54 T H E M A : M U S I K U N D G L A U B E — B E R L I N - R E P O R TA G E 12 8 — A U S G A B E N R . 0 4 . 2 015 Barocker Kanzelhimmel in der St. Marienkirche am Alexanderplatz DIE SCHÖNSTE ART ZU BETEN Wer sind die Menschen, die in den Kirchen nicht nur das Glaubens-, sondern auch das Kulturleben musikalisch bereichern? Vo n A n n e t te Z e r p n e r F o to s vo n T h o m a s M eye r 55 T H E M A : M U S I K U N D G L A U B E — B E R L I N - R E P O R TA G E 56 Anna Pöschel singt im Chor, ihre Schwester, Marie-Louise Schneider, ist Kantorin: »Bach wirkt in der Kirche ganz anders.« # JAU C H Z ET F R O H L O C K ET ? Oder vielleicht doch eher #weinenklagensorgenzagen? Unter welchem Hashtag würde man wohl weiterzwitschern, was in Klassikforen über die Lage der Kirchenmusik in Deutschland gepostet wird? Einerseits werden hauptamtliche Kantorenstellen, Konzertsolisten und Heizkosten eingespart, haben Ganztagsschule und G8 den potenziellen Chornachwuchs fest im Griff, kann oder will sich die berufstätige Generation nur noch selten auf die wöchentliche Chorprobe festlegen. Andererseits sind hierzulande immer noch fast eine Million Menschen in kirchlichen Ensembles musikalisch aktiv (siehe auch das »Zahlenspiel« auf Seite 14 ) und bereichern das Land mit einer großen künstlerischen Vielfalt. Wir haben uns in verschiedenen Kirchen umgehört, wie es in Berlin um die sakrale Musik bestellt ist. MARIENKIRCHE Ob Rosalie, die an einem warmen Herbsttag vor einem Café in Mitte aus dem Kinderwagen kräht, irgendwann das »Weihnachtsoratorium« singen wird? Die Chancen stehen gut, denn ihre Mutter Anna Pöschel singt seit Kindertagen begeistert im Kirchenchor und ihre Tante Marie-Louise Schneider ist Kantorin der evangelischen Marienkirche am Alexanderplatz. Aufgewachsen sind die beiden Schwestern im OstBerlin der Siebziger- und Achtzigerjahre; die Kirchenmusik zieht sich in ihrer Familie durch die Generationen: Ein Großvater war Pfarrer, ein Verwandter Professor für Orgelbau, und die Abendunterhaltung der Großmutter und ihrer vier Schwestern habe vor dem Krieg darin bestanden, »gemeinsam zu singen oder sich Gedichte vorzulesen«, erzählt Marie-Louise. Anna lacht: »Was sollten sie sonst tun?« In zerstreuungsreicherer Zeit wird auf ihren Familienfesten noch immer ganz selbstverständlich mehrstimmig gesungen: »Kirchenlieder sind Selbstverständigung.« Selbst wenn es noch einige Jahre dauert, bis Rosalie alt genug zum Mitsingen ist, haben die großen Berliner 12 8 — A U S G A B E N R . 0 4 . 2 015 Anna Pöschel mit Tochter, Marie-Louise Schneider, Kantorin der evangelischen Marienkirche Innenstadtkirchen wie der Bischofssitz Marienkirche keine Chornachwuchssorgen, unter denen die Gemeinden in den Außenbezirken oder auf dem Land so sehr leiden. Sogar die problematische Generation der beruflich und familiär eingespannten Endzwanziger bis Endvierziger sei bei ihnen gut vertreten, sagt die 42-jährige Kantorin Marie-Louise Schneider. Die Möglichkeit, aufwendige Werke wie Brahms’ »Deutsches Requiem« oder das vielgeliebte »WO«, Bachs »Weihnachtsoratorium«, auf hohem Niveau mitzusingen, zieht erfahrene Laiensänger aus der ganzen Stadt und dem Umland in die großen Chöre an Marienkirche oder Dom. Anna Pöschel vergleicht das Glück im Chor mit dem beim Paartanz: »Es geht nicht allein, und wenn es funktioniert, ist es ein Schwebezustand. Das hochkonzentrierte Atmen ist einfach gut für den Körper. Es nimmt einen vollkommen aus dem Alltag.« Die besondere Kraft der Kirchenmusik besteht für sie in der Verbindung von Musik und Sakralraum: »Bach wirkt dort ganz anders als an anderen Orten.« Und das, ergänzt Marie-Louise Schneider, ergreife sogar Atheisten: »Nach einer ›Johannespassion‹ sagte mir jemand, er glaube zwar nicht an Gott, aber das Singen habe ihn sehr berührt. Beten würde der nicht, aber denselben Text singen, dass tut er voller Begeisterung.« BERLINER DOM Ein paar hundert Meter weiter im Berliner Dom bricht Kantor Tobias Brommann seufzend die Diskussion mit der Hotline seines Softwareanbieters ab, steigt aus dem von Notenstapeln überquellenden Arbeitszimmer hinab in den Kirchenraum des Kuppelbaus und von dort hinauf zur Orgel. Täglich um 12 und um 18 Uhr bietet der Berliner Dom eine niedrigschwellige Andachtszeit – zwanzig Minuten der Einkehr für Touristen, Passanten und Gemeindemitglieder. »Den Dom liebt oder hasst man«, sagt der gebürtige Hamburger, während er am Instrument Platz nimmt. 57 T H E M A : M U S I K U N D G L A U B E — B E R L I N - R E P O R TA G E 58 12 8 — A U S G A B E N R . 0 4 . 2 015 59 sind heutzutage terminliche und organisatorische Flexibilität gefragt. Neben dem Kammerchor leitet der Kantor den in zwei Gruppen geteilten Oratorienchor, den Kantatechor, der für die gottesdienstliche Musikversorgung jedes Jahr bis zu sechs Bach-Kantaten einstudiert, den A-cappella-Chor und verschiedene Projektchöre. Viel Arbeit, aber auch eine höchst privilegierte und dankbare Situation: »Wer, wenn nicht wir, sollte schwierige oder selten gehörte Werke einstudieren? Der geistliche und kulturelle Auftrag hört ja nicht mit dem ›WO‹ und der ›Johannespassion‹ auf.« Lange und intensiv ärgern kann sich Tobias Brommann, wenn »sein« Dom für Fremdveranstaltungen vermietet wird, bei denen er das musikalische Niveau vermisst: »Qualität ist die Rettung der Kirchenmusik.« H E R Z-J E S U - K I RC H E Kantor Tobias Brommann an der Orgel des Berliner Doms Kantor Tobias Brommann schwärmt von den Möglichkeiten am Berliner Dom: »Hier kann ich mit 16 Leuten zwölfstimmig singen.« Kalt lasse die größte Kirche Berlins keinen. Dass die Prunkwünsche Wilhelms II. nur teilweise umgesetzt wurden, erscheint heute eher als Glücksfall. Die Orgel in dunklem Eichenholz mit ihren Säulen und gedrechselten Zierelementen wirkt wie ein übergroßes Möbelstück aus der plüschigen guten Stube um 1900. Musikalisch ist sie für den Kantor die reine Freude: »Sie ist eines der schönsten Instrumente überhaupt. Wenn ich sie spielen kann, bin ich glücklich.« Neben dem Orgelamt leitet er die 1961 gegründete Domkantorei, deren Biografie eine spannende Geschichte von Mauerbau, Staatsschikane, Spitzelprävention und Zusammenhalt erzählt. Nach der Andacht geht es treppab, treppauf zur Probe des Kammerensembles, dem Auswahlchor der 120 Mitglieder zählenden Domkantorei. Ein Raum mit hohen Fenstern gibt den Blick frei auf die weite Dämmerung über Spree und Museumsinsel. Die Sänger trudeln ein, die Atmosphäre ist herzlich, aber schon beim Einsingen sehr konzentriert. Brommann schwärmt: »Hier kann ich mit 16 Leuten zwölfstimmig singen.« In der Chorarbeit Flächenmäßig ist Berlin-Brandenburg das größte deutsche Erzbistum. Trotzdem sitzt Martin Ludwig, Referent für Kirchenmusik, gemeinsam mit 405.000 anderen Katholiken zwischen Jüterbog und Rügen in der Diaspora. In zwei gemütlich verkramten Dachgeschossräumen der Herz-Jesu-Gemeinde in Charlottenburg bietet er ziemlich starken Kaffee an, streicht über die blaugrüne Wollmütze, die als Scheitelkäppchen auf seinem Kopf sitzt und lauscht einen Moment dem Ticken einer Sammlung kleiner Uhren, die emsig Zeit und Ewigkeit vermessen. Schwund in den Chören gebe es auf jeden Fall, sagt er dann: »Unsere Sänger stammen aus dem Kreis der Gottesdienstbesucher, es kommt niemand von außen dazu. In den Städten kooperieren zwar die Gemeinden, aber wenn auf dem Land vielleicht zwanzig Menschen im Gottesdienst sind, fehlt die Ressource. Wo soll da ein Chor herkommen? Kirchenmusik ist immer Teil der Rahmenbedingungen.« Dass diese Rahmenbedingungen bei den hiesigen Protestanten anders aussehen, hat durchaus mit deren zahlenmäßiger Stärke zu tun. Es ist aber auch theologisch tief verankert. Im Protestantismus seien »Wort und Musik die beiden Säulen der Verkündigung der frohen Botschaft«, erklärt Martin Ludwig. In der katholischen Kirche wurde die Stellung der Tonkunst erst 1975 auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil aufgewertet. Die bekenntnisübergreifende Kooperation in der Kantorenausbildung oder Projekte an der Basis wie die hochengagierte ökumenische Seniorenkantorei fangen zwar manche Härte auf, trotzdem sieht Ludwig seine Kirche im Bezug auf die Musik vor einem »Glaubens- und Wissensabbruch, wenn in der ehemaligen DDR heute insgesamt nur noch um die zwanzig Prozent der Menschen überhaupt Christen sind«. Besonders am Herzen liegt ihm deshalb die Gründung einer musikbetonten katholischen Schule, um den für die Kinderchorarbeit fatalen Trend zur Ganztagsschule abzufedern. Anzeige UNSERE HIGHLIGHTS FÜR SIE! Festkonzerte mit: Ian Bostridge und dem Orchestra of the Age of Enlightenment Anna Prohaska und Il Giardino Armonico, David Hansen und der Academia Montis Regalis Romelia Lichtenstein und dem Händelfestspielorchester Halle mber 2015 20. Nove 27 06 ) 345 565 Tickets ab e | +49 (0 fsstellen delhaus.d -Vorverkau www.haen allen CTS-Eventim an eit w es und bund 27. Mai – 12. Juni 2016 in Halle (Saale) Große Nikolaistr. 506108 Halle (Saale) www.haendelhaus.de T H E M A : M U S I K U N D G L A U B E — B E R L I N - R E P O R TA G E 60 Katholiken sind in Berlin-Brandenburg in der Diaspora: »In den Städten geht es, aber wo soll auf dem Land ein Chor herkommen?« AMERICAN CHURCH Weiter nach Schöneberg zur American Church Berlin, wo Pastor Stephan M. Kienberger die Ausrichtung seiner Kirche in einem Satz auf den Punkt bringt: »Wir singen soviel wie liturgisch möglich.« Kienberger ist Seelsorger einer international gemischten Gemeinde, die sich im lutherischen Gottesdienst nach American style daheim fühlt. Dabei hilft ein 2006 erschienenes »Hymnal«, ein Gesangbuch, das auch die europäischen, afrikanischen und asiatischen Einflüsse auf den lutherischen Glauben Nordamerikas miteinbezieht. Der afrikanische Praise Song steht darin auf einer Doppelseite mit dem barocken Kirchenlied. Man müsse auswählen, was für die jeweilige Gemeinde passend sei, sagt Kienberger und schickt lächelnd eine Beobachtung hinterher: »The Germans are so into Gospel now – it’s amazing.« Eva Diestel nickt lebhaft. Die 40-jährige deutsche Leiterin der zeitgenössisch orientierten ACB Praise Band hat Musik studiert und wurde vor 23 Jahren in einer Jugendgruppe angesteckt: »Im Gegensatz zu heute war Gospel damals selten und schwierig in den Gottesdienst einzubringen. Die Mentalität ist immer noch eine andere, aber inzwischen hat man sich hier an die Musik gewöhnt, auch wenn es nie so ekstatisch zugeht wie manchmal bei den Amerikanern. Für mich ist Gospel die schönste Art zu beten.« Das Anziehende für Neulinge: Gospels sind leicht mitzusingen. Sie haben wenig Text, viele Wiederholungen, bei denen man gut einsteigen kann, und sie sind stilistisch sehr vielfältig: »Es gibt Contemporary, Reggae, Jazz, Pop, Rock, Country, traditionelles Spiritual und so weiter. Grundsätzlich besagt Gospel nur, dass es sich um christliche Texte handelt.« B U L G A R I S C H E R O R T H O D OX E R C H O R Derartige Flexibilität bietet der orthodoxe Kirchengesang nicht, dessen älteste Werke schon seit dem 9. Jahrhundert weitergegeben werden. Der Bulgarische 12 8 — A U S G A B E N R . 0 4 . 2 015 Martin Ludwig, Referent für Kirchenmusik der Herz-Jesu-Gemeinde in Charlottenburg orthodoxe Chor Berlin ist an keine Gemeinde gebunden, sondern überall zu Gast. Das gibt der Gründerin und Leiterin Boryana Cerreti-Velichkova Freiheiten bei der Programmauswahl: »Wir singen nicht nur Kirchenmusik, sondern auch bulgarische Folklore.« In der Probe geht es ein bisschen strenger zu als im durchschnittlichen evangelischen Chor – »alte Schule eben«, sagt die einzige deutsche Sopranistin lachend. Wer damit nicht zurechtkommt, bleibt weg. »Elf Minuten verspätet. Fangen wir an. Arbeitskollegen, Chef, Mann, Kinder – alles vergessen, jetzt musizieren wir«, fordert Boryana Cerreti die gut zwanzig Laiensänger auf, die beim nächsten Auftritt dabei sein werden. Erst singen die Männer die Melodie und die Frauenstimmen summen den Bourdon, dann umgekehrt. Dieser Wechsel hakt und wird gut geübt. An anderer Stelle nimmt sich die 38-Jährige die international gemischte Gruppe der Bässe vor: »Ihr seid gut ernährte Männer – ich erwarte Ost-Gesang. Singt das wie Männer mit voller Kraft.« Der junge Tenor Jakob Pohl bezeichnet sich als »bulgarisch assoziiert«. Davon komme man nie wieder los, lacht seine Vorstandskollegin Margarita Todorova. Jakob Pohl reizt besonders, was orthodoxe Musik von evangelischen Chorälen unterscheidet und kompliziert macht: »Nicht jede Stimme ist als Melodie durchkomponiert. Man muss sich mit seiner Stimme in die Akkorde einfinden, so dass ein unaufhörlicher Klangteppich entsteht.« S Y N A G O G E P E S TA L O Z Z I S T R A S S E Chorgesang und Orgelspiel zählen für christliche Kirchenmusiker sozusagen zum Kerngeschäft, im jüdischen Kontext hingegen sind sie die Ausnahme. In der Synagoge Pestalozzistraße in Charlottenburg zum Beispiel feiert die Gemeinde ihren Gottesdienst nach liberaler Vorkriegstradition mit »Wechselgesang zwischen Kantor und Chor, begleitet von feierlichen Orgelklängen«. Diese besondere Verbindung von »jüdischer Tradition mit abendländischer 61 62 T H E M A : M U S I K U N D G L A U B E — B E R L I N - R E P O R TA G E 12 8 — A U S G A B E N R . 0 4 . 2 015 Mitglieder sitzen zwar still in sich versunken, den Gebetsschal um die Schultern, doch viele gehen umher, begrüßen Freunde, umarmen einander, setzen sich wieder und folgen ein wenig dem Gesang des vorbetenden Kantors. Regina Yantian lacht, wenn man ihr diese Beobachtungen schildert: »Man trifft sich halt, Synagoge heißt nicht umsonst ›Haus der Versammlung‹.« Den Ablauf des Gottesdienstes kennt ohnehin jeder, Überraschungen gibt es keine: »Der Kantor singt nach einer klaren, vom Gebetbuch festgelegten Ordnung im Wechsel mit der Gemeinde. Hier wird die Gemeinde vom Chor unterstützt, der aus acht Profisängern besteht.« In der Pestalozzistraße hingen die Mitglieder eben unverbrüchlich an ihrer musikalischen Tradition, die auch die Zerstörung der Gemeinde durch die Nazis überstanden habe. »In amerikanischen, aber auch manchen Berliner Gemeinden ist man musikalisch schon flexibler«, sagt die Organistin und verabschiedet sich rasch. Sie muss in dieser Woche ihre Energien zusammenhalten: Am Versöhnungstag Jom Kippur, dem letzten und wichtigsten der Hohen Feiertage, dauert der Gottesdienst den ganzen Tag lang. < 63 Pastor Stephan M. Kienberger Anzeige Gospel-Chor der American Church in Berlin Inzwischen sind auch die Deutschen »into Gospel« – auch wenn es nie so ekstatisch zugeht wie manchmal in den USA. Harmonik« geht auf das 19. Jahrhundert, auf den Komponisten und Chorleiter der Berliner jüdischen Gemeinde Louis Lewandowski zurück, dem mittlerweile sogar ein eigenes Festival gewidmet ist (in diesem Jahr vom 17. bis 20. Dezember). Die zehn Hohen Feiertage seien immer sehr aufregend für sie, für Kantor Isaac Sheffer und die acht Sänger vom Synagogal Ensemble Berlin, erzählt die Organistin Regina Yantian am Neujahrstag Rosch Haschana in einer Gottesdienstpause zwischen Tür und Angel. Gerade ist der Schofar, das Widderhorn, erklungen – ein archaischer Kontrast zum romantischen Lewandowski-Schönklang. Der rappelvolle Andachtsraum leert sich rasch, festlich gekleidete Familien strömen zu den Ausgängen, sammeln spielende Kinder auf, bleiben zum Plaudern mit Bekannten stehen. Wenn man während der Zeremonie vor den offenen Flügeltüren zum Gebetsraum steht, scheint die Atmosphäre weniger von Einkehr als von der gehobenen Stimmung eines großen Familienfestes geprägt – manche Das Beste von den größten Bühnen der Welt! Exklusive Events aus Oper, Ballett und Klassik. Ob Metropolitan Opera, Bolshoi Theater, die Berliner Philharmoniker oder das National Theatre. 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