eigentliche geistliche Ereignis. Diakone und
Diakoninnen schätzen es aber auch nicht, wenn das Diakonische zum allein noch
relevanten Rest des Christentums erklärt wird. Als existiere Gott nur noch als unsere
Liebe zum Nächsten. Nein, die Diakonie kann die Zukunft der Kirche nicht alleine
sichern. Ihr Anliegen ist der Zusammenhang von Wort und Tat, von Sonntag und
Alltag.
Weniger bedeutsam scheint mir die gelegentlich besprochene Frage, ob es in
unserer Mitte eine männliche und eine weibliche Spiritualität gebe und ob diese
Entscheidendes unterscheide. Ich will das nicht ausschließen, bin mir aber sicher,
dass Frauen und Männer sich nicht auf solche vorgegebenen Muster reduzieren
lassen wollen. Ich bin froh, dass die Mitglieder beider Rummelsberger
Gemeinschaften von demselben Grundimpuls leben, dass sie einander gegenseitig
inspirieren und die jeweiligen Eigenheiten und Befindlichkeiten respektvoll
dechiffrieren können.
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Wichtig scheint mir, dass wir uns nicht dazu verleiten lassen, Spiritualität zu
instrumentalisieren und funktional zu begründen. Etwa daraus, dass der diakonische
Dienst so stressig sei und dass man Spiritualität zum Aufatmen brauche und als
Prophylaxe gegen das Ausbrennen im Alltag. Oder daraus, dass es möglich sei, mit
Hilfe von Spiritualität als Alleinstellungsmerkmal die Diakonie am Markt zu profilieren.
Wir sollen Gott zweckfrei und ohne Nebenabsichten um seiner selbst willen verehren.
Diakone und Diakoninnen haben das Privileg, den Zusammenhang von Diakonie und
Frömmigkeit fachkundig zu durchdenken und sich in Formen diakonischer
Spiritualität gründlich einzuüben. Sie sind in eine Gemeinschaft hineingewachsen,
die diese Themen pflegt und viele Erfahrungen ermöglicht. Sie haben ein Bekenntnis
abgelegt und haben einen Auftrag anvertraut bekommen. Ihr Dienst strahlt aus und
ihre Haltung wird wahrgenommen.
Und doch stehen Diakone und Diakoninnen jeden Tag neu vor der Frage, wie sie
eine diakonische Haltung vorleben und fördern können, wie sie Klienten und Klienten
in ihrem Glauben begleiten, Mitarbeitende glaubwürdig motivieren und für eine
diakonische Kirche eintreten können. Und das alles als begrenzte, sündige
Menschen, mit allen Macken und Schrammen, die zu ihnen gehören oder die sie in
Rummelsberg und anderswo erworben haben.
II. Christus im Nächsten
oder: Der geistliche Schatz der Rummelsberger Gemeinschaften
Bei der Einweihung der frischgebackenen Landesdiakonenanstalt in der
Rollnerstraße 30 in Nürnberg am 2. Juni 1890 hat Ferdinand Reindel, der die
allerersten Brüder als Inspektor begleitet hat, einen wichtigen Satz gesagt. Er sagte
bei seiner ersten Ansprache zu den acht angehenden Diakonen: "Brüder sollt ihr
sein, Brüder für alle diejenigen, die der Herr Jesus, der unser aller Bruder worden,
die geringsten seiner Brüder nennt (Matth. 25, 40)."
Damit hat er den Grund für eine geschwisterliche diakonische Alltagsfrömmigkeit
gelegt. Und zwar für beide Gemeinschaften. Auch Diakoninnen sind Schwestern im
Sinne der Bibel. Und Schwestern haben Brüder. Also: Brüder und Schwestern lasst
uns sein. Weil Christus unser aller Bruder geworden ist.
Sie sollten darauf ansprechbar sein, dass sie Brüder oder Schwestern der Menschen
sind. Das habe seinen Grund in dem, was Jesus, der Herr, für uns alle gewesen sei:
Unser Bruder. Wahrhaft ein Mensch. Die Geringsten unter seinen Geschwistern habe
er besonders hoch geschätzt. Die am meisten zu tragen hatten, habe er am meisten
auf seinem Herzen getragen. Wenn am Ende das Gericht komme, dann werde er als
erstes nach ihnen fragen. "Was ihr einem von diesen meinen geringsten Brüdern
getan habt, das habt ihr mir getan."
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Und wir alle können und müssen und dürfen seither damit rechnen, dass Jesus uns
in den Geringsten seiner Schwestern und Brüder begegnet. Deshalb ist die
geschwisterliche Sorge füreinander der Kern unserer diakonischen Identität und die
Basis unserer Christusbeziehung. Christus ist wahrer Mensch geworden, damit wir
wahrhaft Menschen werden und damit wir einander Mitmenschen werden.
Als Brüder der Menschen sollten also die Brüder sich selbst verstehen. Als Brüder
durften die Leute sie anreden. Brüder sollten sie auch untereinander sein. Und Jesus
sei in ihrer Mitte. Damit entsteht eine Ebene von Gleichen. Da gibt es kein oben und
unten, sondern ein brüderliches Du oder ein brüderliches Sie im gegenseitigen
Respekt. Kein sich über andere Erheben, kein sich hinab Neigen zu den Armen,
keine Dominanz über die "uns anvertrauten Menschen", kein Versuch, ihnen unsere
eigenen Regeln aufzuzwingen.
Inspektor Reindel fuhr damals fort: "... Brüder sollt ihr auch untereinander sein. In
brüderlicher Eintracht und herzlicher Liebe sollt ihr untereinander verkehren." Das ist
die Grundlage dessen, was später gemeinschaftliches Leben genannt wurde.
Auch den Begriff Diakonie hat er von daher definiert: Als Dienst. Denn der
Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er
diene. Das war für Reindel diakonisch. Eine Dienstleistung gegenüber gleichrangigen
Geschwistern.
Bei Reindel blieb die brüderschaftliche Gemeinschaft dem diakonischen Auftrag klar
nachgeordnet. Aber sie war auch mit einer hohen, im Vorbild Jesu begründeten
Erwartung verbunden: brüderliche Eintracht und herzliche Liebe.
Ganz klar ist, dass Reindel das Selbstverständnis der jungen Gemeinschaft mit dem
Begriff Bruder entscheidend geprägt hat. Unser Jubiläum macht uns diesen Anfang
neu bewusst, in beiden Gemeinschaften.
Als die Brüder längst aufs Land nach Rummelsberg gegangen waren und als sie
dort nach 20 Jahren ihre Kirche bauten, war es wieder jenes Wort aus Matthäus 25,
40, das sie sich als Leitbild vor Augen stellten. Dieses Bild war nicht nur das Leitbild
ihrer sonntäglichen Spiritualität.
Die sieben abgebildeten Armenpfleger stellten ihnen vor Augen, wie elementar ihr
Auftrag im Alltag war: Essen und Trinken bereithalten, Kleidung für Entblößte und
Frierende, ein Dach über dem Kopf für Fremde und Freiheit für Gefangene, Hilfe in
Wort und Tat für Kranke und Begleitung bis zuletzt für Sterbende.
Im Brot des Lebens und im lebendigen Wasser die Erinnerung, dass Christus selbst
gehungert und gedürstet hat, dass er aber Brot und Wasser des Lebens ist, dass er
selbst nackt, gefangen und krank war, aber zugleich uns das Festkleid angezogen
hat, uns frei, ledig und los gemacht und uns geheilt hat an Leib und Seele.
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Ich bin der Meinung, dass hier der Kern der Rummelsberger diakonischen
Frömmigkeit bis heute gültig beschrieben ist. Dieses Bild führt uns zum Kern aller
Dinge, der Gegenwart Christi als Mensch unter Menschenkindern.
Und zugleich hilft es uns, die Menschen zu verstehen. Dass ihnen das Essen und
Trinken wichtig ist. Dass sie frei sein wollen und gesund. Dass sie ein Dach über
dem Kopf brauchen und einen Ort, an dem sie willkommen sind. Dass sie es warm
haben und gut aussehen und vor einander in Würde dastehen wollen und nicht nackt
und bloß. Dass sie sterben werden und im Sterben nicht allein sein sollen.
Eigentlich sind das die grundlegenden Überlebensrechte, die jedem Menschen
zustehen, eine Magna Charta der Humanität. Eine Leitlinie, was nötig ist, wenn die
Menschheit nicht im Chaos versinken soll. Und damit auch eine hochpolitische
Äußerung. Wir spüren in letzter Zeit wieder sehr deutlich ihre Aktualität. Dass uns
das "Fremde beherbergen" angesichts der aktuellen Flüchtlingsnot so angesprungen
hat, ist kein Zufall.
An den elementaren Lebensbedürfnissen setzt unsere diakonische Spiritualität an.
Es legt sich für uns nahe, geistlich besonders achtsam zu sein, für alles, was mit
Nahrung und Kleidung, mit Fremdsein und Gefangenschaft und mit Krankheit und
Sterben zu tun hat.
Und immer wieder im Schicksal der Menschen Jesus selbst wiederzuerkennen.
Hungernd, dürstend, fremd, nackt, gefangen, verletzt, sterbend. Ihn vor Augen
haben, das Brot teilend und den Krug reichend. Dem ein Hemd gebend, der keines
hat. Einladend. Befreiend. Heilend. Auferweckend. Und sein letztes Wort hörend:
"Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das für euch bereitet
ist vom Anbeginn der Welt."
III. Präsenz
Die Frömmigkeit des Alltags unterscheidet sich von der Sonntagsfrömmigkeit. Nicht
der Sabbat, sondern der Alltag, nicht das Rhythmisierte, sondern das Zufällige und
Spontane, nicht das Ruhen, sondern die Arbeit, nicht das Fokussierte, sondern das
Widersprüchliche, nicht das Symbolische, sondern das Konkrete, nicht das
Ausgesonderte, sondern das, was mittendrin geschieht, zwischen Tür und Angel,
unerwartet, unverhofft. Auch das, was Mühe macht und an die Substanz geht. Und
das, was mit einfachen Sprüchen nicht zu lösen ist, weil es Differenzierung und
Fachkunde erfordert. Das Nichtwissen und die Ungewissheit, die Entscheidung, in
der sich Gut und Böse nicht auf Anhieb sortiert. Auch das Krisenhafte, auch das
Scheiternde, das Fragment. Auch die unüberwindbare eigene Durchschnittlichkeit
und Sündhaftigkeit. Und die Gottferne, die sich nicht mit spirituellen Methoden
aufheben lässt. Und all das Schöne und Gute und zu Genießende natürlich auch.
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Diakone und Diakoninnen haben immer gewusst, dass sie mitten ins Leben gesandt
sind. Wo die Bruchstellen sind und die Verbindungen fehlen. Das scheint mir eine der
großen Stärken ihrer geistlichen Prägung zu sein. Dass sie das Leben der Menschen
kennen und teilen, macht einen Großteil ihrer Glaubwürdigkeit aus. Es ist ja der
Normalfall des Christseins, dass es sich nicht in Sonderwelten abspielt, sondern
mitten im säkularen Alltag.
Alltagsfrömmigkeit ist die Gabe, Gottes Gegenwart in alledem zu erkennen. Oder
ganz in der Welt zu leben im Angesicht des heiligen Gottes. Es geht um unser Da
sein - in dem Wissen, dass Gott längst da ist. Dass er da ist an diesem Ort. In
diesem Haus, bei diesem Menschen, Auf der Straße. Hinter der Leitplanke. In
Geräusch und Musik. Im Streit und im Schrei. Auf der Flucht und im vergossenen
Blut. Im Kreuz und im Sieg des Lebens. Gott ist da. Oft verborgen unter dem
Gegenteil. Aber er ist da.
Alle drei Glaubensartikel zeugen davon:
Gott ist in der Schöpfung, Gott ist als Menschen in die Welt gekommen, Und der
Geist wirkt. Es fällt nicht schwer, diesen Glauben an das Dasein des Dreieinigen auf
unseren diakonischen Alltag zu übertragen.
Gott hat uns ins Dasein gerufen und an unseren Platz gestellt. Wir haben ein Recht,
zu leben und hier zu sein.
Gott ist da. An diesem Ort. Bei diesen Menschen. Jetzt. Darum wollen wir Gott jetzt
und hier die Ehre geben.
Es geht um unsere Präsenz. Ganz da sein. Mit voller Aufmerksamkeit. Voll da sein.
Diakonische Präsenz ist eine freischwebende Aufmerksamkeit für das, was geschieht
und eine gespannte Erwartung, was Gott tut. Es ist das Schauen und Hören, das
Schmecken und Spüren, was der Gott mir jetzt sagen will, dessen Name lautet: Ich
bin da. Und der mich bei meinem Namen ruft. Und ich antworte: "Hier bin ich." Ich
lasse mich ein und entziehe mich nicht.
IV. Die Bibel alltagsbezogen lesen
Aus meiner Sicht ist das probateste Mittel, um den Alltag spirituell zu verstehen, die
Bibel. Ich bin ein Freund einer alltagsbezogenen Bibelauslegung. Ich suche den
Alltag in der Bibel und bekomme so einen biblischen Zugang zu unserem Alltag.
Biblische Frömmigkeit ist von Haus aus alltagsbezogen. Man muss sie nur so sein
lassen und nicht alles sofort bedeutungsschwer überhöhen.
Ich bin interessiert, was in der Bibel über Alltagsdinge steht. Über Steine, Bäume,
Ziegen, Esel, Schlüssel, Tore, über Quellen und Brunnen, über Schnee und Regen,
über Schiffe und Walfische, über Gefängnisse und Morde, über Streit und Frieden
und vielfältigste menschliche Erfahrungen. Und über die verschiedenen
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geschichtlichen Zeiten und über das, was sich durchzieht. Daraus schöpft meine
Frömmigkeit.
Aber es funktioniert auch umgekehrt. Ich nehme das, was ich aus der Bibel kenne, in
meinen Alltag mit. Man nennt das auch biblisches Assoziieren. Wenn ich etwas sehe
oder höre, fallen mir immer wieder einmal biblische Bezüge, Worte und Bilder ein.
Die helfen mir zu verstehen, sie weiten meinen Blick. Die Bibelworte sind einfach da.
Zunächst geht es dabei nur um meine eigene Wahrnehmung. Ich bemühe mich in
der Regel nicht darum, das den anderen zu erklären.
Manchmal geschieht es dann auch, dass ich ganz zwanglos von dem erzähle, was
mir durch den Kopf geht. Und weil sich mein Erzählen aus der Bibel in der Regel auf
etwas Reales bezieht, interessiert es die Leute auch. Die Bibel legt in unseren Alltag
die Verheißung der Gottesgegenwart hinein.
Freilich soll man auch die Begegnung mit der Bibel nicht diakonisch engführen. Die
Bibel lässt sich nicht domestizieren, auch nicht diakonisch. Sehr viel besser ist es,
sich auf die menschlichen Grunderfahrungen zu beziehen. Und sich nicht zu
scheuen, die Gegenwart des Heiligen in, mit und unter dem weltlichen Geschehen zu
bezeugen.
Die Vertrautheit mit der Bibel, die wir in unserem Dienst erwerben können, ist ein
großer Schatz und eine große Verantwortung.
V. Diakonie und Liturgie
Auch der Alltag hat seine Liturgien. Morgen und Abend, Tischgemeinschaft,
Begrüßung und Abschied, Festtag und Trauer. Der Jahreslauf und die unerwarteten
Ereignisse. In der Diakonie gibt es für solche Alltagsliturgien einen fruchtbaren
Boden. Man kann staunen, was da an verschiedenen Standorten alles gewachsen ist
und gepflegt wird.
Die Frömmigkeitspraxis der Gemeinschaften ist dafür Vorbild und Wurzelgrund. Ob
Brevier oder gestaltete Mitte, ob Wort oder Gesang, ob die gute alte Andacht oder
inspirierende Texte zum Weiterdenken. ob Wochenschluss oder Trauerversand, ob
verlässliche Fürbitte oder Abschiedskultur. Viele in der Diakonie wissen diese Kultur
zu schätzen, weil sie die Menschen wert schätzt und ihnen gut tut. Weil sie einfach
Form hat, weil sie würdig ist und von großer Einfachheit. Es ist gut, dass das so ist,
wie es ist. Es kommt nur darauf an, es ohne viel Aufhebens weiter zu pflegen.
Liturgie und Diakonie, das ist aber ein sehr viel weiteres Thema. Der Gottesdienst
thematisiert nicht nur die Diakonie, er wirkt diakonisch. Und Diakonie ist
Lebensliturgie. Gottesdienst im Alltag der Welt.
Ich will jetzt nur in aller Kürze daran erinnern, dass auch die Liturgie des Sonntags
allerlei Anschlussstellen für die diakonische Alltagspraxis enthält. Die diakonische
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Dimension des Gottesdienstes verweist unmittelbar auf Alltagsphänomene in der
Diakonie: Gabenbereitung, Tischgemeinschaft, Kollektenrede und Dankopfer,
Fürbitte für Menschen in Not als diakonisches Gebet. Und der Segen. Vor allem, was
im Alltag kommt, kommt der Segen. Alle Diakonie geht vom Altare aus. Wo Wilhelm
Löhe Recht hat, hat er recht.
VI. Geistliche Leitung und Managementspiritualität
Das ist jetzt ein sensibles Thema. So nötig und doch so sehr missbraucht. Geistliche
Leitung. Spiritualität und Management.
Als ich vor 25 Jahren in der Gemeindeakademie begonnen habe, darüber zu
schreiben, ist mir schnell klar geworden, dass Leitung in Kirche und Diakonie eine
geistliche Dimension hat. Dass sie eine hermeneutische Herausforderung ist. Denn
es geht darum, dass wir selbst uns leiten lassen und dass Gottes Volk seinen Weg
findet. Leitung ist aber nicht nur ein geistliches Geschehen. Die geistliche Funktion ist
sehr sorgsam zu beziehen auf die kommunikativen Prozesse und die
organisatorischen Notwendigkeiten in einem System.
Es kommt darauf an, Fachlichkeit, Christlichkeit, Wirtschaftlichkeit und
Kommunikative Kompetenz gut aufeinander zu beziehen.
Im Lauf der Jahre habe ich wie viele anderen auch erlebt, was Leitung in geistlicher
Verantwortung für eine Herausforderung ist. Und dass Leitung immer versucht ist,
Wahrheit und Liebe ebenso zu missbrauchen wie das Geld und die Macht. Und dass
für lebendige soziale Systeme hierarchische Konzepte und zweckrationale Modelle
nicht taugen. Dass es daher klare Verantwortungsstrukturen braucht. Und eine
Machtbalance braucht zwischen personaler Verantwortung, Gremien und freiem
Diskurs. Und dass am Ende alles nichts ist ohne das nicht machbare Geschenk der
gegenseitigen Achtung und des Vertrauens.
Das Geistliche lässt sich nicht instrumentalisieren und die Gaben des Geistes lassen
sich nicht produzieren. Aber die Wegweisungen und Winke kann man wahrnehmen,
durch die der Geist uns in alle Wahrheit leiten will. Wir alle, die wir hier sind, haben
Leitungsaufgaben. Und wir können einander in unserer Leitungsverantwortung
begleiten. Wir können einander darin unterstützen, uns von Gottes Geist leiten
lassen.
VII. Der geistliche Auftrag von Diakoninnen und Diakonen im Alltag
Diakone und Diakoninnen sind durch ihr Amt und ihren Auftrag dazu berufen, die
Gegenwart Gottes im Alltag zu bezeugen und das christliche Bekenntnis in Martyria,
Diakonia, Koinonia und Leiturgia zum Ausdruck zu bringen. Die Diakonia ist unser
Schwerpunkt. Sie selbst bringt es mit sich, dass wir in der diakonischen Situation den
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Blick zum Himmel heben, zu Gebet, Klage und Lobgesang: Leiturgia. Und dass wir,
wenn es uns gegeben wird, in der Situation ein Wort von Gott sagen: Martyria. Und
dass wir einen Platz am Tisch anzubieten: Koinonia.
Diakone und Diakoninnen sind Experten in der Alltagsspiritualität, in einer
Frömmigkeit, die Wort und Gebet und Gemeinschaft einbringt in die diakonische
Situation. In der Überzeugung, dass Christus längst schon da ist und eine
Geschichte begonnen hat mit diesem Menschen. Und mir durch diesen Menschen
etwas sagen will. Diakone und Diakoninnen sehen es als ihre Aufgabe, in ihren
Einrichtungen eine diakonische Alltagsfrömmigkeit vorzuleben und zu fördern. Sie
werden aber nicht den Eindruck erwecken, diese sei in erster Linie durch ihre eigene
Präsenz gewährleistet. Sondern sie zeigen ihre geistliche Tiefe darin, dass sie den
geistlichen Kern in den Alltagsäußerungen bei Kollegen und Klienten wahrnehmen
und würdigen.
Es ist ein gutes Zeichen, wenn sich in unseren Gemeinschaften eine reiche
Spiritualität im Alltag entfaltet. Es ist noch besser, wenn nicht viel Wesens darum
gemacht wird. Jesus sprach von stillen Kämmerlein und meinte, das Beten und
Fasten gehöre nicht auf den Markt. Es geht um den heiligen Gott. Und es geht um
die Menschen, in denen er sich finden lässt. Um deren Würde, die in der Einwohnung
Christi in ihnen gründet. Und um deren Geheimnis, in dem sich uns der
geheimnisvolle Gott erschließt. Als Jakob am Morgen erwachte, sprach er: "Wahrlich,
Gott ist an dieser Stätte und ich wusste es nicht."
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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