Interpretation. Luise Rinser: "Die rote Katze"

Hans Ester
Luise Rinser: Die rote Katze
Reclam
Luise Rinser: Die rote Katze
Von Hans Ester
Die Kurzgeschichte Die rote Katze gehört zu den bekanntesten Texten Luise Rinsers
und ist in Anthologien für den Schulunterricht häufig zu finden:1 Sie gehört damit zum
engsten Kanon literarischer Nachkriegstexte.
Die rote Katze wird von einem namenlosen Ich-Erzähler erzählt. Die Geschwister
des Erzählers werden dagegen mit Namen genannt: Peter und Leni. In der Forschung
wurde diskutiert, ob es sich bei dem Erzähler um ein weibliches Ich handeln könnte.
Hermann Kesten nimmt dies an und bemerkt, Luise Rinser könne besonders gut
»moralisch verwirrte, ja sogar ethisch verlotterte Existenzen zu erzsympathischen
Figuren« machen, etwa »wie Jan Lobel aus Warschau oder die bösen kleinen Mädchen
in den Geschichten Die Lilie, David und Die rote Katze, die allzu energisch, ja
unzähmbar bis zu mörderischen Neigungen sind«.2 Doch erscheint dies angesichts der
Vaterrolle, die der Ich-Erzähler in der Familie offensichtlich zu übernehmen hat, wenig
überzeugend.
Der Anfang der Geschichte spielt im Jahr 1946. Der Junge – so sollte man ihn
wohl bezeichnen – ist dreizehn Jahre alt. Erst später in der Geschichte wird deutlich,
dass er nahezu ohne Vater aufgewachsen ist, denn der anscheinend für körperliche
Züchtigungen in der Familie zuständige Vater scheint sich immer noch in
Kriegsgefangenschaft zu befinden. Der Junge wird von seiner Mutter geohrfeigt, weil er
die titelgebende rote Katze mit einem Holzscheit verletzte und verscheuchte. Seit fünf
Jahren hat der Junge aber keine Ohrfeige mehr gekriegt. (48)
Es ist nicht ganz einfach, Ort und Zeit der Handlung exakt zu bestimmen, da der
Text wenig Hinweise bietet. Aus der Tatsache, dass Peter und Leni Bohnen schneiden,
1
© 2007 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
Hans Ester
Luise Rinser: Die rote Katze
Reclam
lässt sich aber schließen, dass die Familie zumindest versucht, ihr Leben in normale
Bahnen zu leiten. Es spricht einiges dafür, dass die Erzählung im Sommer oder Herbst
des Jahres 1946 einsetzt. Später ist vom strengen, legendären Winter 1946 auf 1947
die Rede. Auf jeden Fall lebt die Familie weiterhin in einer Ruine: »Es hat damit
angefangen, daß ich auf dem Steinhaufen neben dem Bombentrichter in unserm Garten
saß. Der Steinhaufen ist die größere Hälfte von unserm Haus. Die kleinere steht noch,
und da wohnen wir, ich und die Mutter und Peter und Leni […]« (43). Auch ist von einer
Stadt und von einem Fluss die Rede. Doch verzichtet der Erzähler auf ausgedehntere
Beschreibungen der Umgebung und der Gefühle der Beteiligten. Konzentration im
Erzählen ist in der Kurzgeschichte primäres Gesetz: In kindlicher Sprache angenäherten
parataktischen Verbindungen (ständig werden die Sätze durch »und« verbunden und
die Verben wie in »hab« oder »sag« verkürzt) wird das Geschehen so direkt wie
möglich wiedergegeben. Einfache Dinge geraten in den Blickpunkt, wie die die
Geschichte eröffnenden Schilderungen des harten Brotes mit seiner biblisch-religiösen
Konnotation, als Nahrung und als Zeichen des Mitgefühls mit der anderen Kreatur. Der
Erzähler verliert sich nicht in Details. Es geht letztlich allein um den Versuch, mit der
eigenen Schuld am Tod der Katze fertig zu werden: Es geht um eine
Auseinandersetzung, um einen Prozess im Kopf des Erzählers selbst.
Unvermittelt setzt die Geschichte in der für Kurzgeschichten typischen Art und
Weise ein: »Ich muß immer an diesen roten Teufel von einer Katze denken, und ich
weiß nicht, ob das richtig war, was ich getan hab.« (43) Der Erzähler versucht seine Tat
dadurch zu entschuldigen, dass er die Familie in Zeiten des Hungers und der Not
schützen wollte, indem er einen zusätzlichen Bewerber um die spärlich vorhandenen
Nahrungsmittel – ein Tier – tötete. Ludwig Rohner hat in seiner Theorie der
Kurzgeschichte die Funktion des Titels, des ersten Satzes und die zeitliche und
räumliche Struktur der Kurzgeschichte allgemein untersucht. Anhand der von ihm
2
© 2007 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
Hans Ester
Luise Rinser: Die rote Katze
Reclam
angeführten Aspekte ist Die rote Katze ein Modellbeispiel der Kurzgeschichte.3
Konzentriert auf das Wesentliche, legt der Text dem Leser eine drängende Frage vor. In
seinem anregenden Buch The Short Story führt Sean O’Faolain bestimmte Begriffe an,
die die Strukturen von Kurzgeschichten angemessen beschreiben: »compression«
(Kondensation, Verdichtung) werde mit »suggestion« (suggestive Kraft) verbunden. Die
Verdichtung ist nach der Meinung O’Faolains die Voraussetzung dafür, direkt die
Phantasie des Lesers ansprechen zu können. Aus diesem Grund sind die ersten Sätze
einer Kurzgeschichte so eminent wichtig. Es gehe dabei nicht um Schönheit eines
Satzes oder seinen Rhythmus, sondern einzig und allein um Effektivität: »do we strike
the key-note [also den im Zentrum stehenden Ton oder die zentrale Idee] at once?«4
Der Junge hat Schwierigkeiten mit der Katze. Er verkennt im Verlauf des
Geschehens jedoch, dass die Katze für die anderen Familienmitglieder symbolischen
Wert hat: Sie steht für die langsam einsetzende Normalisierung des Lebens, hat man
doch wieder die Möglichkeit, vom eigenen Essen sogar einem Tier etwas abzugeben. Zu
Beginn der Begegnung ist die Katze mager und scheu. Für die drei anderen
Familienmitglieder bekommt das zugelaufene Tier dann schnell eine starke emotionale
Bedeutung. Mit seinen freundlichen Reaktionen auf die Zuwendungen prägt es das neu
entstehende Gefühl, ein wirkliches Zuhause zu haben: Die Katze ist das sichtbare
Zeichen für den Neubeginn. In dem dem Sommer folgenden harten Winter 1946/47
wird deshalb auch trotz der Entbehrungen weiter versucht, diese ›Normalität‹, auch
noch zusätzlich ein Tier mit durchfüttern zu können, aufrechtzuerhalten.
Doch warum tötet der Junge die Katze? Man muss bedenken, dass der Junge in
einer vaterlosen Familie lebt. Die Aufgabe der Beschaffung von Nahrungsmitteln obliegt
ihm als dem ältesten männlichen Mitglied der Familie. Die Nahrungssuche ist
beschwerlich – er muss stehlen und betrügen und sich der anderen Kinder erwehren,
die ebenso wie er auf der Jagd nach Nahrungsmitteln und Brennstoff sind. Es ist dem
3
© 2007 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
Hans Ester
Luise Rinser: Die rote Katze
Reclam
Jungen kaum möglich, diese Verantwortung oder diesen Anspruch zu reflektieren oder
auch nur für kurze Zeit von ihm abzulassen: Die Problematik der Parentifizierung – also
der Tatsache, dass ein Kind in die Rolle eines Erwachsenen bzw. eines Elternteils
gezwungen wird, obwohl es selbst noch gar nicht in der Lage dazu ist, eine solche Rolle
auszufüllen – prägt die gesamte Geschichte. Die Sorge des Jungen besteht darin, dass
Mutter und Geschwister verhungern könnten. Die rote Katze scheint die Erfüllung seiner
Aufgabe mit ihrer Fresssucht unmöglich zu machen.
Man kann also mit Manfred Durzak diese Geschichte als eine Geschichte der
Initiation lesen: »Als Initiation in die Erwachsenenwelt wird hier […] nicht mehr
unmittelbar die verstörende Konfrontation mit der Grausamkeit und Zerstörung des
Krieges dargestellt. Die Zeit ist 1946, aber der Krieg ist noch allgegenwärtig und wird
von dem dreizehnjährigen Jungen, aus dessen Perspektive erzählt wird, in dem
charakteristischen Einleitungssatz angedeutet […]«.5 Doch Durzak versteht das Töten
der Katze als eine notwendige Handlung, die den Jungen schuldig und unschuldig
zugleich macht, da »er aus Liebe zu seiner Familie und um ihres und seines nackten
Überlebens willen selbst gezwungen ist, Gewalt und Zerstörung auszuüben.«6 Ähnlich
verkürzt Henning Falkenstein den Text, wenn er ausführt: »Als der dreizehnjährige IchErzähler sieht, wie die Katze, die er in der Nachkriegszeit streunend und bettelnd
gefunden und zu sich genommen hatte, besser genährt ist als seine beiden jüngeren
Geschwister Peter und Leni, weil das Mitleid mit dem Tier bei allen größer als der
eigene Hunger ist, schlägt er sie tot.«7 Man kann diese Deutungen teilen, doch würde
dann der wichtigste Aspekt der Geschichte unbeachtet bleiben, dass nämlich die Katze
in das halbzerstörte Haus zieht, der Gemeinschaft so ein neues Zentrum gibt und damit
an der Etablierung einer neuen, behüteten und umsorgten menschlichen Gemeinschaft
zumindest beteiligt ist.
4
© 2007 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
Hans Ester
Luise Rinser: Die rote Katze
Reclam
Die rote Katze besitzt also für die Mutter und die Geschwister einen hohen Wert.
Das Geben von Nahrung ist der Keim für ihr humaneres Zusammenleben. Man ist in der
Lage, einem anderen Geschöpf zu helfen, und dieses Geschöpf dankt dafür mit
Vertrauen. Bemerkenswert ist außerdem, dass es sich um eine Katze und nicht um
einen Kater handelt. Das Weibchen lässt hier an Geborgenheit und ein Zuhause für die
Trägerin künftiger Geschlechter denken, manifestiert so also noch deutlicher den in die
Zukunft weisenden Grundcharakter der Geschichte.
Der erzählende Junge kann solchen positiven Gefühlenin seiner Überforderung
aber – zumindest anfänglich – keinen Raum geben. Damit isoliert er sich innerhalb
seiner eigenen Familie. Sein Leben, das im Jahre 1933 begann und damit nichts
anderes als die Realität des Dritten Reiches und die kurze, harte Nachkriegszeit kennt,
wird durch die Überbeanspruchung als Vaterersatz für die Familie zusätzlich geprägt.
Die Mutter scheint diese Überforderung deutlich zu bemerken, versucht sie doch, den
Jungen zu beruhigen und seine nur indirekt zu erahnende Verzweiflung über die eigene
Tat zu beschwichtigen: Bezeichnenderweise reagiert die Mutter nicht mit Empörung auf
das von ihr nur geahnte Geschehen auf der Eisscholle: »›Ich versteh dich schon. Denk
nimmer dran.‹« (51)
Dass der Junge sich keineswegs wohl fühlt, wenn er die Katze drei Mal attackiert
(zuerst mit einem Stein, dann mit einem Stück Holz, am Schluss, indem er sie auf einer
Eisscholle zu Tode schlägt), zeigt sich bereits darin, dass sie auch auf ihn wie ein
menschliches Wesen wirkt; als er sie attackierte, hat sie »geschrien wie ein Kind« (50,
ähnlich 43). Und auch im Negativen vermenschlicht er die Katze, wird sie doch für ihn
zu einer bedrohlichen Macht, der nichts entgeht: »Es hat keine Mahlzeit gegeben ohne
das rote Vieh, und keiner von uns hat irgendwas vor ihm verheimlichen können.« (48)
Ebenso wie der Erzähler bleibt die Katze namenlos, wird vom Jungen nur mit
Schimpfwörtern bedacht, um das Tier – das dem Knaben so menschlich vorkommt,
5
© 2007 Philipp Reclam jun., Stuttgart.