Henriette darf in die Grundschule Angern gehen

Mitteldeutsche Zeitung - Henriette darf in die Grundschule Angern gehen
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Mitteldeutschland - 28.08.2015
Nach langwierigem Kampf
Henriette darf in die Grundschule Angern gehen
VON KATRIN LÖWE
Das Ende für die Grundschule in Angern war längst entschieden.
Nach einem Jahr Unterbrechung lernen nun doch wieder
Erstklässler im Börde-Ort. Auch die sechsjährige Henriette gehört
dazu. Das Engagement der Angeraner macht’s möglich.
ANGERN. Henriette ist sechs, ein kleines Mädchen mit blonden
Haaren und entzückender Zahnlücke, das sich vor allem auf eines
freut: „Auf die Schultüte“, sagt sie. Na ja, und darauf, dass sie wohl
neben ihrer besten Freundin Mariella sitzen wird, wenn der Unterricht
Die sechsjährige Henriette wird an diesem losgeht. So erfrischend einfach ist das für eine Sechsjährige. Dass es
Wochenende in Angern eingeschult. Lange alles andere als selbstverständlich ist, in diesem fröhlich gelben
war fraglich, ob sie nicht in einen
Schulbau in Angern (Börde), nur einen Katzensprung entfernt vom
Nachbarort muss.
Elternhaus das ABC zu lernen, spielt in ihrer Gedankenwelt noch
keine Rolle.
In der ihrer Eltern schon. Denn das Szenario schien lange Zeit real: Eine halbe Stunde Fahrtweg mit dem
Schulbus hätte Henriette morgens zur nächsten Grundschule in einem der Nachbarorte in Kauf nehmen
müssen, nachmittags bis zu eine Stunde. „Da bleibt für vieles keine Zeit mehr“, sagt Vater Denny Eichstädt. „Das
ist Stress für die Kinder.“ Stress, der auch Henriette geblüht hätte. Das Aus der kleinen Dorfschule in Angern war
längst besiegelt. Trotz eines Proteststurms aus dem Dorf, trotz eines Bürgerentscheides in der
Verbandsgemeinde im Jahr 2013 - der Ort verlor. Er konnte zum damaligen Zeitpunkt nicht die geforderten
Schülerzahlen aufbringen. Und die Entscheidung fiel zugunsten der Schule im benachbarten Burgstall. Im
Herbst 2014 wurden die Erstklässler aus Angern schon dort eingeschult. 54 Grundschulen hat seit 2011 das
gleiche Schicksal ereilt: Sie mussten schließen. 31 waren es allein 2014, nachdem das Land die Vorgaben für
Mindestschülerzahlen verschärft hat.
Nie aufgegeben
In Angern hätte man nun aufgeben können. Die Einschulung in Burgstall war ein Fix-Punkt, an dem viele das
wahrscheinlich getan hätten. Noch dazu: Der Versuch, eine freie Schule zu gründen, war kurz zuvor gescheitert.
„Für das Kultusministerium hat sich unser Konzept nicht genug von den staatlichen Schulen abgehoben“, sagt
Ortrun Horstmann, Landwirtin und Vorsitzende des Schulfördervereins.
Aufgeben war für die Angeraner dennoch keine Option. Das Dorf mit seinen fünf Ortsteilen, im Kern rund 1.300
Einwohner groß, stemmt sich gegen die demografische Entwicklung. Acht junge Familien haben zuletzt gebaut.
„Und wenn hier eine Wohnung frei wird, stehen gleich drei, vier neue Bewerber auf der Matte“, sagt
Ortsbürgermeister Egbert Fitsch (parteilos). 20 Prozent der Bewohner, schätzt er, haben schulpflichtige Kinder.
Ob das so geblieben wäre? Ohne Schule? Ob Angern weiter junge Menschen angezogen, ein Dorfleben mit all
der Infrastruktur gehabt hätte, die noch da ist? Lebensmittelladen, Gaststätte, Apotheke, Rettungsstation,
Kindergarten - all das ist längst nicht mehr selbstverständlich auf dem Land.
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Auch Angern fürchtete darum. Und wagte einen neuen Anlauf: Der Schulförderverein, mit über 150 Mitgliedern
zweitgrößter im Ort nach den Sportlern, stellte Ende 2014 einen zweiten Antrag beim Land auf Zulassung einer
freien Schule. Im Juni fand sie die Zusage im E-Mail-Postfach, erzählt Horstmann. „Wenn ich daran denke,
kriege ich heute noch Gänsehaut.“
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Nach einem Jahr Pause wird an diesem Wochenende wieder eine erste Klasse in Angern eingeschult, zwölf
Kinder. Die ehemalige Direktorin, vor anderthalb Jahren in Rente gegangen, wurde zurückgeholt. Dazu kommen
zunächst vier Honorarkräfte. Unter ihnen ist ein Englisch-Muttersprachler, der den bilingualen Unterricht
absichert - neben Umweltfragen ein wesentlicher Aspekt im neuen Konzept. Es war viel Arbeit, vor allem für den
Verein als Träger. Doch auch, als nach dem Okay im Juni noch jede Menge Bürokratie anstand, Räume
renoviert wurden: „Ich hatte immer das Gefühl, dass das ganze Dorf beteiligt ist“, sagt Horstmann.
Drei Jahre Eigen-Finanzierung
Die staatliche Schule schließt, eine freie wird gegründet - was zunächst so einfach klingt, ist alles andere als
das. „Zu uns kommen häufig Initiativen und lassen sich beraten“, sagt Jürgen Banse, Landesgeschäftsführer im
Verband deutscher Privatschulen. „Vom größten Teil hören wir nie wieder etwas - dem sind die Hürden zu hoch.“
Ein Trend, geschlossene öffentliche Grundschulen durch freie zu ersetzen, sei nicht erkennbar, heißt es denn
auch beim Kultusministerium. Zu den Hürden gehört neben einem ausgefeilten Schulkonzept und dem Nachweis
von Personal bereits mit dem Antrag im Jahr zuvor insbesondere die Finanzierung. In den ersten drei Jahren
gibt es keine staatliche Unterstützung. Rund 380000 Euro mussten laut Horstmann in Angern für diese Zeit
sichergestellt werden. Dazu tragen Schulgeld, Vereinsbeiträge und viele Sponsoren bei. Ein Kredit ist für den
Notfall vereinbart. Und 50000 Euro pro Jahr schießt die Gemeinde zu. „Da gab es im Rat keine Diskussion“, sagt
Bürgermeister Fitsch. Angern ist in der komfortablen Lage, nicht verschuldet zu sein.
Für die kommenden zwei Jahre herrscht nun im Ort eine besondere Situation: Neben der freien Schule, die
zunächst nur mit der ersten Klasse startet, existiert im selben Gebäude noch die staatliche mit der dritten und
vierten Klasse. Die Verbandsgemeinde hatte einst beschlossen, dass bereits eingeschulte Kinder bis zum Ende
der Grundschulzeit in Angern bleiben - und dies zuletzt auch gegen den ursprünglichen Willen des
Landesschulamtes durchgesetzt.
Für Henriette und ihre Eltern, für Angern hat sich der Grundschul-Zwist nun erstmal zum Guten gewendet. Sie
sei bereit, dafür 50 Euro Schulgeld im Monat zu zahlen, sagt Friederike Eichstädt, selbst Zahnärztin im Ort.
Geringverdienern kann der komplette Betrag oder Teile davon erlassen werden.
Bürgermeister Fitsch wäre froh gewesen, es hätte die Schuldebatte gar nicht erst gegeben. Auch er ist aber nun
zufrieden. „Und glücklich, dass das Dorf so zusammengehalten hat.“ Demnächst soll neues Bauland
ausgewiesen werden. Junge Familien können kommen. (mz)
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Schulschließungen in Sachsen-Anhalt: http://www.mz-web.de/mitteldeutschland/schulschliessungen-in-sachsenanhalt-weniger-grundschulen-vor-dem-aus,20641266,27307682.html
Weitere Schulschließungen in Sachsen-Anhalt?: http://www.mz-web.de/mitteldeutschland/weitereschulschliessungen-in-sachsen-anhalt--urteil-laesst-schulen-hoffen,20641266,29620634.html
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