Predigt-Slam in Stuttgart am 6. Juni 2015 Auf dass ihr klug werdet

Predigt-Slam in Stuttgart am 6. Juni 2015
Auf dass ihr klug werdet (Johanna Klee)
Liebe Leute, lest mehr in der Bibel,
auf dass ihr klug werdet!
Die Bibel ist ja bekanntlich nicht nur ein Buch,
nein, sie ist eine wahre Bibliothek!
Eine Sammlung vieler Bücher,
sogar das Buch der Bücher!
Die Bibel!
Ein Hort goldverzierter Folianten,
Ein feines Netz aus Wörterfäden,
Ein Sagenbuch mit sieben Siegeln,
Wohl Sammelsurium der Varianten.
Eine Bibliothek!
Doch wenn ich an meine Bücherschränke zu Hause denke,
Dann blicke ich eine Sammlung von Obskuritäten,
Da stehen Schleiermacher und Barth beieinander,
Und Shades of Grey möcht’ Harry Potter die Blöße geben.
Lutherdeutsch und Gerechte Sprache reichen sich die Hand,
Der Steppenwolf harrt im Spieltrieb neben den Gebrüdern,
Arthur Dent erträumt Kein Ort. Nirgends im Labyrinth
Und Riemann tanzt mit Kafka im Wechselschritt zum Strand.
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Liebe Leute, lest mehr in der Bibel,
lest mehr in der Bibel auf dem Kirchentag!
Oh Stuttgart!
Bei 32 Grad im schönen Ländle,
In Bahn und Zelt die Massenhitze,
amtliche Sprinkler kühl’n erhitzte G’müter,
Hofbräu und Maultasch’n erfreuen beim Ständle.
Aber ja nicht das Trinken vergessen!
Der Kirchentag!
Steffensky predigt gegen das Rosinenpicken,
Um nicht die biblischen Filetstücke nur aufzuzeigen,
Und über den Rest mit peines Scham zu schweigen:
Denn dem Paradoxon gilt das Lob!
Zum Beispiel!
Veganismus ist nur bis zur Sintflut zu ertragen,
Wildhonig und Heuschrecke sei deine Speis’,
Bei zweierlei Stoff musst du dich plagen,
und siehe, fürchte dich vor Jaels Pflock und Judiths Beil!
Eine Frau in der Kirche zur Ehre Gottes gefälligst schweige,
Doch fiel Eutychos bei Paulus aus dem Bau.
Du sollst nicht bei einem Manne wie bei einem Weibe,
Doch liebte David den Jonathan mehr als eine jede Frau.
Aber Psst: Erotik steht unter Verdacht.
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Liebe Leute, lest mehr in der Bibel!
auf dass ihr klug werdet!
Lest in der Bibel voll ehrwürdiger Weisheit,
wie die Jüngsten schon loben, die Ältesten schon sagen,
sind doch die Adressaten solcher Weisheit,
nicht immer ein weisheitlich-begabtes Kirchentagspublikum,
das bei Kaffee mit Orangenblüten-Geschmack
preisen kann ohne verzagen.
Also lest in der Bibel mit Ruhe und Bedacht,
Mit Frühling im Kopf und Feuer im Herz,
Bis über alles sich breite der Schirm des Schweigens,
Und nur der göttliche Logos halte seine Wacht,
damit der Eine ergreife das Wort.
So entsteht ein Riss im Firmament
jenseits des Schirms das Unterbrechen des Winds,
und eine Stimme voll schwebenden Schweigens tönt ganz tragend,
wie es bei Elia auf dem Horeb einst geschah:
„Mensch, was willst du eigentlich hier?
Ist doch wegen Überfüllung schon geschlossen!“
Amen.
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