Schicksal ERINNERUNGEN Daniel war 24, als er am Wendelstein starb. Es dauerte, bis Helene Schmid den Anblick der Gebirgskette nahe ihrem Wohnort Bad Aibling wieder ertrug – und in der Natur Frieden finden konnte »Im gegensatz zu seInen geschwIstern war DanIel nIe unbeschwert « »ich war so hilflos gegen seine Depression« Ihr Sohn litt jahrelang unter Schwermut. Als er mit 24 Jahren starb, quälte sich Helene Schmid, 51, vor allem mit der Frage, ob sie seinen Tod hätte verhindern können fotos: christine schneider. text: soPhie sonnenBerGer Haare & Make-up: Maria Mutz/faMe P Plötzlich ist alles wieder ganz nah. „Wenn ich an diese Bilder denke, steigen sofort die alten Gefühle in mir hoch“, sagt Helene Schmid. Gerade noch hat sie gut gelaunt und kenntnisreich von ihrer Liebe zu Meditation und Buddhismus erzählt, doch jetzt, wo der Absturz des Germanwings-Airbusses im März dieses Jahres zur Sprache kommt, presst die 51-Jährige ihre Hände fest zusammen und kämpft mit den Tränen. Bei der vom Kopiloten absichtlich herbeigeführten Katastrophe waren alle 150 Insassen des Flugzeugs ums Leben gekommen – eine Tragödie, die Helene Schmid an den eigenen entsetzlichen Verlust vor drei Jahren erinnert. Sie fühlt mit den Hinterbliebenen der Opfer, denn sie weiß, wie es ist, wenn das eigene Kind nie wieder nach Hause zurückkehrt. Aber sie fühlt auch mit den Angehörigen des psychisch kranken Kopiloten. Denn auch ihr Sohn litt an einer schweren Depression und starb – mit 24 Jahren. Daniel ist der erste Sohn von Helene Schmid und ihrem Mann Hubert, ein absolutes Wunschkind, wie sie sagt: „Wir haben ihn so sehr geliebt, wollten immer nur das Beste für ihn. Doch bereits im Kindergartenalter machten wir uns oft Sorgen um ihn, weil er getrieben war von einer inneren Unruhe. Und je älter er wurde, desto mehr verstärkte sich das. Ganz anders als seine beiden jüngeren Geschwister ging er nie unbeschwert durchs Leben.“ Richtig wohl, so Helene Schmid weiter, fühlte sich ihr Ältester nur, wenn er mit seinem Rennrad in den Bergen rund um seine Heimat im bayerischen Bad Aibling unterwegs war. Stundenlang dauerten diese Touren. Nach dem Schulabschluss begann Daniel eine Ausbildung zum Hotelfachmann. In dem hek- tischen Job fühlte er sich oft überfordert, erinnert sich seine Mutter. So heftig wurde der Druck, dass er sich gegen Ende der Lehre stationär behandeln lassen musste. Diagnose: Depression. Doch statt einer Gesprächstherapie bekam er in der Klinik nur hoch dosierte Psychopharmaka. Nach der Entlassung bestand er zwar seine Abschlussprüfungen, entschloss sich aber, eine Umschulung zum Lagerlogistiker zu beginnen. Zunächst lief alles glatt, doch dann wurde er in eine andere Abteilung versetzt. Daniel fand sich isoliert, schließlich von einem Kollegen gemobbt, woraufhin er sich noch mehr zurückzog. „Mit dem Gefühl, nicht gemocht zu werden und anders zu sein als die anderen, konnte er nur schwer umgehen“, erklärt die Mutter. Zu den meisten Freunden aus Schulzeiten war der Kontakt längst abgebrochen. Auch eine feste Freundin hatte er nicht – jede gescheiterte Beziehung hatte ihn untröstlich zurückgelassen. Daniel drehte einsam seine Runden auf dem Rennrad; 8/2015 DonnA 83 Schicksal und Helene und Hubert Schmid mussten ohnmächtig mit ansehen, wie ihr Sohn litt. „Ich wollte ihn so gern glücklich erleben! Aber ich musste akzeptieren, dass er erwachsen war, seine eigenen Entscheidungen traf. Ich wollte ihn nicht bevormunden.“ Trotzdem war es für sie kaum zu ertragen, dass ihr Sohn vergeblich nach einem Psychotherapeuten suchte, bei dem er sich gut aufgehoben gefühlt und bei dem er vielleicht die lebensnotwendige professionelle Hilfe gefunden hätte. Kurz vor Daniels 25. Geburtstag kam es zu einer Zäsur: Er kündigte seinen Job – und buchte einen Flug nach Australien. „Seine Reisepläne sprachen doch für das Leben“, sagt Helene Schmid. Doch die Depression überschattete sein Leben mehr und mehr. Auf die Familie wirkte er immer verzweifelter. Er redete sogar davon, sein Leben zu beenden. Was macht das mit Eltern, wenn das eigene Kind von Suizid spricht? „Mein Mann bat Daniel inständig um ein Treffen, er hoffte, ihm irgendwie Mut machen zu können“, erzählt Helene Schmid. Doch Daniel meldete sich nicht und ging auch nicht ans Handy. „Wir versuchten, nicht panisch zu werden: Schließlich war er schon einmal tagelang in den Bergen unterwegs gewesen, ohne uns Bescheid zu geben.“ Als Daniel aber auch zum Geburtstag seiner Mut- »Der Verlust Meines sohnes ist nun teil Meiner Biografie « 84 Donna 8/2015 ter wenige Tage später nicht anrief, meldeten ihn seine Eltern bei der Polizei als vermisst. Eigentlich, sagt Helene Schmid mit brüchiger Stimme, „wusste mein Herz zu diesem Zeitpunkt bereits, dass er tot war: Wir hatten ein sehr enges Verhältnis. Niemals hätte er meinen Geburtstag vergessen!“ Dennoch gab es dieses bange, verzweifelte Hoffen. Vielleicht hatte sich Daniel ja nur verletzt? Vielleicht würde er gleich mit seinem Rennrad um die Ecke biegen? Zwei Tage nach der Vermisstenanzeige wurden die Befürchtungen der Mutter Realität. Helene Schmid erhielt einen Anruf von der Polizei: Ein Rucksack war am Wendelstein gefunden worden. Ein Beamter wollte bei ihr vorbeikommen, um zu überprüfen, ob er Daniel gehörte. „Der Hubschrauber kreist noch“, sagte er beiläufig. „Wir haben eine abgestürzte Person gesichtet.“ Obwohl Helene Schmid, wie sie sagt, sofort gewusst hatte, dass es sich um ihren Sohn handelte, hoffte sie auf ein Wunder. „Aber abends klingelte es an der Tür, und zwei Polizisten standen vor mir, um mir zu sagen, dass mein Kind tot ist.“ Daniel war an einer extrem steilen Stelle des Wendelsteingebirges gefunden worden. „Es gibt keine Worte, um zu beschreiben, was ich nach dieser Nachricht fühlte. Ich war so verzweifelt wie noch nie in meinem Leben.“ Dennoch musste sie funktionieren. Die Beerdigung ihres Sohnes planen, seine Wohnung ausräumen, Termine bei der Polizei wahrnehmen. Nachdem Daniel obduziert worden war, erfuhr die Familie, dass der Hergang des Absturzes nicht eindeutig geklärt werden konnte. „Es wäre für unseren Trauerprozess so wichtig ge- wesen zu wissen, ob er von sich aus gegangen oder aus dem Leben gerissen worden ist. Denn die Trauer nach einem Suizid ist eine ganz besonders schwere“, sagt Helene Schmid. Doch erst nach der Beerdigung konnte die 51-Jährige beginnen, sich mit Daniels Tod auseinanderzusetzen. „Wenn man einen Menschen so sehr liebt, wie ich ihn geliebt habe, ist grenzenloser Schmerz unausweichlich. Die Trauer ist schließlich der Preis für die Liebe.“ Dazu kamen furchtbare Schuldgefühle – eine Last, die Angehörige von Depressiven oft verzweifeln lässt. „Die Beamten haben zwar versucht, uns davon zu überzeugen, dass Daniel ausgerutscht und abgestürzt war. Da wir aber um seine Probleme wussten, gingen wir von einem Suizid aus“, erinnert sie sich. Quälende Gedanken folgten: Hatte sie gegenüber Daniel Fehler gemacht? Das Falsche getan, das Richtige unterlassen? „Ich war all die Jahre so hilflos gegen seine Depression. Jetzt fragte ich mich, ob ich ihm wirklich genug geholfen hatte, ihn zumindest zu einem Arztwechsel hätte drängen müssen. Monatelang habe ich mich zerfleischt.“ Sich von diesen Selbstvorwürfen zu lösen und aufzuhören, nach dem Warum zu fragen – das seien die schwierigsten Aufgaben in ihrem Leben gewesen. Weil sie wusste, dass sie das nicht allein schaffen konnte, wandte sie sich an eine Traumatherapeutin. „Ich habe einen schweren Schicksalsschlag abbekommen. Daran kann ich nichts ändern. Meinen Umgang mit Daniels Tod aber wollte ich beeinflussen.“Anfangs wurde sie von Freunden im Haushalt unterstützt, ging stundenlang im KRAFT TANKEN Ausgedehnte Radtouren und Meditationsrituale halfen Helene Schmid, neuen Lebensmut zu schöpfen. Heute gibt sie ihre Erfahrungen an andere betroffene Eltern weiter. Auch das, sagt sie, tut ihr gut Wald spazieren. „Ich ließ mich vom Schutz der Bäume umfangen und von der Kraft der Erde tragen“, sagt sie. Viele Beziehungen zerbrechen in einer solchen Extremsituation. Für Betroffene ist es oft schwer, damit umzugehen, dass der Partner meist anders trauert als man selbst. Helene Schmid und ihr Mann verloren sich nicht, was sie zum Großteil auch dem Austausch in einer Selbsthilfegruppe für verwaiste Eltern zu verdanken haben. „Vor allem meinem Mann hat es geholfen, das Unbegreifliche immer wieder auszusprechen. Trotzdem war es oft wahnsinnig bitter, ihn so verzweifelt zu sehen.“ Auch Daniels Geschwister litten. Sie mussten nicht nur mit dem Tod des Bruders, sondern auch mit der Trauer der Eltern fertigwerden. „Anfangs waren sie für uns stark, doch dann mussten sie lernen, relativ normal weiter- zuleben, ihr Studium zu meistern und nicht auch noch zusammenzubrechen.“ Außerhalb ihrer Familie erlebten die Trauernden dagegen auch Unverständnis, so Helene Schmid. „Ich hätte mir so sehr jemanden gewünscht, der mir einfach nur zuhört und akzeptiert, dass der Verlust meines Sohnes nun ein Teil meiner Biografie ist.“ Stattdessen versuchten viele Bekannte, sie mit gut gemeinten Ratschlägen und Floskeln wie „Die Zeit heilt alle Wunden“ zu trösten. Daran sind einige Freundschaften zerbrochen. Da half es, dass sie und Hubert in der Selbsthilfegruppe Menschen fanden, die stundenlang zuhören konnten – und mit ihnen erste Schritte zurück ins Leben wagten. „Musik hören, ins Kino gehen, fröhliche Menschen treffen: All das erschien anfangs undenkbar. Aber ich habe mir bewusst gemacht, dass Daniel nicht gewollt hätte, dass wir ewig unter seinem Tod leiden.“ Auch in ihrer Spiritualität fand Helene Schmid Halt. „Wenn ich einer CD mit Meeresrauschen lauschte und meditierte, ließ ich mich bewusst im Atmen vom Leben tragen, in der Hoffnung, dass es weiterhin für mich sorgen wird.“ Schon früher mit Meditation vertraut, erfüllte sich die gelernte Bankkauffrau jetzt einen langjährigen Traum: Sie begann eine Ausbildung zur Meditationslehrerin. Zusätzlich ließ sie sich zur Trauerbegleiterin ausbilden, leitet Seminare beim Verein Verwaiste Eltern und bietet Einzelbegleitung an (heilsametrauer.de). Mit ihrer Geschichte möchte sie anderen Betroffenen helfen. „Ich habe mir nach Daniels Tod in kleinen Schritten ein gutes Leben aufgebaut und bin heute wieder glücklich. Auch wenn es die Unbeschwertheit vergangener D Tage nie mehr geben wird.“ 8/2015 DonnA 85
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