Jonas Klug & Ulrike Lichtinger Gute Schulen durch individuelles und

Jonas Klug & Ulrike Lichtinger
Gute Schulen durch individuelles und gemeinsames Lernen?
Zum
gelingenden
Lernen
mit
der
MultiGradeMultiLevelMethodology (MGML)
Zusammenfassung: Empirische Daten zu Lernbewegungen von Klassen der Multi-GradeMultiLevel-Methodology geben Aufschluss über individuelle und kollektive Aufmerksamkeitsverläufe und beeinflussende Faktoren. Basierend auf der Grounded Theory nach
Glaser/Strauss (2008), in der Weiterentwicklung von Breuer (2010) wurden teilnehmende
Beobachtungen und Reflexionsprotokolle der Lehrenden im Erhebungs- und Auswertungsprozess trianguliert. Die Befunde beschreiben eine sich zyklisch verhaltende, natürliche
Lern- bzw. „Atembewegung“ zwischen aufmerksamer Arbeit (Anspannung) und Phasen der
Entspannung, die individuell sowie kollektiv im Unterricht stattfinden. Insbesondere Haltungen und Verhalten der Lehrkraft, die Raum- und Materialanordnung sowie Plenumsrunden beeinflussen den Unterricht, der als „guter Unterricht“ zur wichtigen Teilkonstituente von
„guter Schule“ wird.
Schlüsselwörter: MultiGradeMultiLevel-Methodology, Atembewegungen, guter Unterricht
Good Schools by individual and collective Learning? Successful Learning with
MultiGradeMultiLevel-Methodology (MGML) Environments
Abstract: Empiric data on learning processes of MultiGradeMulitLevel-Methodologyclasses offer reference on individual and collective attention development and its affecting
factors. Based on Grounded Theory (Glaser/Strauss 2008) further developed by Breuer
(2010), we used participant observations and teachers' reflexion-journals to triangulate the
data. The results show a periodic and natural appearance of learning- or "breathing"movements of attentive work phases (exertion) and phases of recreation on an indiviual and
collective basis in class. Particularly teacher's attitudes and behaviour, the room and
material order as well as guided class-gatherings affect lessons, which become lessons of
high quality and thus an integral constituent of "good schools".
Keywords: MultiGradeMultiLevel-Methodology, breathing-movement, high quality lessons
1.
Durch individuelles und gemeinsames Lernen zur „guten Schule“?
„'Eine gute Schule ist eine Schule, in der guter Unterricht stattfindet'.“ Dieser Satz, aus dem
Basisartikel „Was sind gute Schulen?“ entnommen, zeugt von der Vorstellung eines Kollegen, guter Unterricht sei gleichbedeutend mit guter Schule. Sicher und gleichzeitig vielleicht
eindimensional verkürzt, provoziert diese Auffassung doch die Frage, inwiefern „guter Unterricht“ gestaltet sein kann, damit er zur „guten Schule“ beiträgt. Wir stellen uns diese Frage im
Hinblick darauf, dass im Unterricht immer individuelles und zugleich gemeinsames Lernen
stattfinden. Individuelles Lernen fokussiert dabei die Individualität des einzelnen, seine
spezifische (Lern-)Situation sowie die Nicht-Wiederholbarkeit des Lernaktes (vgl. Leonhard
2006, 214). Gemeinsames Lernen wird der Tatsache gerecht, dass Lernen immer kollektiv
1
und relational erfolgt (vgl. Hamann 2005, 110), da stets Individuen in diversen Beziehungen
und Rollen zu- und miteinander wirken (vgl. Leonhard 2006, 214; Mead 2008, 44).
Dass das individuelle und gemeinsame Lernen im Unterricht neben etwa „personellen,
sachlichen und finanziellen Ressourcen“, einer „kooperativen Professionskultur, (…) einer
fähigen Schulleitung und einem entsprechenden Schulkonzept“ (Basisartikel, 2) eine
wichtige Teilkonstituente von „guter Schule“ ist, hat schon der Basisartikel differenziert
elaboriert. Die Autoren heben dabei die institutionelle Doppelbestimmung von „guten
Schulen“ hervor, in der einerseits Schüler1 durch unterrichtliches Lernen einen Kompetenzund Wissensaufbau erfahren (vgl. Basisartikel, 11), während ihnen andererseits ein Lebensund Erfahrungsraum geboten wird, den sie gerne besuchen (vgl. ebd.). Beides wird in hohem
Maße von der Zeit bestimmt, die Schüler im Unterricht verbringen. Die Frage nach „guten
Schulen“ richtet sich also insbesondere auf die Gestaltung der Unterrichtszeit. Wie
Unterrichtszeit sinnvoll gestaltet sein kann, damit individuelles und gemeinsames Lernen
gelingt, untersucht diese qualitative Forschung unter Fokussierung der MultiGradeMultiLevelMethodology.
Der Artikel nähert sich viabel dem individuellen und gemeinsamen Lernen im Unterricht,
einer Teilkonstituente von „guten Schulen“, unter der nun folgenden Gliederung. Zunächst
klären wir in 2. unser Verständnis von gelingendem Lernen mit der MultiGradeMultiLevelMethodology unter ausgewählten theoretischen Gesichtspunkten. In 3. beschreiben wir das
Unterrichten mit der MultiGradeMulitLevel-Methodology. In 4. verweisen wir auf den Forschungsstand zur Methode in Indien. Die Fragestellung, Methodik und das Design unserer
qualitativen Forschung stellen wir in 5. dar. Schließĺich liefern unsere Forschungsbefunde in
6. einen Blick auf „den Wechsel notwendiger unterrichtlicher Lernphasen, informeller Lerngelegenheiten, sowie einem schülerfreundlichen Verhältnis von Anspannung und Entspannung“ (Basisartikel, 5). Die codierten Daten beschreiben dabei einen phasenhaften
Wechsel von einzelnen Schülern sowie der gesamten Klasse zwischen Arbeit am Material
und Aktivitätswechsel beim flexiblen Lernen mit der MulitGradeMultiLevel-Methodology.
Darüber hinaus liefern wir Erkenntnisse zu diese Phasen beeinflussenden Elementen wie
der Raum- und Materialanordnung, der Haltung bzw. dem Verhalten der Lehrkraft sowie
Plenumsrunden. Zuletzt bieten wir in 7. eine Zusammenfassung und einen Ausblick auf
weitere Forschungspotentiale für den Unterricht mit der MultiGradeMultiLevel-Methodology.
2.
Gelingendes Lernen mit der MultiGradeMultiLevelMethodology
Ausgangspunkt der aus Indien stammenden MultiGradeMultiLevel-Methodology (MGML) ist
die Vorstellung eines aktivitätsorientierten Unterrichts mit freien Arbeitsprozessen in
altersgemischten (multigrade) und leistungsheterogenen (multilevel) Lerngruppen. Die
Schüler selbst leiten mit Hilfe von Lernleitern ihr flexibles Lernen in Einzelarbeit,
Partnerarbeit, Teamarbeit, Arbeit mit einem Helfer oder Arbeit mit der Lehrkraft (vgl. Girg/
Lichtinger/ Müller 2012, 74ff.). Lernleitern (vgl. ebd., 72f.) verstehen sich dabei als größere
strukturierende Einheiten. Sie brechen den Lehrplan bzw. Kerncurriculas eines Faches um in
einen Fachlernplan. Alle Lernenden folgen dieser Lernleiter, allerdings bleibt jeder in seiner
zeitlichen Eigendynamik (vgl. Schnur/ Müller 2013, 45f.) und nutzt innerhalb der kleineren
Aktivitätseinheiten, „Milestones“ genannt (vgl. Girg/ Lichtinger/ Müller 2012, 71), die
1
Dieser Aufsatz nutzt die maskuline Bezeichnung bei Gruppen für eine einfachere Lesbarkeit. Wir möchten damit
niemanden ausgrenzen - selbstverständlich sind alle geschlechtlichen Identitäten gemeint.
2
materialisierten Aufgaben bzw. Aktivitäten. Eine Milestoneabfolge kann dabei linear im
Nacheinander oder systemisch im Neben- und Übereinander in der Auswahl der Reihenfolge
angelegt werden und lässt Schülern themen- und lerngruppenbezogene Freiheiten.
Besonders in den Fächern Sprache, Mathematik und Naturwissenschaften haben sich diese
Strukturen bewähren können.
Die Aktivitäten in den Milestones sind so angeordnet, dass sie simultan individuelle und
gemeinsame Lernprozesse ermöglichen, die über ein den Lernleitern immanentes Zeichensystem gesteuert werden. Vier Lernschritte der Einführung (1), Erarbeitung und Vertiefung
(2), Evaluation (3), Förderung oder Ausweitung (4) in jedem Milestone, verhelfen den
Schülern zu einem nachhaltigen Kompetenzaufbau (vgl. ebd.), der bei Bedarf auch individuelle, dem Leistungsniveau angepasste Aktivitäten vorsieht. Die Evaluation als 3. fester
Lernschritt ermöglicht eine Leistungsmessung. Es wird zudem darauf geachtet, dass
Lernaktivitäten den fünf Grundprinzipien kleiner, bedeutsamer, machbarer, aktivitätsorientierter und freudvoller Aufgaben entsprechen (vgl. ebd., 45ff.). Unter theoretischen
Gesichtspunkten stellen wir nun unser Verständnis des gelingenden Lernens mit MGML dar.
2.1 Die Situation als Ursprung des Lebens und Lernens
Heinrich Rombachs strukturanthropologische Ausführungen bieten Wege zur Annäherung an
die Situation. Rombach sieht die Situation als Ursprung des Lebens (vgl. Rombach 1993,
139). Alles Handeln, Denken, Wahrnehmen und Fühlen eines Individuums an variierenden
Orten zu variierenden Zeiten in variierenden Umständen sind Situationen (vgl. ebd., 146).
Sie sind in ihrem Umfang nicht limitiert sondern beziehen alles mit ein, was sich im Hier und
Jetzt entfaltet und mit einwirkt. Jeder Mensch erfasst demnach sein Leben selbst immer nur
in Situationen (vgl. Müller 2007, 35). Zur Situation gehören dadurch umfassende Einflüsse,
wie Naturbegebenheiten, epochenbedingte Handlungsmuster und Interpretationsschemata,
globale und lokale gesellschaftliche Ereignisse, ebenso wie unmittelbare Veränderungen im
näheren Umfeld, im Freundeskreis und in der Familie. Diese umfassenden und
unmittelbaren Einflüsse befinden sich gleich konzentrischer Kreise um die Leiblichkeit und
innere Welt des Individuums (vgl. Rombach 1993, 409). Diese drei Sphären sind ineinander
verwoben und bilden gemeinsam die Situation, in der Leben und Lernen stattfinden.
2.2 Gelingendes Lernen durch Begegnung
Gelingendes Lernen erfolgt zunächst durch eine Begegnung in der Situation (vgl. Lichtinger
2014, 15). „Alles wirkliche Leben ist Begegnung“ (Buber 1995, 12). Sie ereignet sich nach
Bollnow, wenn der Mensch „auf etwas stößt, das ihm unvorhergesehen und unvorhersehbar,
vielmehr schicksalhaft entgegentritt und das ganz anders ist, als er es in seinen bisherigen
Vorstellungen erwartet hatte, und dass ihn so zwingt, sich neu zu orientieren.“ (Bollnow
1959, 99). Eine Begegnung erscheint als einzelner „Akt“, bzw. „plötzliches Ereignis“ (ebd.,
101) und ist die Situation, in der das „Ich“ auf ein umfassendes, unmittelbares oder ein
physisch-psychisches Ereignis in Form eines „Es“ trifft.
In einigen Fällen löst diese Begegnung zwischen „Ich“ und „Es“ ein Betroffen-sein aus
(vgl. Stenger 2002, 176ff.). Das „Ich“ ist in seinem Inneren berührt und ist bereit, auf das
Betroffen-sein der Begegnung mit dem „Es“ zu antworten.
Dies ist die Voraussetzung für ein in-Beziehung-treten zwischen „Ich“ und „Es“, d.h. ein
längerfristiger, kontinuierlicher Zusammenhang (vgl. Lichtinger 2014, 11ff). Die Beziehung
überwindet eine Trennung des Sich-Gegenüber-Seins und stiftet Einheit, die als Mit-Sein
3
spürbar wird. Durch die Begegnung von „Ich“ und „Es“ in der Situation, über das Betroffensein kann so eine Beziehung wachsen und gelingendes Lernen erfolgen (vgl. ebd., 23).
Ein Kind begegnet in einer MGML-Lernumgebung etwa dem Material für einen neuen
Buchstaben. Die Begegnung ist die unmittelbare Situation des Kindes. Es konnte bei älteren
Mitschülern wahrnehmen, dass diese den Buchstaben bereits lesen und schreiben können.
Aus der Heterogenität in der Klasse mag ein natürlicher Leistungssog entstehen, der in
diesem Beispiel zu einem Betroffen-sein führen kann. So kann es dem Kind gelingen, in
Beziehung zu dem Lernmaterial zu treten und sich den Buchstaben anzueignen.
Dennoch ist gelingendes Lernen als ein in-Beziehung-treten nicht planbar. Es geht über
das menschliche Können hinaus, da es ein situativer, individueller und zugleich interindividueller Prozess ist (vgl. Rombach 1993, 130). Gelingendes Lernen geschieht vielmehr
durch ein unvoreingenommenes Einlassen auf die eigene, sich wandelnde Situation (vgl.
Lichtinger 2014, 23ff.).
2.3 In Beziehung sein - durch Aufmerksamkeit
Situationen ermöglichen uns mit Menschen und Dingen in Beziehung zu treten und zu
handeln (vgl. Bohnsack 2008, 13). Doch was geschieht, während man in der Beziehung ist?
Verschiedene Ansätze heben hierfür die Aufmerksamkeit hervor, die eine intensive
Betätigung, d.h. eine Beziehung, begleitet (vgl. Montessori 2008, Csíkszentmihályi 2010).
Dem Aufmerksamkeitsforscher Rapp zufolge, ist Aufmerksamkeit
„der Prozeß [sic!] der Auseinandersetzung mit realen oder vorgestellten Objekten, der durch
externe Reizmerkmale (Neuigkeit, Überraschung) oder durch interne Prozesse (Einstellungen,
willentliche Entscheidungen) ausgelöst wird und der die Funktion der Auswahl (aus dem
Reizangebot), der Intensivierung der realen oder kognitiven Tätigkeiten und eine Verbesserung
ihrer Produkte hat.“ (Rapp, 1982, 21).
Aufmerksamkeit ist nach dieser Definition ein wechselhafter Prozess, der in Dauer und
Intensität divergiert und von innen sowie außen beeinflussbar bleibt. Sie wird benötigt um
spezifische Informationen aus unserer Wahrnehmung zu selektieren, die Betätigung damit zu
intensivieren und auf ein qualitativ höheres Niveau zu heben. Laut Rapp führt intensive
Aufmerksamkeit dazu, dass Teilhandlungen reibungslos ablaufen und dadurch
Handlungsprozess sowie Endergebnis optimiert werden (vgl. ebd., 20f.).
Verschiedene Pädagogen und Psychologen untersuchten diese Reibungslosigkeit
während der Aufmerksamkeit. Darunter auch Montessori, die sich mit der äußeren Deskription der Polarisation der Aufmerksamkeit im Kontext der Freiarbeit beschäftigte
(Montessori 2008). Während der Polarisation der Aufmerksamkeit bündelt man demnach all
seine „leib-seelischen Kräfte“, was „dazu führt, dass man sich selbst-vergessen in eine Arbeit
versenkt.“ (Stein 2007, 203). Hierin sah Montessori den Schlüssel zu ihrer Pädagogik (vgl.
Ludwig 2008, 12). Anhand von Diagrammen, die die Aufmerksamkeitsverläufe von Kindern
beim Lernen abbildeten, eruierte sie einen dreiphasigen Ablauf der Polarisation der
Aufmerksamkeit, der als Grundlage für das eigene Forschungsvorhaben diente; (1) die
Vorbereitungsphase: das Kind bereitet sich auf die Arbeit vor, kann unruhig, bewegt oder
suchend, aber auch müde oder unsicher wirken (vgl. Montessori 2008, 96ff.). (2) Die
Aufmerksamkeitsphase: einfache und komplexe Aktivitäten, positive Gemütszustände mit
divergierender Zeitlänge (vgl. ebd.). (3) Die Verarbeitungsphase: Passivität, Aufräumen,
Zuwendung zur sozialen Umwelt und Verarbeitung des Erlebten (vgl. ebd.). Anhand dieser
4
drei Phasen der Polarisation der Aufmerksamkeit lässt sich ein Schema ableiten, das
Lehrern einen Zugang zu den situativen Lernbewegungen ihrer Schüler bietet.
Die von Bollnow und Buber beschriebenen Momente der Begegnung, des Betreffens und
der Beziehung (vgl. Bollnow 1959, Buber 2006) zeigen Parallelen zur Polarisation der
Aufmerksamkeit. Der Vorbereitung und Orientierung in der ersten Phase (1) entspricht die
Begegnung mit dem „Es“. Wird man davon betroffen, kann die Begegnung zu einer vertieften
Beschäftigung mit dem „Es“ führen und damit zur Beziehung und Einheit zwischen „Ich“ und
„Es“ überleitet. Diese ist von Aufmerksamkeit, der zweiten Phase (2) von Montessoris
Phänomen, begleitet. In der dritten Phase (3) würde die geschaffene Einheit von „Ich“ und
„Es“, in die bisherigen Erfahrungen eingeordnet. Somit ist die Polarisation der Aufmerksamkeit auch auf das Lernverständnis aus der MGML-Perspektive adaptierbar.
Daneben befasste sich der Motivationspsychologe Csíkszentmihályi mit Aufmerksamkeit.
Er untersuchte das Erleben seiner Probanden während Arbeit und Freizeit und stieß auf ein
wiederkehrendes Phänomen der Aufmerksamkeit, welches er Flow nannte (vgl. Csíkszentmihályi 2010, 73). Ihm zufolge ist Flow ein Zustand, in dem „Handlung auf Handlung“ folgt
und der „kein bewusstes Eingreifen von Seiten des Handelnden zu erfordern scheint“ (ebd.,
59). Die Tätigkeit scheint reibungslos, fließend von statten zu gehen - Handelnder und
Objekt, „Stimulus und Reaktion“, „Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ (ebd.) erweisen
sich als ein einziges, ungetrenntes Phänomen. Diese Merkmale des inneren Erlebens von
Flow lassen sich der zweiten Phase (2) der Polarisation der Aufmerksamkeit nach Montessori, d.h. dem in-Beziehung-treten, zuordnen (vgl. Fischer 1999; Weimar 2005, 95; Bernet
2012, 92ff.; Klug 2014, 55).
Für das gelingende Lernen können derartige Prozesse hoher Aufmerksamkeit nicht
bedeutsam genug eingeschätzt werden. Denn wie Stenger konstatiert, ist dies ein
„schöpferischer Prozess“, in dem sich Menschen durch die tiefe, ungetrennte Beschäftigung
mit dem „Es“ selbst neu finden und erfinden und so zu einem jeweils neuen Mensch werden
(vgl. Stenger 2002, 141ff.). Unterricht, der Flow bzw. Polarisation der Aufmerksamkeit bei
Schülern hervorruft, hat demnach eine hohe Güte, wenn man von gelingendem Lernen als
ein in-Beziehung-treten ausgeht. Ob dies der Fall bei MGML-Lernumgebungen ist, werden
wir deshalb in 6.1 ermitteln.
Laut Csíkszentmihályi begünstigen Situationen den Flow, abhängig von dem Verhältnis
von Anforderung der Tätigkeit und Können des Handelnden (vgl. Csíkszentmihályi 2010, 75).
Befinden sich beide in Balance, kann Flow eintreten. Daneben erachtet Tal Ben-Shahar die
Kombination von Sinn und Vergnügen als wesentlich für Lernanlässe die Flow fördern (vgl.
Ben-Shahar 2007, in Burow 2011, 63). Antonovskis Konzept der Salutogenese, welches
auch Freude und Flow am Lernen umfasst, fordert analog dazu auf, Lernanforderungen auch
handhabbar zu konzipieren (vgl. Antonovski 1997, 36). Situationen des Lernens sollten nach
Csíkszentmihályi, Ben-Shahar und Antonovski so beschaffen sein, dass sie dem Können des
Lernenden entsprechen, für den Lernenden Sinn und Vergnügen machen und dabei
handhabbar sind. Diese Voraussetzungen für gelingendes Lernen sind Anhaltspunkte für die
Gestaltung von MGML-Lernumgebungen, wie sie in in 2. beschrieben wurden.
2.4 Gemeinsam in Beziehung treten
Bisher wurde das in-Beziehung-treten, als individuelles Lernen in Augenschein genommen.
Durch das gemeinsame Lernen, als weitere Komponente, möchten wir auf Resonanzphänomene in Gruppen eingehen, also auf gemeinsames in-Beziehung-treten, das
„Aufeinander Wirken“ und das „Miteinander Agieren“. Schon Montessori deutete in einem
5
Diagramm zu Arbeitsdynamik in Lernprozessen an, dass es zu kollektiven Aufmerksamkeitsverläufen in Klassen käme (vgl. Montessori 2008, 97), die phasenhaft verliefen. An diesen
orientieren sich auch unsere Diagramme zur Veranschaulichung der Arbeitsdynamik in 6.1.
Auch Burow referiert in seinem Buch „Team-Flow“ über Gruppenarbeitsprozesse, die es
aufgrund ihrer Konstellation bzw. ihres Handlungsfeldes zu großer Effektivität gebracht
hätten (vgl. Burow 2015). Individuelle Leistungen stehen demnach stets in Relation zu einem
„Feld“, aus welchem sie sich generieren (vgl. ebd., 48). Dieses Feld, das sich als soziales
oder kulturelles Umfeld manifestiert (vgl. ebd., 79), wirkt wie ein Kraft- oder Energiefeld auf
das Handeln, Fühlen, Denken und Wahrnehmen des einzelnen (vgl. ebd.). Erst im Feld, also
in der Reziprozität von „Ich“ und Gruppe, kommt es zu hochwertigen Ergebnissen. Ähnlich
wie bei der gemeinsamen Improvisation einer Jazzband tritt so aus dem Prozess der
Gruppenresonanz etwas Neues, Ungeahntes hervor.
Zum Zustandekommen von Resonanzphänomenen wie kollektiven Aufmerksamkeitsverläufen (Montessori) bietet Nikolaus von Kues das Konzept des „Explicatio“ an (vgl.
Cusanus, Docta ignorantia, II, 5 in Rombach 1993, 201). Demnach hängt jede individuelle
Situation mit allen anderen Situationen im Ganzen so zusammen, dass eine Veränderung an
einer Stelle, das Ganze und alle anderen Situationen mit verändert (vgl. Girg 2010, 119).
Situationen sind folglich intersubjektiv miteinander verwoben.
In diesem Kontext sehen wir die neurophysiologische Entdeckung der Spiegelneuronen
(Bauer 2008). Bauer beschreibt Nervenzellen, genannt Spiegelneuronen, die für die Aktivierung einer spezifischen Stimmung oder Handlung verantwortlich sind. Sie werden angeregt,
wenn man diese Stimmung oder Handlung bei seinem Gegenüber miterlebt (vgl. ebd., 23).
So spiegelt man intuitiv die Stimmungen und Handlungen eines Gegenübers oder einer
Gruppe wider. Durch die intuitive Übernahme von Zuständen wird die innere Situation von
Individuen jäh intersubjektiv distribuiert. Eine Veränderung an einer Stelle, kann somit die
Veränderung am Ganzen zur Folge haben, so wie es „Explicatio“ beschreibt. Ob dies bei
einer Gruppe innerhalb einer MGML-Lernumgebung ähnlich verläuft, ergründet unsere
Forschungsarbeit in 6.1.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Leben und Lernen in Situationen stattfinden, die
man stets nur fragmentarisch-subjektiv als Verwobenheit von verschiedenen Einflüssen
wahrnimmt. In Situationen ereignen sich Begegnungen, die ein Betroffen-sein hervorrufen
können und so zur Beziehung führen, wodurch gelingendes Lernen begünstig wird. Das inBeziehung-treten ist begleitet von erhöhter Aufmerksamkeit, die als Flow-Zustand mit unterschiedlicher Intensität hervortritt. Durch das „Ich“ und „Es“, welche in Beziehung treten, kann
einerseits auf individuell und gemeinsam stattfindende Lernprozesse hingewiesen werden.
Andererseits mögen individuelles und gemeinsames Lernen auch in gruppenbezogenen
Prozessen erscheinen, die eine innige Resonanz aufweisen. Die zu klärende Frage wäre
also, wie individuelles und gemeinsames Lernen mit MGML unterstützt werden kann?
3.
Unterrichten mit MGML
Anders gefragt: was heißt es, mit MGML zu unterrichten? Die individualisiert ablaufenden
Lernprozesse aller Schüler, gestützt durch die Lernleitern, übernehmen die traditionelle
Funktion der Prozesssteuerung der Lehrkraft. Dadurch werden Ressourcen freigesetzt.
Simultan schafft MGML neue Aufgaben und Grundhaltungen, die die Lehrkraft nun einnimmt.
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3.1 Unterrichtskomponenten von MGML
Eine erste Aufgabe liegt in der Vorbereitung der Lernumgebung. Dazu gehören die Entwicklung und Weiterentwicklung der Lernmittel und die Planung des Lernraums wie Atmosphären, Raumzonen, Möblierung oder Materialpräsentation (vgl. Girg/ Lichtinger/ Müller
2012, 113f.). Einige Lernaktivitäten fordern die Expertenrolle der Lehrkraft, sie wird darum
auch zum Erklären und Initiieren von Lernprozessen benötigt. Herausfordernd ist das Beobachten und Begleiten der Schüler, sowie darin das richtige Maß an „Vor-geben“ und
„Wachsen-lassen“ zu finden (vgl. ebd., 114f.). Maßgebend für die Reflexion und Beratung
der Lernprozesse ist eine individuelle Dokumentation von Lernständen, die weder sozial
wertend, noch notengebunden ist, sondern Empfehlungscharakter besitzt (vgl. ebd., 117).
Der Lernfortschritt jedes Schülers wird dabei anhand eines Datumeintrages in einer Tabelle,
die der Milestoneabfolge entspricht, festgehalten. Zur Ritualisierung des MGML-bezogenen
Lernens tragen gestaltete Plenumsrunden bei, die zeitlich vor und nach den Arbeitsphasen
fixiert sein können (vgl. Lichtinger 2013, 12). Die situationsadäquate Ausführung der Rollen
und Aufgaben hängt vom reflektierten Umgang mit den eigenen Grundhaltungen ab. Diese
sind gesondert zu betrachten, da sie MGML als reine Methode überschreiten. Zu den
Grundhaltungen, wie auch zur Vorbereitung der Lernumgebung und Plenumsrunden liegen
in 6.2 Forschungsergebnisse vor.
3.2 Grundhaltungen von MGML
Der Anwendung von MGML liegen innere Haltungen zum Lernen und Lehren zugrunde.
Diese Grundhaltungen kontrastieren die MGML-Methodology von reinen Methoden und
klassifizieren sie als pädagogisches Lernkonzept similär der Montessoripädagogik (vgl. Girg/
Lichtinger/ Müller 2012, 33f., 45).
Im Mittelpunkt steht die Grundhaltung einer allseitigen Wertschätzung. Darunter verstehen
wir die Dyade der Beziehung zum Selbst und der Beziehung zu Anderen, also zu Sachen,
Tieren und Menschen, in ihrer Reziprozität (vgl. Künkler 2011, 494ff). Angelehnt an Todorovs
Anerkennungstheorie geht allseitige Wertschätzung von der tiefsten Dimension, der
Anerkennung, der Existenz des Selbst und des Anderen, aus (vgl. Todorov 1998, 100 in
Künkler 2011, 507). Anerkennung steht dabei für Wertschätzung. Darauf aufbauend
beinhaltet allseitige Wertschätzung drei aufeinander bezogene Modi der Anerkennung, die,
entsprechend der dyadischen Beziehung vom Selbst und dem Anderen, jeweils dual
ausgeformt sind. Diese Modi sind: (1) Selbstvertrauen und Fürsorge (gegenüber anderen),
(2) Selbstrespekt und moralischer Respekt (g.a.) sowie (3) Selbstwertgefühl und Solidarität
(g.a.) (vgl. Honneth 2000, 66ff. in Künkler 2011, 497f.).
Zu den wichtigen Grundhaltungen des Lehrens und Lernens mit der MGML-Methodology
gehört die Demut vor dem sich ereignenden (vgl. Girg/ Lichtinger/ Müller 2012, 118). Die
Lehrkraft akzeptiert, gemäß einer konstruktivistischen Lernauffassung, dass sie für Schüler
lediglich ein Teil ihrer Wirklichkeit ist, die sie nur fragmentarisch versteht und verändern kann
(vgl. Glasersfeld 1997, 204 in Künkler 2011, 151). Demütig anerkennt die Lehrkraft den
Leitsatz: „The Child is in the Driver's Seat“. Die Verantwortung für den eigenen Lernprozess
liegt beim Schüler. Die Lehrkraft dient maximal als begleitender Beifahrer oder Lotse, der auf
den Lernweg verweist (vgl. Girg/ Lichtinger/ Müller 2012, 118).
Achtsamkeit ist eine maßgebliche Grundhaltung. Der Achtsamkeitsforscher Altner (2009,
24) beschreibt sie: „Unser Bewusstsein wird der Empfindungen aus der Umgebung sowie
der eigenen Körperempfindungen, Gefühle und Gedanken gewahr“. Im Gewahrwerden der
eigenen Situation tritt man für einen Augenblick aus der Sphäre der reinen Gedankenwelt
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aus und gelangt ins „Seeing what is“, das der Bildungsphilosoph Jiddu Krishnamurti
beschreibt (1991, 228 in Girg 2007, 172). Aus dem „Seeing what is“ entfaltet sich eine
mentale Distanz von fixierten Bildern und Schemata, welche in eine Offenheit für die je sich
ergebende Situation und ein daraus erweitertes Feld von Handlungsalternativen resultiert
(vgl. ebd., 241). Die Grundhaltung der Achtsamkeit erhöht die Kultivierung dieses
Phänomens zu einer Priorität im Lernen und Lehren mit MGML.
Die Differenzierung der Grundhaltungen bleibt unabgeschlossen, weitere könnten angefügt werden (vgl. Girg 2010, 239ff.). Allseitige Wertschätzung, Demut und Achtsamkeit bleiben darüber hinaus immer reziprok und ineinander verwoben. Die Grundhaltungen sind
dabei als tägliche Aufgabe zu sehen.
Zusammenfassend zeigt sich, dass MGML, neben den methodischen Elementen, auch
durch Grundhaltungen geprägt ist. Methode und Grundhaltungen zusammen schaffen eine
wertschätzend-achtsame Situation, in der kleine, machbare, sinnvolle und freudvolle
Begegnungen ermöglicht werden und betreffen können. So wird das in-Beziehung-treten in
Form von individuellem und gemeinsamem Lernen adäquat unterstützt.
4.
Internationale Forschung zu MGML
Die MGML-Methodology wurde bisher in Indien evaluiert und beforscht, da sie dort seit 35
Jahren existiert und derzeit über 10 Millionen Kinder täglich damit lernen (vgl. Girg/ Lichtinger/ Müller 2012, 5f.). Die größte empirische Untersuchung wurde dabei von den Forschern um Akila aus Tamil Nadu in Indien erstellt (vgl. 2009). Das Team befragte bzw.
testete mehrere Tausend MGML-Klassen, die zuvor nach den Merkmalen „high performing“
und „low performing“ durch einen standartisierten Test eingeteilt wurden, nach drei groben
Leitkriterien: (1) Materialien, (2) Aktivitäten der Schüler und (3) Aktivitäten der Lehrer (vgl.
ebd., 117f.). Der Fokus auf rein kognitive Fähigkeiten, sowie Unterschiede der Systeme
schmälern die Übertragbarkeit auf den hiesigen Kontext. Akilas Ergebnisse bieten dennoch
Anhaltspunkte zum gelingenden Lernen mit MGML.
Eine Faktorenanalyse nach der Kaiser Normalisierung verweist beim ersten Leitkriterium
auf handlungs- und anwendungsorientierte Materialien (vgl. ebd., 141). Vergleichbar wäre
dies mit den fünf Grundprinzipien kleiner, bedeutsamer, machbarer, aktivitätsorientierter und
freudvoller Aufgaben. Die Aktivitäten der Schüler (2) zeigen, dass Schüler der „high
performing classrooms“ bevorzugt innere Haltungen besitzen, die es ihnen ermöglichen mit
Menschen zu interagieren und ihre Arbeit zu erledigen: freiwillig, angstfrei,
verantwortungsbewusst und auf kreative Weise (vgl. ebd., 142f.). Diese Eigenschaften wären
sicherlich auch im Sinne Csíkszentmihálys, Ben-Shahars und Antonovskis als förderlich für
Lernglück/Flow. Des Weiteren werden gegenseitige Hilfestellung, gemeinsame Diskussionen
der Schüler untereinander und ihre Offenheit sich selbst zu evaluieren genannt (vgl. ebd.,
143). Das Verhalten der Lehrkraft (3) zeigt bei „high performing“ einen vertrauensvollen und
ermutigenden Umgang mit den Schülern sowie individueller Förderung auf (vgl. ebd., 144f.).
In diesem Sinne verweisen wir auch auf die in 3.2 angesprochenen Grundhaltungen der
Lehrkraft, die wir als ständige Aufgabe für einen so gearteten Umgang sehen.
5.
Fragestellung, Methodik und Design der Datenerhebung und -auswertung
Neben zahlreichen mehrwöchigen, dokumentierten Feldversuchen von MGML-Lernarrangements wurde in Deutschland bisher eine Fallstudie konzipiert, die von den Autoren selbst
durchgeführt und ausgewertet wurde (vgl. Klug 2014). Hierbei sollte ein Forschungskonzept
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auf Basis einer ersten tragfähigen Codierung ausgearbeitet werden. Die Codierung wurde
von einem Forscher entwickelt und im Sinne partizipatorischer Forschung kommunikativ
validiert. In einem zweiten Schritt sind diese Ergebnisse u.a. auf Interrater-Reliabilität zu
untersuchen sowie auf die Validität der Codes in weiteren Feldstudien. Derzeit laufen u.a.
Untersuchungen zum Leistungszuwachs bei Schülern der Primarstufe.
In unserer abgeschlossenen Fallstudie wurde davon ausgegangen, dass die Lern-LehrSituation sich als erfolgreich erweist, wenn sich die Schüler über die Freiarbeitsphase
hinweg in aufmerksamer und konzentrierter Arbeit gemäß der Polarisation der
Aufmerksamkeit (vgl. Montessori, 2008) oder Flow (vgl. Csíkszentmihályi, 2010) befinden.
Die Fragestellung, welche Indikatoren und Faktoren der Aufmerksamkeit in MGMLSituationen erfahrbar werden, wurde methodisch trianguliert (vgl. Flick, 2012) untersucht.
Verortet in der qualitativen Sozialforschung, basierend auf den Grundlagen der Grounded
Theory nach Glaser/ Strauss (vgl. 2008) in der Weiterentwicklung von Breuer (vgl. 2010),
wurde die Studie im Sommer 2013 angelegt. Erhebung und Auswertung der Daten wurden
als zirkulärer Prozess konzipiert, wobei zunächst Daten durch die Methode der
Teilnehmenden Beobachtung (vgl. Lüders 2012, 391) in MGML-Klassenräumen erhoben und
ausgewertet wurden. Zur Validierung und Ergänzung der daraus entstandenen Kategorien
wurden anschließend Dokumentanalysen (vgl. Mayring 2012, 473) von Reflexionsprotokollen
und Lernraumskizzen der Lehrenden angefertigt und ausgewertet. Da hieraus eindeutige
Konzepte ergingen, erwies sich für diese Vorstudie zunächst ein Zyklus als ausreichend – in
Anschlussprojekten folgen weitere. Aufgrund des Vorgehens bietet es sich an, die
Chronologie bei der Beschreibung der Methodik einzuhalten, weshalb wir zunächst die
Datenerhebung und -auswertung der Teilnehmenden Beobachtungen und im Anschluss die
Erhebung und Auswertung der Dokumentanalysen darlegen.
Fünf Feldbesuche wurden 2013 in verschiedenen MGML-Klassenzimmern in der Primarund Sekundarstufe in variierenden Fächern durchgeführt. Nach jedem Feldbesuch wurde
das Wahrgenommene ohne Zeitverzögerung in Feld-Tagebucheinträgen ethnographisch
dokumentiert (vgl. Lüders 2012, 396). Die Einträge wurden nach der offenen Codierung nach
Glaser/ Strauss (vgl. Böhm 2012, 477f.) ausgewertet und erste sog. „in-vivo-codes“ (ebd.,
478) gesammelt. Im weiteren Codierungsprozess wurden Kategorien gebildet, die im Sinne
des theoretischen Samplings (vgl. Merkens 2012, 292) anhand immer neuer Felder verifiziert
und verdichtet wurden. Nach dem Prinzip der Daten-Triangulation (vgl. Flick 2012, 311f.)
entstanden so die Feldtagebucheinträge, die jeweils textanalytisch codiert wurden.
Tab. 1: Feldbesuche bei der Teilnehmenden Beobachtung, sowie Feld-Tagebucheinträge
Kürzel der Lehrkraft
R.L.
Klasse
5./ 6.
Schülerzahl
19
Fach
Kunst
Uhrzeit
10:45-12:15
Datum 2013
03. Mai
T.N.
3./ 4.
20
Biologie
08:15-09:00
11. Juni
L.H.
M.G.
3./ 4.
2.
15
30
Physik
Musik
07:50-08:35
08:00-08:45
18. Juni
02. Juli
R.W.
6.
26
Englisch
08:09-8:45
12. Juli
Für eine Maximierung der Validität der Kategorien sorgten, angelehnt an die „betweenmethod-Triangulation“ nach Denzin (vgl. ebd., 313f.), drei strukturierende Inhaltsanalysen
von Reflexionsprotokollen und Lernraumskizzen der Lehrenden. Bestimmte Kategorien, die
9
aus der offenen Codierung der Feldforschungsjournale bereits vorhanden waren, wurden in
den Dokumenten identifiziert, validiert und erweitert. Angelehnt an das Modell qualitativinhaltsanalytischer Verfahren wurden z.T. neue Kategorien codiert (vgl. Mayring 2012, 472).
Tab. 2: Reflexionsprotokolle
Kürzel der Lehrkraft
L.R.
R.L.
T.N.
6.
Klasse
2.
5./ 6.
3./ 4.
Schülerzahl
27
20
20
Fach
Mathematik
Kunst
Biologie
Datum 2013
04. März – 02. April
29. April – 10. Mai
04. Juni – 02. Juli
Seiten
83-105
51-71
89-119
Forschungsbefunde
6.1 Prozessphänomene
Die Analyse der ersten Tagebucheinträge aus den Teilnehmenden Beobachtungen ergab die
Hinwendung zu einem wiederkehrenden Phänomen, das wir als „Atembewegung“ betitelten.
Sie beschreibt den natürlichen Wechsel der Schüler zwischen Spannung und Entspannung,
bzw. formeller Lernphase und informeller Rückzugs-, Modulations- und Verständigungsphase. In den darauf folgenden Teilnehmenden Beobachtungen kam es zu einer Fokussierung auf diese Atembewegung. Ihr Vorkommen wurde darüber hinaus durch die
Auswertung der Reflexionsprotokolle deutlich.
Individuelle Atembewegung
Individuelle Atembewegungen konnten wir bei mehreren Schülerinnen, die gleichzeitig an
verschiedenen Materialien arbeiteten, feststellen. Zur Veranschaulichung und zum Vergleich
ihrer jeweiligen Aufmerksamkeitsspannen wurden aus den Daten des Feldtagebuchs Diagramme angefertigt. Diese haben als technologische Reduktion nicht den Anspruch die
Realität vollständig abzubilden, verweisen aber auf einen relevanten Ausschnitt der erlebten
Phänomene. Neben dem zeitlichen Verlauf auf der x-Achse wurden Aktivitäten, die auf das
Niveau der dafür benötigten Aufmerksamkeit verweisen, auf der y-Achse dargestellt.
Abb. 1: Diagramm der individuellen Atembewegung von zwei Mädchen in L.H.s Klasse
Bei Punkt 1 kam es zu folgenden Beobachtungen: „eine Mädchengruppe [Mädchenpaar;
J.K.] ist bereits in der Aktivität. Sie testen ein Glühlämpchen“ (L.H., Z. 1f.). Um ca. 7:50 Uhr,
bei Punkt 2, zeigen sie dem ablenkenden Verhalten einer Schülerin gegenüber folgende
Reaktion: „Die anderen sind unbeeindruckt und machen konzentriert und interessiert [sic!]
ihren Test weiter.“ (L.H., Z. 11f.) Wenige Augenblicke darauf, in Punkt 3, glüht das
10
Lämpchen auf: „Sie kichern, das Lämpchen leuchtet. 'Yeah' (Faust geballt, Ellbogen
angezogen, Chacka!) geschafft“ (L.H., Z. 12f.). In Punkt 4, begibt sich eins der Mädchen zu
L.H. um sich ihre Belohnung abzuholen: „L.H. beugt sich zu ihr und gibt ihr ein Diplom
'Stromexperte'. Das Mädchen sieht sehr stolz aus und lächelnd kommt sie zurück zu ihrem
Platz“ (L.H., Z. 14f.).
Die Punkte 5 bis 9 verweisen auf einen ähnlichen Zyklus. Punkt 5: „Die zwei Mädchen
holen sich einen neuen AA [Arbeitsauftrag; J.K.]. Eine bleibt sitzen, und malt ihren Plan aus,
die andere geht und sucht einen neuen AA, kommt schnell mit etwas neuem zurück.“ (L.H.
Z., 18f.). In Punkt 6 beginnt die Arbeit: „Dann lesen sie den AA.“ (L.H., Z. 19f.). Wenig später
bei Punkt 7 tritt die Lehrkraft zu ihnen und „ein kurzer Frage-Antwort Dialog entsteht
zwischen Mädchen und L.H.“ (L.H., Z. 26f.). Daraufhin beschäftigen sie sich mit ihrem
Arbeitsauftrag. Bei Punkt 8 sind die Mädchen „schon mittendrin“ (L.H., Z. 39) und beachten
ihre Mitschülerin, die sich gerne angeschlossen hätte nicht weiter, da „beide Mädchen voll
zusammenarbeiten ohne nach Außen [sic!] zu öffnen“ (L.H., Z. 41). In Punkt 9 sind sie
bereits fertig und „brauchen [ein; J.K.] neues Experiment“ (L.H., Z. 57).
Beiden Zyklen der Atembewegung ist gemein, dass sie mit der Intensität der
Beschäftigung anwachsen, nach einem Hoch an Aufmerksamkeit wieder abschwellen und in
Tätigkeiten des sozialen Austauschs, bzw. Neuordnens übergehen. Hierbei sind deutliche
Parallelen zu den Phasen der Polarisation der Aufmerksamkeit nach Montessori zu
erkennen. Die individuelle Atembewegung kann folglich dem in-Beziehung-treten in der
Begegnung mit einem „Es“, dem Material, zugeordnet werden.
Ferner fiel bei den Verläufen von zwei weiteren individuellen Atembewegungen auf, dass
sich, wie schon bei der rosa Kurve, jeweils zwischen 8:00 und 8:10 Uhr ein Hoch an Aufmerksamkeit befand. Es indiziert, dass mehrere Schüler zur gleichen Zeit konzentriert am
Arbeiten waren. Dies führt zum nächsten Prozessphänomen, der kollektiven Atembewegung.
Kollektive Atembewegung
„ [...] es konnte nach einiger Zeit sogar ein sich täglich ereignender 'magischer Moment' festgestellt werden, ein Zeitpunkt, zu dem die Kinder immer ruhiger und ruhiger wurden, bis fast
völlige Stille herrschte und alle sehr konzentriert arbeiteten.“ (L.R. 95) So beschreibt L.R. in
ihrem Reflexionsprotokoll die kollektive Aufmerksamkeit einer 2. Klasse in einer MGMLLernumgebung. In R.L.s Reflexionsprotokoll finden sich Wörter die auf das Phänomen anspielen: „Raumfluss“, „Arbeitsenergie“ und „Lernatmosphäre“ (R.L. 68). Die Teilwörter >-energie< und >-atmosphäre< verweisen auf etwas immaterielles, der >-fluss< auf etwas, das
sich ständig in Bewegung befindet. Der >Raum< grenzt dieses Phänomen geographisch ein
und die Morpheme >Arbeits-< und >Lern-< verorten das Phänomen im aktiven Lernen.
Folgender Tagebucheintrag aus dem Feldbesuch bei L.H. veranschaulicht dieses
kollektive, immaterielle, bewegte, räumlich begrenzte und empfindbare Arbeitsphänomen:
„Die Lautstärke von draußen schwillt ab. Es entsteht ein unglaublich starkes konzentriertes,
fokussiertes Gefühl. Keine Stille, starkes weiterlaufen [sic!] der Tätigkeit, kein Abbruch. Der
Raum ist nun in sich geschlossen, die Arbeitsatmosphäre sehr stark. Es entsteht das
Lernlabor, ein Labor in dem alle Beteiligten zusammen an dem großen Projekt Strom
arbeiten. Intensive Stimmung, zeitloses Gefühl. Verrinnen der Zeit.“ (L.H., Z. 50-54).
Eine hohe Intensität der Arbeitsatmosphäre spricht aus diesen Zeilen. Die intersubjektive
Konzentration ist deutlich wahrnehmbar, wobei die Lautstärke, die Kommunikation zwischen
den Kindern über die Arbeit, nicht abbricht. Dieser Einblick in die innere Situation des
Teilnehmenden Beobachters um etwa 8:05 Uhr, wird durch das Hoch der individuellen
11
Atembewegung zwischen 8:00 und 8:10 affirmiert (s. rosa Kurve oben). Ein Mädchen fasst
währenddessen seine Gefühle in Worte: „Das macht Spaß“ (L.H., Z. 55).
An mehreren Stellen beschreibt T.N., wie das kollektive Phänomen Schwankungen
unterliegt und durch „Auf- und Ab-Phasen gekennzeichnet“ (T.N. 112) ist. Dieses
periodenhafte Auftreten der Aufmerksamkeit stellte sie anhand eines auftauchenden,
phasenhaften Wechsels der Lautstärke fest: „Nahm sie [die Lautstärke, J.K.] stärker zu,
beruhigten sich die Kinder allmählich von allein.“ (T.N. 110f.)
Schwankungen der kollektiven Aufmerksamkeit wurden zudem in verschiedenen FeldTagebucheinträgen festgehalten. In ihnen zeigte sich neben der Lautstärke auch die
Bewegung im Raum als Begleiterscheinung der Schwankungen. Dies stellt sich anhand der
Teilnehmenden Beobachtung in T.N.s Klassenraum, grafisch reduziert wie folgt dar:
Abb. 2: Diagramm der kollektiven Atembewegung von T.N.s Klasse
Die y-Achse beschreibt vier verschiedene Niveaus (null-tief-mittel-hoch) der beobachteten
Reize bzw. Tätigkeiten. Diese sind zu bestimmten Zeitpunkten verschiedenfarbig abgebildet
und zu farbkonformen Kurven verbunden. Der rote Kurvenverlauf steht für die Aufmerksamkeit der Schüler. Der gelbe Kurvenverlauf bildet die Intensität der Lautstärke der Schüler ab,
der grüne den Verlauf der Bewegung. Zunächst sticht die relative Gegenläufigkeit der roten
Kurve zu der gelben und grünen hervor, die zueinander ähnlich verlaufen. In diesem Beispiel
trat hohe kollektive Aufmerksamkeit vorwiegend dort auf, wo ein niedriges Niveau der audiovisuellen Reize in der Klasse bestand. Daneben wird deutlich, dass die kollektive Aufmerksamkeit zyklisch auftrat: Der erste Zyklus zwischen 8:30 und 8:42 Uhr, der zweite zwischen
8:42 und 8:50 Uhr.
Die Ergebnisse der Feldbesuche und deren graphische Auswertung indizieren eine
Tendenz zur Gegenläufigkeit von Aufmerksamkeit und Lautstärke/Bewegung, die das
kollektive Ein- und Ausatmen der Aufmerksamkeit visualisieren. Es liegt jedoch stets
an spezifischen Situationsaspekten, ob Lautstärke und Bewegung die Aufmerksamkeit der
Schüler betreffen. Dies tritt bei den zwei roten Zyklen von T.N.s Klasse deutlich hervor.
Die Ergebnisse der kollektiven Atembewegung scheinen Parallelen zum Phänomen des
„kreativen Feldes“ nach Burow aufzuweisen. Denn auch die kollektive Atembewegung
spricht auf eine intersubjektive Resonanz an, in der alle Beteiligten auf eine Sache, hier eine
12
rahmende Lernumgebung, in einem Raum fokussiert sind. Montessoris Hinweise auf
kollektive Aufmerksamkeitsverläufe, die ähnlich wie die Polarisation der Aufmerksamkeit
verlaufen, scheint auch auf die kollektive Atembewegung zuzutreffen. Ein gemeinsames inBeziehung-treten tritt durch die kollektive Atembewegung demnach in Wirkung.
Übernahme von Arbeitsmodi
Mehreren Beobachtungen entnahmen wir Andeutungen auf eine Verwobenheit der individuellen und kollektiven Atembewegungen durch die Übernahme von Arbeitsmodi. Ähnlich
einer Kettenreaktion wurden in R.W.s Klassenzimmer Arbeitsmodi in der Klasse übernommen: Um 8:23 heißt es noch: „Alle sind gerade konzentriert bei ihrem Thema.“ (R.W., Z. 25).
Kurz darauf beginnt sich der Arbeitsmodus zu verändern: „8:25. Junge steht auf. Fünf Kinder
gehen zum Waschbecken, Lehrerin betritt die Klasse. Viele vom Waschbecken haben einen
diagonalen Weg zurück in die andere Ecke des Zimmers. Mindestens zehn Kinder stehen
auf und gehen zu Materialschrank und holen sich etwas.“ (R.W., Z. 26-28). Dass sich von
der konzentrierten Lernatmosphäre plötzlich ein Junge erhebt und kurz darauf fünf aufstehen
und schließlich 17 Menschen in Bewegung sind, verändert den Arbeitsmodus der gesamten
Klasse. „Viele reden lauter als zuvor. Lachen.“ (R.W., Z. 30) Der neue Arbeitsmodus hat sich
wie eine Kettenreaktion in nur kurzer Zeit verbreitet.
Das Zustandekommen der Übernahme von Arbeitsmodi lässt sich durch die bereits erwähnte Verwobenheit von unmittelbarer und leiblicher Situation aller an der Lernumgebung
beteiligten, erklären (vgl. 2.4). Im Sinne von „Explicatio“ modifiziert eine Veränderung an
einer Stelle, das Ganze und alle anderen Situationen mit. Bauers Spiegelneuronen begründen, wie und warum die Arbeitsmodi, d.h. Verhalten und Stimmung, von Person auf Person
übertragen werden. Es mag auch ausreichen, dass viele Schüler durch die Bewegung und
Lautstärke von anderen abgelenkt werden und somit selbst lauter sind. Andererseits lassen
sie sich auch von der Stille und dem Arbeitsverhalten der anderen inspirieren, sodass es zur
Atembewegung kommt.
6.2 Das Arbeiten mit MGML beeinflussen
Was bedingt das Arbeiten mit MGML? Was bedingt die Atembewegung? Unser Fokus liegt
im Folgenden auf drei wichtigen Strukturelementen von MGML: der Raum- und
Materialanordnung, dem Verhalten der Lehrkraft sowie Plenumsrunden.
Raum- und Materialanordnung
In den Reflexionsprotokollen werden unterschiedliche Evolutionen von Raum- und
Materialanordnungen behandelt. Die dabei aufgetretenen Herausforderungen, ihre Lösungen
sowie die Raumskizzen liefern Daten zu diesem Faktor.
Wichtig war, dass Raum- und Materialanordnungen die Gruppen- und Materialsuche und bearbeitung unterstützten. Eine konstruktive Option bot der feste Lehrertisch (1) als Anlaufstelle für auftauchende Probleme: „Vom Lehrertisch aus bleibt einerseits das Klassengeschehen für den Lehrer im Blick, andererseits bleibt dieser im Sichtfeld der Schülers [sic!]
und kann jederzeit angesprochen werden.“ (R.L. 52) Durch eine kompakte Anordnung (vgl.
ebd.) (2) von Lehrertisch, Materialpool, Visualisierung der Milestones und Dokumentationsaushängen konnten Probleme schnell gelöst werden. Diese Anordnung sorgte bei L.R.
außerdem für „eine Art Rundlauf zwischen dem eigenen Platz, dem Materialpool und dem
[...] Lehrertisch.“ (L.R. 77). R.L. nennt dieses Phänomen „Zirkulation der Gruppe“ (R.L. 51).
Zirkulation ist einerseits die Bewegung zwischen Komponenten der Lernumgebung und dem
13
Arbeitsplatz. Andererseits der fließenden Wechsel der Lernpartner. Ein fester Arbeitsplatz
der Schüler hindert den bei MGML vorgesehenen Gruppenwechsel zunehmend. Darum
wurden feste Arbeitsplätze aufgelöst und „verschiedene 'Arbeitszonen'“ (L.R. 80) (3), nach
sozialen Arbeitsformen klassifiziert, eingeführt. Die Partnersuche war so vereinfacht: „So
wechselten die Kinder nun vermehrt die Sitzplätze, arbeiteten einmal an einem Einzeltisch
und einmal am Gruppentisch, je nachdem welche Aktivität sie erledigten.“ (L.R. 97).
Bei der Einteilung der Arbeitszonen scheinen sich zwei Raumkonzepte abzubilden, die
entweder individuelle Atembewegungen oder kollektive Atembewegungen mehr
unterstützen: der Lernbürocharakter mit Raumtrennern, die Rückzugmöglichkeiten für Einzelund Partnerarbeit zulassen (individuell), sowie der offene Raum mit möglichst großem
Überblick und gegenseitiger Beeinflussung (kollektiv). Ersteres bietet einen relativ
ungestörten Arbeitsprozess. Teilweise wirkt sich jedoch die Aufteilung des Raumes
nachteilig aus: „Gegenseitige Störungen, ununterbrochene Privatgespräche und
Langsamkeit waren typische Erscheinungsformen“ (R.L. 66), die aufgrund der räumlichen
Distanz zur Lehrkraft und zur Lerngruppe, auftraten. Der offene Raum bietet demgegenüber
das Potential zur Übernahme von Arbeitsmodi. Dies kann sowohl zur, als auch weg von der
Arbeit führen und entspricht dadurch einer natürlichen Lernbewegung. Eine Fensterreihe,
d.h. Einzelarbeitsplätze, die am Fenster stehend nach außen gewandt sind, kann zudem als
Inspiration dienen: „Fenster Arbeitsplätze sind sehr konzentriert beim Arbeiten. Von ihnen
kommt eine starke [sic!], konzentrierter Arbeitsimpuls“ (M.G., Z. 50f.).
Haltung und Verhalten der Lehrkraft
Ähnlich wichtig sind Haltung und Verhalten der Lehrkraft. Sie mögen als Umsetzung der drei
Grundhaltungen, allseitige Wertschätzung, Demut und Achtsamkeit gewertet werden.
T.N.s Feldtagebuch bietet folgende Situation, die sich kurz nachdem die Kinder ihre
Materialien geholt hatten, ereignet: „T.N. geht zu ihrem Platz und setzt sich ohne etwas zu
sagen hin und beobachtet. Lehrerin [,die unterstützende Klassenleitung, J.K.] hat keinen
Platz und gibt eine Anweisung mit erhobener Stimme. Ein Mädchen schaut auf ein paar
Jungen auch.“ (T.N., Z. 23-25). Die Intervention der Lehrkraft, der es augenscheinlich zu laut
zu geht, bringt ein paar Schüler aus der Arbeit. T.N. dagegen zeigt durch das geduldige
Beobachten Vertrauen auf den natürlichen Wechsel zwischen formellem Lernen und
Austausch, also die kollektive Atembewegung. Das Verhalten zeugt von Demut gegenüber
den Schülern als ihr eigener Lernexperte. Dem Leitsatz, „The Child is in the Driver's Seat“
folgend, erkennen sie selbst, wann und wie sie „in-Beziehung-treten“ können.
R.W.s Verhalten reflektiert eine achtsam-wertschätzende Lernbegleitung: „R.W. sitzt
zwischen 2 Mädchen am Lehrertisch. [Das Mädchen; J.K.] links neben ihr arbeitet still, mit
der rechten redet R.W.“ (R.W., Z. 9f.) Ihre Stimme ist kaum zu hören und zieht deshalb trotz
ihrer Hochposition als Lehrkraft keine Aufmerksamkeit auf sich: „Ich höre von 3 Metern
Entfernung ihre Stimme nicht durchdringen nur die Lippen bewegen sich.“ (R.W., Z. 10f.).
Plenumsrunden
Als dritten Faktor codierten wir Plenumsrunden – sowohl vor, als auch nach der Arbeit an
den Milestones. In Plenumsrunden zuvor gilt es, Strukturen zu klären: „M.G. steht auf: 'ich
hab noch ein paar Verbesserungsvorschläge: Die Kästen sollen so reingeschoben werden,
dass du ihr Symbol siehst (macht es vor) und du musst sie nicht ganz rausziehen.'“ (M.G., Z.
19-21). Neue Regeln und Verhaltensweisen werden instruiert und repetiert. Auch inhaltliche
Einstiege können vor der ganzen Gruppe inszeniert werden: „Roquefort spricht (Maus aus
14
Cd-Player etwas verzerrt + Handpuppe in M.G.s Hand) Kinder hören sehr achtsam und
aufmerksam zu.“ (M.G., Z. 18f.). T.N.s Reflexionsprotokoll führt zudem auf, dass das
„Zusammengehörigkeitsgefühl“ (T.N. 113) dadurch gestärkt wurde und es zeigt, dass „der
Lehrer auf der gleichen Ebene mit dem Schüler steht“ (ebd.), was zusätzlich durch die
Kreisform, in der keiner exponiert ist, symbolisiert wird.
Plenumsrunden zum Schluss nehmen dagegen eine reflektierende Funktion ein: „R.L. lobt
die 3 Mädchen, die schon sehr weit gekommen sind → sie freuen sich. R.L. fragt was den
Kindern gut gefallen hat. Antworten: v.a. PA [Partnerarbeit; J.K.], dass man viel mit PA
erledigen konnte, teilweise dass einzelne Stationen interessant/motivierend waren.“ (R.L., Z.
60-63). Ergebnisse werden positiv hervorgehoben und Erfahrungen ausgetauscht.
Es fällt auf, dass die erste Plenumsrunde, zur Vorbereitung des Lernens, der ersten
Phase aus Montessoris Polarisation der Aufmerksamkeit ähnelt. In beiden werden eine
innere Sammlung und Ordnung initiiert sowie Hemmungen abgebaut, um eine konzentrierte
Arbeitsphase zu ermöglichen. Fast analog dazu gleicht der Plenumsrunde am Schluss die
dritte Phase der Polarisation der Aufmerksamkeit, in der eine Hinwendung zur Gruppe, sowie
ein Austausch über Ergebnisse und Erlebnisse stattfindet. Plenumsrunden vor und nach der
Arbeit mit Lernleitern bieten folglich eine ritualisierte Basis für den natürlichen Lernablauf.
7.
Zusammenfassung und Ausblick
Den Ergebnissen dieser kleinen Fallstudie folgend, halten wir fest, dass es in MGML-Situationen zu individuellen und kollektiven Atembewegungen kommt, welche Ausdruck der Aufmerksamkeit von Individuen und Gruppen sind. Individuelles und gemeinsames Lernen als
ein in-Beziehung-treten werden von der MGML-Methodolgoy unterstützt. Gleichsam ist es
das Ergebnis, dass die Raum- und Materialanordnung, das Verhalten der Lehrkraft und Plenumsrunden als Gelingensfaktoren, entscheidend zum individuellen und gemeinsamen Lernen mit der MGML-Methodology beitragen. Unsere Forschung konnte der Frage nach den
Indikatoren und Faktoren der Aufmerksamkeit in MGML-Situationen folglich einen Impuls
geben. Wichtig ist es, die ersten Aussagen über Prozessphänomene und beeinflussende
Faktoren des individuellen und gemeinsamen Lernens mit der MGML-Methodology, in
größer angelegten Studien zu überprüfen. Eine Bewährung unter einer anderen Methodik
und neuen Feldern wäre wünschenswert.
Wir konnten zudem darauf hinweisen, dass das individuelle und gemeinsame Lernen und
Unterrichten mit MGML durch die Strukturelemente und Grundkulturen die Schule als
Ganzes beeinflusst. Unterricht als eine entscheidende Teilkonstituente von „guter Schule“
konnte dadurch ins Bewusstsein gerückt werden. Welcher Teilkonstituente man sich jedoch
bevorzugt widmet, d.h. welche Perspektive man auf die „gute Schule“ einnimmt, sei dabei
jedem selbst überlassen. Den anfangs zitierten Satz, „'Eine gute Schule ist eine Schule, in
der (...)'“, lassen wir darum bewusst für jeden offen.
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Angaben zu den Autoren
Jonas Klug,
hat im Frühjahr 2015 das 1. Staatsexamen für das Lehramt an
Mittelschulen in Bayern an der Universität Regensburg absolviert
und ist Lehramtsanwärter in Mittelfranken. Am Lehrstuhl für
Schulpädagogik der Universität Regensburg wirkte er zwei Jahre in
einem Forschungsteam zur Wirksamkeit der MultiGradeMultiLevelMethodology in Primar- und Sekundarschulen in Indien und
Deutschland.
Dr. Ulrike Lichtinger,
ist Leiterin des Praktikumsamts der Universität Regensburg für die
Lehrämter Grund- und Mittelschule und Vorstand im Regensburger
Universitätszentrum für Lehrerbildung (RUL). Seit 2010 ist sie in
der Unterrichtsentwicklung zum Flexiblen Lernen mit Lernleitern
und Unterrichten mit MGML sowie in der Begleitforschung zur
Wirksamkeit
der
MultiGradeMultiLevel-Methodology
tätig
(www.lernleitern.de)
17