»Reflexion ist bei uns so selbstverständlich wie Tischabwischen« Das »Haus für Kinder am Hirzberg« in Freiburg betreut Kinder von drei bis zehn Jahren und versteht sich selbst als »lernende Organisation«. Esther Baron hat die Kindertageseinrichtung für uns besucht. D as Haus schmiegt sich an einen Hang. Rings herum nur Wiesen und Wald. Große Scheiben geben den Blick ins Tal frei. Unten im Freigelände knabbern Ziegen am winterlichen Gras. Hier sieht es nach Freizeit und Ferien aus. Hinter der idyllischen Fensterfront befindet sich aber eine sogenannte »lernende Organisation«. Das wiederum klingt für mich zunächst weniger nach Spaß als nach 22 Welt des Kindes 2/2014 harter Arbeit. Im Haus für Kinder am Hirzberg in Freiburg, einer städtischen Kindertageseinrichtung für Drei- bis Zehnjährige, ist dies aber kein Widerspruch. Tritt man durch die Tür, so wird schnell klar: Trotz des Charmes der »Villa Kunterbunt« ist hier nichts dem Zufall überlassen, und dennoch geht es lustig und entspannt zu. Bildung wird hier als gemeinsamer Konstruktionsprozess verstanden. Das Fotos: Haus für Kinder am Hirzberg Titel pädagogische Team hat sich zum Ziel gesetzt, im Spiel, Streit oder Spaß der Kinder Bildungspotenziale zu entdecken, aufzugreifen und zu begleiten. Das Haus bietet vielfältige Bildungsräume, in denen die Jungen und Mädchen ihren eigenen Interessen und Bildungswegen nachgehen können. Um die Selbstbildungsprozesse der Kinder anzuregen, sind die Räume so gestaltet, dass sie die Mädchen und Jungen auf hohem Niveau herausfordern und verlocken, sich mit Themen intensiv auseinanderzusetzen. Grundlage für die pädagogische Arbeit ist das offene Konzept von Regel/Wieland, mit verbindlichen Strukturen innerhalb des Tagesablaufs, sowie das infans-Konzept der Frühpädagogik. Dies sind die wesentlichen Bausteine, auf denen hier die Vorgaben des baden-württembergischen Orientierungsplans umgesetzt werden. Das infans-Konzept geht davon aus, dass das Kind Subjekt seines Bildungsprozesses ist, was radikale Konsequenzen für den Kita-Alltag hat: Die erzieherische Arbeit ist systematisch auf jedes einzelne Kind hin ausgerichtet. Jedes der Kindergartenkinder erhält einen eigenen Bildungsplan (Individuelles Curriculum), der sich an seinen Interessen und an seinem Wollen orientiert und einmal im Jahr überarbeitet wird. Ebenso erstellt die Kita für jedes Kind ein Portfolio, in dem seine Lern- und Entwicklungswege, mit wem es am liebsten spielt, welche Interessen und Begabungen es hat und mit welchen Themen es sich auseinandersetzt, dokumentiert werden – eine enorme Herausforderung für das pädagogische Team. Die Hortkinder – etwa ein Drittel der Kinder – erhalten ein Hortbuch, um Informationen zwischen Eltern und Kita auszutauschen, um Rückmeldung in Bezug auf die Hausaufgaben zu geben oder Termine einzutragen. »Wir beobachten jedes unserer Kinder sehr genau, und zwar das gesamte Team«, sagt Einrichtungsleiterin und infans-Multiplikatorin Maria Matzenmiller. Zur Erläuterung zeigt sie auf eine Liste mit Namen und individuellen pädagogischen Vorschlägen. »Hier zum Beispiel, da haben wir die vierjährige Klara (Name geändert), die ist zwar für ihr Alter sehr klein, steckt sich aber immer hohe Ziele, will immer hoch hinaus. Wenn sie diese nicht erreicht, ist sie frustriert. Eine pädagogische Antwort darauf war, ihr in der Bewegungsbaustelle Herausforderungen anzubieten: ein hohes Gerüst, Leitern und Materialien, damit sie im übertragenen Sinne ›hoch hinaus‹ konnte. In Begleitung durch die Fachfrau meisterte Klara schließlich die Höhen und war mächtig stolz.« Über jedes Kind wird zwei- bis dreimal im Jahr in der sogenannten fachlichen Reflexion mit dem ge- samten Team oder mit Teilen des Teams gesprochen. »Wir nehmen uns dafür jeweils etwa 50 Minuten Zeit«, berichtet Maria Matzenmiller. Obwohl das gesamte Team in die Beobachtung der Kinder eingebunden ist, so wird doch darauf geachtet, dass jedes Kind für die gesamte Kita-Zeit eine feste Bezugsperson an seiner Seite hat. Diese ist auch dafür verantwortlich, die jeweiligen Beobachtungen zu sammeln und im Portfolio zu bündeln und auszuformulieren. »Denn Voraussetzung aller Bildung sind immer gute, tragfähige Beziehungen. Erst wenn die Kinder Sicherheit in ihren Beziehungen gewonnen haben, sich in der Tageseinrichtung beheimatet fühlen, können sie sich aufmachen, die (Kita-)Welt zu erobern«, weiß die Leiterin aus Erfahrung. Sie weiß aber auch, dass eine solche Arbeit ohne Zeit- und Personalressourcen nicht zu machen ist. Am Hirzberg arbeiten sieben pädagogische Fachkräfte, viele in Teilzeit. »Ich habe das Glück, einen Stamm guter Leute zu haben, die mit mir in die gleiche Richtung schauen und das Konzept voll mittragen«, sagt die Leiterin. Auch neu eingestellte Mitarbeiterinnen müssen die Bereitschaft haben, sich auf das Konzept der Einrichtung einzulassen. Eine vertrauensvolle Atmosphäre Was für die Kinder gilt, gilt auch für das pädagogische Team. Da, wo die eigenen Interessen und Leidenschaften liegen, da ist man auch als Pädagoge am besten und kann sich mit seiner Persönlichkeit optimal einbringen. Deshalb ist der Erzieher, der gern draußen und im Wald unterwegs ist, für den Außenbereich zuständig, die Kollegin, die gerne künstlerisch arbeitet, betreut das Atelier und der, der gerne kocht, backt Plätzchen mit den Kleinen oder rührt die Gemüsesuppe zusammen. »So können wir pädagogische Arbeit auf sehr hohem Niveau erreichen«, meint Maria Matzenmiller. Wichtig ist ihr, dass alle Teammitglieder sich immer wieder auch selbst als Lernende verstehen. »Die permanente Reflexion unserer Arbeit und die Frage, warum wir was wie tun, ist für uns so selbstverständlich wie Tischabwischen.« So werfen die Erzieherinnen in den Teamsitzungen, die jede Woche fest in den Wochenplan der Einrichtung eingeplant sind, auch immer wieder einen Blick auf die eigene Biografie. Fragen sind hier: Warum möchte ich dieses oder jenes Erziehungsziel vermitteln? Wie habe ich selbst gelernt? An welchen Stellen muss ich 2/2014 Welt des Kindes 23 Erziehungsleistungen, die zuvor in der Familie lagen, an die Kindertageseinrichtung über. Am Hirzberg stellt man sich dieser Herausforderung, indem immer wieder neu überlegt wird: Was müssen wir übernehmen, wie müssen wir es übernehmen, was brauchen wir, reicht es aus, was wir tun? Herausfordernde Räume und Materialien Im Atelier der Einrichtung können die Kinder mittlerweile ungestört kreativ sein. an mir arbeiten? Was macht die jeweilige Situation mit mir? »Eine Kollegin beispielsweise hatte sich gefragt, warum sie immer so streng ist und von den Kindern fordert, den Teller leer zu essen. Beim Blick in die eigene Kindheit wurde ihr vieles klar«, berichtet die Leiterin. »Solche Prozesse sind manchmal schwierig, auch negative Emotionen können hochkommen. Meine Rolle als Leiterin ist es, eine vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen, die eine Auseinandersetzung ermöglicht. Jeder im Team kann dann auch besser verstehen, warum ein Kollege, eine Kollegin so tickt, wie er/sie tickt, und auch das ist wichtig für unsere Arbeit.« Auf den Prüfstand kommen auch immer wieder Erziehungsziele und die Nutzung der Räume. Beispielsweise haben früher die Hortkinder nachmittags im Atelier ihre Hausaufgaben gemacht. Das hat nicht recht zusammengepasst und die künstlerische Arbeit behindert. So wurden die Hausaufgaben in einen anderen Raum verlegt, und der Kreativraum konnte sich zu einem wirklichen Atelier entfalten. Wichtige Überlegungen sind immer: Sind die Erziehungsziele, die wir heute haben und an die Kinder weitergeben, auch zukunftsfähig? Lernen die Kinder hier wirklich die Dinge, die sie in 20 Jahren als Erwachsene voraussichtlich benötigen? Ein weiterer wichtiger Themenkomplex ergibt sich aus veränderten gesellschaftlichen Bedingungen. Immer mehr Kinder werden ganztags in der Einrichtung betreut, also gehen viele 24 Welt des Kindes 2/2014 Die Innenräume und der Außenbereich der Einrichtung sind durchdacht gestaltet. Es gibt inhaltlich strukturierte Bereiche, sogenannte Bildungsinseln. In der Schreibwerkstatt etwa stehen eine alte Schreibmaschine, Buchstabenkärtchen, Federhalter und Tinte, daneben ist die gemütliche Leseecke, ein Podest mit Blick hinunter auf die Stadt. »Schau hier, das Buch liest meine Mama für mich«, sagt ein Mädchen, das sich gerade mit einer CD am CD-Spieler zu schaffen macht. Ihre Mutter hat ihr im Rahmen der Buchwoche den Text eines Buchs auf den Tonträger gesprochen. Eine Freundin kuschelt sich dazu. Im Bereich für Mathematik gibt es Messgeräte, vom Zollstock bis zur Waage, Spiele mit geometrischen Bauteilen. In der Küche wird gebacken. Es riecht nach Plätzchen. Die Kinder sind am Wiegen und Messen, am Teigausrollen und Kneten. Im Atelier herrscht ein munteres Geplapper, während die Kleinen mit Kleber und Schere zugange sind. »Wie möchte ich wohnen?«, war ein Thema, mit dem sich die Kinder beschäftigt haben. Es entstanden Iglus aus Pappmaché oder japanische Raupenhäuser aus weißen Papierstreifen. Sie sehen aus wie Designobjekte aus einem Architekturbüro. »Ich bin ein T-Rex!« »Und ich ein Flugsaurier!«, hört man aus der Ecke für das Rollenspiel. Dort toben vier Jungs, mittendrin eine Erzieherin, die wohl gerade als Fressopfer herhalten muss. »Autsch! Das hat aber wehgetan!«, brüllt einer der Jungs. »Also machen wir alle weniger wild«, schlägt ein anderer aus der Gruppe vor − und schon haben sie wieder etwas gelernt. Esther Baron Referentin im Referat Publizistik beim Deutschen Caritasverband, Freiburg.
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