Die Flussperlmuschel auf der Roten Liste; ökotoxikologische Ursachen-Analyse Zahlreiche Tierarten der Oberläufe der Flüsse und Bäche der deutschen Mittelgebirge werden in der deutschen und Internationalen Roten Liste als bedroht aufgeführt, darunter viele Mollusken, wie die Wasserschnecken Anisus vorticulus (Troschel) und Candidula unifasciata (Poiret), oder die Süßwassermuscheln Pseudanodonta complanata (Ross- mässler), Anodonta anatina (Linnaeus) und besonders die Flussperlmuschel, Margaritifera margaritifera, die vom Aussterben bedroht ist. Wegen ihrer Sesshaftigkeit und ihrer hohen Anpassung an die betreffenden ökologischen Bedingungen sind sie empfindliche Zeigerorganismen; die Flussperlmuschel ist wegen ihrer Langlebigkeit ein sensibler Indikator für allmähliche, über Adulte Flussperlmuscheln im Aquarium, Jahrzehnte hinweg stattfindende ökosystemare Glasperlen als künstliches Substrat. Veränderungen. Die Untersuchung der ökologischen Qualität solcher im Prinzip für weitgehend ungestört gehaltener Gebirgsbäche erfolgt im allgemeinen durch Ermittlung wasserchemisch-analytischer Parameter, wie Stickstoff- und Phosphorgehalt, biochemischem und chemischem Sauerstoffbedarf, Leitfähigkeit oder Konzentrationen einzelner Problemstoffe wie Schwermetalle, Pflanzenschutzmittel oder Detergentien. In Ergänzung solcher physikalischer und chemischer Expositionsparameter erlaubt die Analyse der Populations-Dichte und Alters-Struktur von Muscheln eine integrale Ermittlung ökotoxikologischer Störungen. Dabei sind nicht nur die Fließgewässer selbst in Betracht zu ziehen, sondern auch Veränderungen aller mit ihnen im dynamischen Austausch stehenden Kompartimente, also der Atmosphäre, der Sedimente, oder der biotischen Umwelt, z.B. der Struktur der Nahrungsnetze. Eine Muschel durchläuft in ihrem Lebenszyklus vier Stufen, und auf jeder ist sie von anderen Faktoren, ökosystemaren Komponenten und Bedingungen abhängig. Deswegen sind zur Aufklärung der Ursachenketten ökotoxikologischer Effekte viele einzelne Parameter zu erheben, und die primären, auslösenden Prozesse oder Stoffe können deswegen lange unerkannt bleiben. Für die Entwicklung ökotherapeutischer Maßnahmen ist die Aufklärung kausaler Auslöse- und Wirkungs-Zusammenhänge aber eine unbedingte Voraussetzung. Spermienabgabe, Anodonta cygnea Glochidienabgabe, Anodonta cygnea 1 Glochidien, Anodonta cygnea Die Gesamtschau der zugrundeliegenden physikalischen, chemischen, biochemischen und toxikologischen Mechanismen und ihrer wechselseitigen Abhängigkeiten ist eine Grundaufgabe der praktischen Ökotoxikologie. Die bisherigen Untersuchungen, die an der Universität Bayreuth und anderen Forschungsinstitutionen durch- geführt worden sind, haben die Erfassung ökologisch- biologischer Parameter zum Ziel gehabt und wichtige Einblicke in die Populationsdynamik von Flussperl- muscheln eröffnet, z.B. der Altersstruktur oder Abundanz- Entwicklung. Die Möglichkeit der Auslösung der Popu- lations-Rückgänge durch chemische und biochemisch- toxikologische Wirkmechanismen und Parameter ist bisher noch nicht in ausreichendem Umfang berücksichtigt worden. Genauere Untersuchungen solcher Teilaspekte, z.B. welchen Anteil, durch den Menschen direkt oder indirekt in Bach-Ökosysteme eingebrachte Fremdstoffe am Rückgang der Flussperlmuscheln haben können, ist das Ziel der am Lehrstuhl durchgeführten Untersuchungen. Da die heute selten gewordene, schutzbedürftige Flussperlmuschel als Testorganismen nicht oder in begrenztem Umfang in Frage kommt, werden die notwendigen Labor- Untersuchungen an Anodonta cygnea durchgeführt. Glochidien, Anodonta cygnea Anodonta cygnea im Aquarium, Glasperlen als künstliches Substrat. Flussperlmuschel (Margaritifera margaritifera) Adulte Flussperlmuscheln im Aquarium, Glasperlen als künstliches Substrat. Flussperlmuscheln werden in Mitteleuropa über 100 Jahre alt, im subarktischen Lappland und Nord-Russland sogar über 200 Jahre. Sie besitzen ovale, braune bis schwarze Schalen von bis zu 15 cm Länge. In der Mitte des vorigen Jahrhunderts gab es sie in deutschen Mittelgebirgsbächen noch zu Millionen; auch in anderen Ländern Europas waren sie weit verbreitet. Als Ursachen für den Rückgang in Mitteleuropa werden zahlreiche Faktoren diskutiert: Verdichtung des Bachbetts durch Feinsedimente aus der Landwirtschaft, Eutrophierung, Belastung durch Abwässer, Versauerung. Ökosysteme wie Bachläufe werden von vielen Faktoren bestimmt und beeinflusst, weswegen das Zusammen- führen von chemischer Analytik, ökotoxikologischen Labor- untersuchungen und biologisch-ökologischen Feldstudien notwendig ist, um die Gründe für diesen Rückgang verstehen zu können. 2 In Deutschland gibt es nur noch Flussperlmuscheln die über 50 Jahre alt sind. Trotz der seit zwei Jahrzehnten verbesserten Wasser-Qualität der Bäche und Flüsse, in denen früher Flussperlmuscheln vorkamen, trotz Kläranlagenbau, trotz Vorschriften zur Einhaltung von breiten Gewässer-Schutzstreifen bei der Ausbringung von Dünge- und Pflanzenschutz-Mitteln, ist eine Verjüngung der Populationen nicht zu beobachten; im Gegenteil, die Bestände nehmen weiter ab, weil erwachsene Tiere sterben und der Nachwuchs nicht überlebt. Die Flussperlmuschel ist wegen ihrer Langlebigkeit gegenüber Änderungen ihrer Umwelt- Bedingungen besonders empfindlich. Sie leben in nährstoff-armem Wasser, mit geringen Konzentrationen von potentiell eutrophierenden Substanzen wie Nitrat und Phosphat, mit geringer Leitfähigkeit und niedrigen Gehalten an Mineralstoffen. Ein guter Bestand an Forellen oder Lachsen als Zwischenwirte ist nötig, und der Bachgrund sollte ein durchströmtes Kiesbett sein, mit geringem Anteil an Feinsediment. Im Frühjahr setzen männliche Muscheln ihre Spermien ins Wasser frei, die die weiblichen Muscheln befruchten, die ihrerseits im Spätherbst Millionen von Muschellarven, sogenannte Glochidien, ins Wasser abgeben. Diese EmbryonalFormen der Perlmuschel müssen sich zum Überwintern an den Kiemen von Wirtsfischen anhaften, wo sie sich parasitär ernähren. Im Frühjahr fallen die Jungmuscheln, die dann eine Größe von 0,2 bis 0,5 mm haben, von den Kiemen der Fische ab und leben im kiesigen Geröll des Bachbetts, bis sie im Alter von 5-10 Jahren einige Zentimeter groß sind und allmählich an die Bachbett-Oberfläche wandern. Alle Lebensphasen-Übergänge sind mit ernormen Verlusten verbunden, und von den Millionen Glochidien schaffen es auch unter besten Bedingungen nur wenige bis zum Jungmuschelund frühen Erwachsenen-Stadium; besonders verlustreich ist der Übergang aus der parasitären Phase zum freien Juvenil-Stadium. Juvenile Perlmuscheln Fress-Spuren juveniler Perlmuscheln in Detritus Ca-Stoffwechsel Muscheln benötigen zum Überleben saubere Gewässer, die meist auch arm an Calcium (Ca) sind, ein für alle Lebewesen essentielles Makro-Element, das für Membranstabilisierung, Muskelkontraktion, Nervenreizleitung, Regulierung von Zellteilung und Zellwachstum wesentlich ist. Muscheln benötigen außerdem große Mengen für die Entwicklung ihrer Schalen. Vergleiche von Perlmuschel-Schalen aus den sich noch weitgehend normal reproduzierenden Beständen Nordfinnlands mit denen von Tieren aus Oberfranken zeigen, dass die Schalen der letzteren dünner sind und relativ wenig kristallines Calciumcarbonat eingelagert haben. Dies lässt vermuten, dass eine Störung der Ca-Homöostase und ein dadurch verursachter tendenzieller Ca-Mangel die Vitalität der Perlmuscheln in ihren verschiedenen Lebensstadien schwächt. Muscheln sind als filtrierende Organismen besonders stark durch solche Fremdstoffe gefährdet, 3 die in der Schwebteilchen-Fraktion, ihrer Hauptnahrungsquelle, und im Sediment, das Substrat auf dem sie leben, angereichert sind. Viele persistente organische Fremdstoffe (POP) wie das früher verwendete Insektizid DDT und dessen Metabolit DDE oder die polychlorierten Biphenyle und eine Reihe von Schwermetallen haben ein solches Verhalten. Der Rückgang der Perlmuschelbestände simultan zum Anstieg der Verwendung chlororganischer Insektizide und anderer POP legt nun nahe, dass ein wesentlicher Faktor eine mit der Bioakkumulation von Fremdstoffen einhergehende Ca-Stoffwechselstörung sein könnte, wie sie auch bei Greifvögeln zur Beeinträchtigung der Eischalen-Dicke geführt hat. Allgemein erkannt sind auch die endokrinen Wirkungen von DDT und DDE; dies führt Adulte Flussperlmuscheln im Aquarium, wahrscheinlich zu tendenzieller Glasperlen als künstliches Substrat. Ca-Unterversorgung und Störung der Disposition in verschiedenen Kompartimenten und Gewebetypen. Zusätzlich wird der tendenzielle Ca-Mangel durch das ebenfalls bioakkumulierte, toxische Schwermetall Cadmium (Cd) verschärft; der typische Effekt von Cd ist die Störung der Ca-Rückresorption aus dem Primärfiltrat im Nephron der Niere. Durch den Ca-Verlust über die Niere wird das den Tieren verfügbare Ca zusätzlich drastisch gesenkt Die im Rahmen des Projektes laufenden Untersuchungen zielen darauf ab, (1) die Belastungsdaten der Perlmuschel-Habitate bezüglich der für den Ca-Stoffwechsel relevanten Fremdstoffe durch analytisch-chemische Untersuchungen zu ermitteln und die Datenbasis zu verbreitern, (2) die Grund- prinzipien der toxikologischen und ökotoxikologischen Kausalkette von der Aufnahme und Disposition der persistenten organischen und metallischen Verunreinigungen bis hin zu deren toxikologisch- physiologische Wirkungen aufzuklären, und (3) mit Hilfe dieser mechanistisch-kausalen Kenntnisse die Schlüssel-Bedingungen für das Überleben der Jungmuscheln zu verstehen. Letztlich dient dies dazu, in Bach- und Fluss-Strecken, aus der die Flussperlmuschel verschwunden ist, Sanierungs-Maßnahmen einzuleiten, um dort Neubesiedlungsversuche mit Aussicht auf Erfolg durchzuführen. Erst wenn dies erreicht ist, kann das Gesamtprojekt als abgeschlossen betrachtet werden. Wie angedeutet sind wir der Überzeugung, dass die sich abzeichnende ökotoxikologische Kausalkette der Störung der Ca-Homöostase durch kombinierte, synergistisch-toxische Wirkung von persistenten organischen Fremdstoffen und Schwermetallen, die vom Menschen direkt und indirekt in natürliche Bach-Ökosysteme eingebracht worden sind, nicht nur für das Aussterben der Perlmuscheln verantwortlich ist, sondern möglicherweise auch die auffälligen Rückgänge vieler anderer aquatischer Mollusken erklärt. Literatur 1. GIT Frank H., Gerstmann S., Poxleitner K., Petr J., 2006. Can the pearl mussel still be saved? Europe 10, 38-41. 2. Petr J., Gerstmann S., Frank H., 2006. Determination of some heavy metal cations in molten snow by transient isotachophoresis / capillary zone electrophoresis. JSS, in press. 3. Frank H., Gerstmann S., Poxleitner K., 2006. Ist die Flussperlmuschel noch zu retten? GIT 2, 114-116. 4. 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