als PDF - Französischen Kirche zu Berlin

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Pfarrer Dr. Bernd Krebs – Beauftragter der EKBO für das Reformationsjubiläum und den Kirchentag
2017
Predigt über Psalm 139 am Sonntag Septuagesimae (24.1.2016)
anläßlich des „Kirchentagssonntag“
in der Französischen Friedrichstadtkirche Berlin-Mitte
139.1Ein Psalm Davids, vorzusingen.
HERR, du erforschest mich und kennest mich.
2Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es; du verstehst meine Gedanken von ferne.
3Ich gehe oder liege, so bist du um mich und siehst alle meine Wege.
4Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge, das du, HERR, nicht schon wüsstest.
5Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir.
6Diese Erkenntnis ist mir zu wunderbar und zu hoch, ich kann sie nicht begreifen.
7Wohin soll ich gehen vor deinem Geist, und wohin soll ich fliehen vor deinem Angesicht?
8Führe ich gen Himmel, so bist du da; bettete ich mich bei den Toten, siehe, so bist du auch da.
9Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer,
10so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten.
11Spräche ich: Finsternis möge mich decken und Nacht statt Licht um mich sein –,
12so wäre auch Finsternis nicht finster bei dir, und die Nacht leuchtete wie der Tag. Finsternis ist wie
das Licht.
13Denn du hast meine Nieren bereitet und hast mich gebildet im Mutterleibe.
14Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke; das erkennt
meine Seele.
15Es war dir mein Gebein nicht verborgen, / als ich im Verborgenen gemacht wurde, als ich gebildet
wurde unten in der Erde.
16Deine Augen sahen mich, als ich noch nicht bereitet war, und alle Tage waren in dein Buch
geschrieben, die noch werden sollten und von denen keiner da war.
17Aber wie schwer sind für mich, Gott, deine Gedanken! Wie ist ihre Summe so groß!
18Wollte ich sie zählen, so wären sie mehr als der Sand: Am Ende bin ich noch immer bei dir.
19Ach Gott, wolltest du doch die Gottlosen töten! Dass doch die Blutgierigen von mir wichen!
20Denn sie reden von dir lästerlich, und deine Feinde erheben sich mit frechem Mut.
21Sollte ich nicht hassen, HERR, die dich hassen, und verabscheuen, die sich gegen dich erheben?
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22Ich hasse sie mit ganzem Ernst; sie sind mir zu Feinden geworden.
23Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz; prüfe mich und erkenne, wie ich's meine.
24Und sieh, ob ich auf bösem Wege bin, und leite mich auf ewigem Wege.
Liebe Gemeinde !
„Du kennst mich doch“ – sage ich manchmal, halb entschuldigend, halb um Verständnis bittend. Weil
ich mal wieder aufgebraust bin oder einen Wortwechsel weiter befeuert habe, statt einfach mal den
Mund zu halten. „Du kennst mich doch“ heißt dann: „es tut mir leid. Ich hab`s mal wieder nicht
geschafft“.
Gut, wenn man dann einen Partner hat, der mit solchen Ausrastern umzugehen weiß: „Ich kenn dich
doch“. Das hilft mir, wieder runter zu kommen und die Scham über meine Unfähigkeit auszuhalten.
Sich der verständnisvollen Nähe eines Anderen, einer Anderen versichern zu können – Jeder/Jede
weiß, wie nötig wir das haben, denn es können sich im Laufe eines Lebens noch ganz andere
Abgründe auftun, gegen die solch gelegentliches Aufbrausen eine Petitesse ist. Wenn Zweifel in
Verzweiflung umschlägt und Unglaube sich über das schiebt, was einem lange gewiss erschien, ist es
lebensrettend, wenn es dann Jemandem gibt, dem man sich anvertrauen darf und der einem Halt
gibt.
Das Lesen und Beten eines Psalms hilft mir oft, den widerstreitenden Gefühlen Ausdruck zu verleihen
und meine Gedanken zu ordnen. Denn kein anderer Teil der Bibel widerspiegelt in so vielfältiger
Weise das Auf und Ab unseres Leben – Angst und Ratlosigkeit, Wut und Schmerz, Trost und
Hoffnung, Dankbarkeit und Freude.
Im Laufe der Jahre ist mir dabei der 139.Psalm einer der liebsten geworden. Wenn ich ihn lese, laut
lese, erfüllt mich eine große Gelassenheit und ein Gefühl innerer Ruhe
Der HERR hält seine Hand über mir. Was immer mich umhertreibt, er kennt meine Gedanken von
ferne. Er weiß um meine Abgründe, meine Zweifel, meine Verzweiflung. Und selbst in tiefster
Finsternis wäre das, was mir als „finster“ erscheint, von IHM her nicht „finster“, weil auch dort sein
Licht leuchtet.
Manchmal frage ich mich jedoch, ob ich mir den Psalm 139 nicht im Laufe der Zeit
„schön“ gelesen
habe, mir Gott „kommod“ gemacht habe. Denn ich weiß: auf nicht Wenige übt der Psalm 139 eine
ganz andere Wirkung aus. Die Bilder und Vergleiche, mit denen hier Gottes Nähe beschrieben wird,
hat für sie etwas Bedrohliches. Was mich tröstet. empfinden andere als unerträglich: „Ich gehe oder
liege, so bist du um mich und hältst deine Hand über mir. … Und nähme ich Flügel der Morgenröte
und bleibe am äußersten Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Recht mich
halten.“.
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So deckt die Begegnung mit dem Psalm 139 die Gottesbilder auf, die wir in uns tragen – oder anders
gesagt, der Psalm 139 fordert uns heraus, den Zugängen auf die Spur zu kommen, die uns im Laufe
des Lebens zum Glauben geöffnet wurden. In ihnen widerspiegeln sich die Lebensumstände, das
Lebensumfeld, in dem wir aufgewachsen sind bzw. in dem wir bis uns vielleicht bis heute bewegen.
Wer in einer Welt aufgewachsen ist wie die, die im Film „Das weiße Band“ auf bedrückende Weise
nachgezeichnet wird, dessen Zugänge zum Glauben sind Gewalt – und Angstbesetzt und mit ihnen
auch die Gottesbilder. Mag sein, dass es ein solches Milieu, wie in dem Film beschrieben, heute nur
noch rudimentär, am Rande unserer Gesellschaft gibt, vielleicht in mancher Sekte. Doch wessen Weg
zum Glauben davon bestimmt war, der wird sich aus dem zu lösen versuchen, sobald er/sie die
Mechanismen durchschaut hat, die dort wirkmächtig sind.
„Gottesvergiftung“ – so hat der Psychoanalytiker Tilmann Moser seinerzeit sein Manifest betitelt, in
dem er den zweifelhaften Gotteserfahrungen seiner Kindheit nachspürte. Wenn Moser urteilt „Du
(Gott) blühst aus der Lebensangst meiner Vorfahren“, dann spiegelt sich hier wieder, was
Generationen erfahren und viele dann – wie Moser - vom christlichen Glauben weggetrieben hat.
„Du (Gott) blühst aus der Lebensangst meiner Vorfahren“ - das ist eine Klage, die dem Leiden an
Gott auf geradezu biblische Weise Ausdruck verleiht!
Natürlich hat auch Johannes Calvin den 139.Psalm ausgelegt. Hinter fast jedem Satz seiner
Auslegung hört man den Vorwurf: dass wir Menschen alles daran setzen würden, uns Gott und
seinem Wort, zu entziehen, um so ungestörter unseren zweifelhaften Vorhaben und Gelüsten frönen
zu können. Doch – so Calvin – „alle Fluchtversuche sind unnütz“. Und weiter: „Wenn denn keine
Schnelligkeit mich den Blicken Gottes entreißen kann, so mag das Licht erlöschen und Finsternis
kommen, mich eine Zeitlang zu verbergen, dass ich solange wenigstens Luft kriege. Aber auch dies ist
umsonst, da Gott in den dichtesten Finsternissen nicht weniger scharf sieht als am Mittag“.
Da ringt man dann tatsächlich um Luft und erschauert. Ist es wirklich so, dass wir Menschen, wo
immer möglich ist, Gott auszuweichen versuchen? Was für eine Anthropologie, noch mehr: was für ein
Bild von Gott steht hinter solchen Deutungen. Ist der Mensch, sind wir Menschen nicht auch darauf
gerichtet, Halt zu finden, Trost und Bestärkung zu erfahren? Ja, ich weiß, wenn wir meinten, Halt,
Trost und Bestärkung in uns selbst zu finden, würden wir nur auf uns selbst zurückgeworfen – wir
wären der „in sich selbst verkrümmte Mensch“ wie Martin Luther es einmal ausdrückte.
Aber ist das die „ganze Botschaft“ der Heiligen Schrift, um es mal ganz steil zu formulieren? Müssen
wir erst dem richtenden Gott begegnen, um den barmherzigen Gott lieben und ehren zu können?
Geradezu Wasser auf die Mühlen sind für Calvin die Verse, in denen der Beter die „Gottlosen“
anklagt. Stehen diese doch prototypisch für die menschliche Grundhaltung, ihr Tun vor Gott verbergen
zu wollen. Wenn der Beter sich von diesen in aller Schärfe distanziert - „ich hasse sie“ – dann darin
kommt darin zum Ausdruck: „Indem er (der Beter) sich vor Gottes Richterstuhl stellte und bedachte,
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dass er der Hand dessen nicht entfliehen könne, der mit seinem Augen in den tiefsten Abgrund dringt,
hat er sich`s zum Gesetz gemacht, ein Leben in Gottesfurcht und Heiligkeit zu führen“.
Soweit
Johannes Calvin.
Es mag ja sein, dass Kirche und Theologie heute
von einer harmoniesüchtig säuselnden
Grundstimmung geprägt sind, die sich– positiv stimulierend wie der Musikteppich im Kaufhaus –
über alles legt. „Don`t worry – be happy“ . Es mag sein, dass wir die skeptisch-kritische Sicht Calvins
nötiger haben denn je und die Leidenschaft eines Martin Luthers, der zuspitzte und seine Gegner
nicht schonte, und der darum auch Feinde hatte.
Doch mit Hans Joachim Kraus, dem (ich meine) immer noch wichtigsten Psalmausleger der letzten
Jahrzehnte – schlage ich vor, den Psalm 139 von jenen Schlussversen her zu lesen, in denen der
Beter seine Verzweiflung und seine Wut vor Gott bringt über jene, die ihm Unrecht getan haben.
Worin immer dieses Unrecht bestanden haben mag, wir wissen es nicht. Hier aber liegt der
biographische Ausgangspunkt, der „Sitz im Leben“ des 139.Psalm. Und damit schließt sich uns auf,
worum der Beter in gesamten Psalm ringt – um die Gewissheit, dass es keinen Ort gibt, an dem
Gottes Hand uns nicht umfängt, schützt und leitet, ob im Himmel, oder auf Erden, oder im Reich der
Toten. Diese Erkenntnis aber ist - in der Tat – zu wunderbar und zu hoch, als dass wir sie begreifen
könnten.
Gott ist der – wie es in der Hagar-Geschichte heißt – „der mich (an) sieht“. Der sich einer
Ausgestoßenen und ihres Sohnes annimmt, der – wie Maria es dann bezeugen wird – die Niedrigen
aus dem Staub hebt und die Mächtigen vom Thron stürzt, die Hungrigen sättigt und die Reichen leer
ausgehen lässt. Das ist das Evangelium von der richtenden Gnade Gottes im Alten wie im Neuen
Testaments.
Denn SEINE Augen sahen uns, als wir noch nicht bereitet waren, und alle Tage waren in sein Buch
geschrieben, die noch werden sollten.
So bleibe ich denn bei dem, was ich anfangs sagte: Wenn ich den 139.Psalm lese, laut lese, erfüllt
mich eine große Gelassenheit und ein Gefühl innerer Ruhe.
Der HERR hält seine Hand über mir. Was immer mich umhertreibt, er kennt meine Gedanken von
ferne. Er weiß um meine Abgründe, meine Zweifel, meine Verzweiflung.
Doch keine Finsternis, in die ich gelangte, wäre finster bei ihm. Und selbst die Nacht leuchtete bei ihm
noch wie der Tag.
Was brauche ich mehr zum Leben (und zum Sterben): als eben diese Gotteseinsicht – oder
altertümlich gesprochen: solche Gottesfurcht.
Amen.