HANNOVER NR. 189 | SONNABEND, 15. AUGUST 2015 HANNOVERSCHE ALLGEMEINE ZEITUNG | 17 Die Krankheit, die der Teufel erfand Vor einem Jahr wurde die Muskelerkrankung ALS weltweit bekannt, weil Millionen sich Eiswasser über den Kopf schütteten – ist das alles wieder vergessen? Von Gabi Stief M anchmal hilft es, sich zu erinnern. Es hilft, mit Trauer und Schmerz zu leben. Wenn Gerd Neblung seiner Frau morgens eine weiche Scheibe Brot mit Lachs in den Mund legt, die sie zwar nicht mehr schlucken, aber schmecken kann, dann denkt er manchmal an die vielen Reisen, die er mit ihr in den vergangenen Jahren gemacht hat. „Ich bin froh, dass wir sehr viel unternommen haben.“ Man wisse nie, wann der Tag kommt, an dem dies nicht mehr möglich ist. Auch Stefani Bode denkt häufig mit Wehmut an jene Zeit, in der sie noch unwissend war. Zum Beispiel an die Sommermonate vor einem Jahr, als ihre Tochter an dieser verrückten Internet-Aktion teilnahm und ihrem Vater einen Kübel Eiswasser über den Kopf schüttete. Es ging um eine seltsame Krankheit namens ALS. Hat sie geahnt, dass aus der Gaudi für sie und ihren Mann bitterer Ernst wird? „Ich habe es befürchtet, aber ich habe nicht darüber gesprochen“, sagt sie und schluckt. Ein paar Monate später erfuhr die Familie, dass die merkwürdigen Muskelkrämpfe und die Taubheitsgefühle in den Fingern, über die ihr Mann seit einem Jahr klagte, ALS-Symptome waren. ALS oder Amyotrophe Lateralsklerose war so unbekannt wie das Leben auf dem Mars, bis im vergangenen Sommer Bastian Schweinsteiger, Facebook-Gründer Mark Zuckerberg oder Helene Fischer sich vor der Kamera einen Kübel Eiswasser über den Kopf gossen und Geld für die ALS-Forschung spendeten. Ice-Bucket-Challenge nannte sich die Aktion, die aus Amerika herüberschwappte und sich wie ein Kettenbrief über Twitter und Facebook verbreitete. Millionen beteiligten sich, aus Spaß und aus Solidarität, um diese seltene Muskelerkrankung, an der etwa 8000 Menschen in Deutschland leiden, bekannt zu machen. Am Ende wurden allein in Deutschland 3 Millionen Euro gespendet. Die Betroffenen schöpften Hoffnung – bis März. Im März teilte Bundesforschungsministerin Johanna Wanka dem „Kompetenznetz Motoneuronerkrankungen“ mit, dass dessen Arbeit nicht mehr als vorrangig eingestuft werde. Eine folgenreiche Entscheidung: Die Fördersumme von 3 Millionen Euro, exakt der Stiftungsbetrag des Vorjahres, wurde gestrichen. Für den Verbund von 50 Wissenschaftlern an 17 Forschungsinstituten, die unter anderem nach den Ursachen von ALS suchen, bedeutet dies einen schweren Rückschlag. ALS-Vereine reagierten empört und starteten eine Petition an den Bundestag. Bis Juli sind bereits 5000 Unterschriften zusammengekommen. Auch Stefani Bode hat unterschrieben. „Die Krankheit hat der Teufel erfunden“, sagt sie. „Wie kann man sonst erklären, dass ein Mensch in seinem eigenen Körper gefangen genommen wird?“ Anderthalb Jahre ist ihr Mann von Arzt zu Arzt geirrt. Erst in der MHH entdeckten Neurologen den Grund für seine Beschwerden. Die Diagnose war keine Erlösung, denn Heilung gibt es nicht. In wenigen Jahren schwinden die Muskeln, bis die gesamte Muskulatur versagt. Der Kranke fühlt, schmeckt und riecht, aber er kann sich immer weniger bewegen. Solange noch nicht einmal die Ursache für ALS geklärt ist, können Ärzte den Krankheitsverlauf nur entschleunigen. Im besten Fall. Forschung könnte dies ändern, aber sie ist teuer, und wenn der Staat nichts beisteuert, passiert wenig. Die Pharmaindustrie hält sich zurück, wenn es um eine seltene Krankheit geht, die nicht wie bei der Krebsbekämpfung das große Geschäft mit Millionen Patienten verspricht. Folge 2 Leon, Mia und Bulli kennen sich richtig gut aus im Straßenverkehr – und deshalb sind sie die Helden im neuen Buch zur HAZ-Aktion „Sicherer Schulweg“. Wir drucken ihre Erlebnisse in einer Serie ab. Heute: Der erste Ausflug mit Bulli. Holger Bode aus Eldagsen wird im Kampf gegen ALS von seiner Frau Stefani unterstützt. Hilfe für Betroffene Heidi Neblung aus Wennigsen kann aufgrund ihrer Erkrankung nicht mehr sprechen. Ihrem Mann Gerd schreibt sie Zettel zur Konversation. ALS-Ambulanzen an der Medizinischen Hochschule Hannover oder Muskelzentren an der Uni-Klinik Magdeburg sind ständig auf Spendensuche, weil die hohen Kosten nur zu einem geringen Teil von den Krankenkassen erstattet werden. Nachrichten über die wenigen Studien, die durchgeführt werden, um neue Medikamente oder Therapien zu testen, verbreiten sich unter ALS-Kranken und ihren Angehörigen wie ein Lauffeuer. Die Studien sind schnell ausgebucht. Auch Holger Bode hat an mehreren Studien teilgenommen. Zeit seines Lebens war 51-Jährige sportlich aktiv. Als Forstwirt ist er sogar auf Bäume geklettert. Heute ist es damit vorbei, aber er arbeitet weiter, solange es geht. Die Wis- Eisdusche auch für Prominente sen Trend auch als Bühne zu nutzen, auch Wie ein Kettenbrief für einen guten Politiker schlossen sich nur zu gern der Zweck bahnte sich die sogenannte IceAktion an. Bucket-Challenge im vergangenen Jahr Was bleibt, sind die große finanzielle vor allem in den sozialen Netzwerken ihUnterstützung für den Kampf gegen ALS ren Weg. Jeder, der sich mit Eiswasser und ein deutlich übergießen ließ höherer Bekanntund für die ALSheitsgrad der Forschung spenKrankheit in der dete, durfte im Öffentlichkeit. Anschluss weiteDer Trend, der re Kandidaten für in Deutschland das erfrischende längst der VerganSpiel mit ernstem genheit angehört, Hintergrund beist in den USA – nennen – am beswie auf Facebook ten mit einem Vizu verfolgen ist deo bei Facebook – weiterhin aktuund Co. ell. Ganze FanseiViele prominenten werden dort te Musiker, Schauzum Thema Icespieler und SportBucket-Challenge ler ließen es sich Schlagerstar Helene Fischer ließ sich von betrieben. uwe nicht nehmen, die- zwei Helfern mit Eiswasser übergießen. Für ALS-Patienten und ihre Angehörigen bietet der Landesverband der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke in der Region Hannover einen regelmäßigen Gesprächskreis an. Das nächste Treffen findet am 12. September statt. Nähere Informationen bei Ingrid Haberland unter Telefon (0 51 01) 8 19 54 09. Die Medizinische Hochschule sammelt senschaftler haben festgestellt, dass viele Patienten – wie Holger Bode – Sport und Bewegung liebten. Aber ob dies oder eine bestimmte Ernährung oder doch die Gene das ALS-Risiko erhöhen, weiß bislang niemand. Auch Heidi Neblung war eine aktive Frau, die immer wusste, was sie will. Sie leidet unter der sogenannten bulbären Spenden für die ALS-Forschung und ihre Muskel-Sprechstunde, da das Geld vom Land Niedersachsen nicht reicht. Es wurde folgendes Konto eingerichtet: Gesellschaft der Freunde der Medizinischen Hochschule Hannover, Bankleitzahl: 250 400 66, Konto: 3120 003 01, Unterkonto: 11000238 – ALS – Neurologische Klinik MHH. gst Variante der ALS, die sich häufig mit Sprachproblemen ankündigt. Anfangs habe er noch vermutet, dass seine Frau beschwipst sei, weil sie lallte. Als es immer schlimmer wurde, suchten sie einen Nervenarzt auf, der meinte, „das gibt sich schon“. Die MHH stellte Monate später die korrekte Diagnose. Mittlerweile kann Heidi Neblung Brillanter Kopf trotz ALS Prominentester ALS-Patient ist der britische Astrophysiker und Buchautor Stephen Hawking. Bei ihm wurde die Krankheit 1963 im Alter von 21 Jahren diagnostiziert – die Ärzte gaben ihm damals nur noch zwei Jahre zu leben, aber es stellte sich heraus, dass er an einer sehr seltenen ALS-Variante mit einem sehr langsam fortschreitenden Verlauf erkrankt ist. 1985 verlor Hawking die Fähigkeit zu sprechen. Für die Kommunikation nutzt er seitdem einen Sprachcomputer. Mit einem Taster in der Hand konnte er anfangs aus einer Liste von Begriffen von einem Bildschirm wählen, die dann an einen Sprachgenerator geschickt wurden. Inzwischen sind seine Finger zu schwach dafür. Der 73-Jährige steuert nun den Computer mit den Bewegungen seiner Augen. Im vergangenen Jahr kam ein Film unter dem Titel „Die Entdeckung der Unendlichkeit“ in die Kinos, der Hawkings Geschichte erzählt. gst Stephen Hawking Foto: dpa Fotos: Philipp von Ditfurth (2), dpa nicht mehr sprechen, nicht mehr schlucken. Sie „isst“ über eine Magensonde und sie schreibt kleine Zettel, wenn sie einen Wunsch hat oder mit Ehemann Gerd „plaudern“ will. Im April hat sie ihren 70. Geburtstag gefeiert. „Sie wollte es unbedingt“, sagt ihr Mann. 80 Gäste hat sie ins benachbarte Restaurant eingeladen. Statt Geschenke hatte sich Heidi Neblung Spenden für die ALS-Stiftung gewünscht. 2000 Euro waren es am Ende. Doch was nutzt der Fortschritt? „Es geht um die nächsten Generationen“, sagt Gerd Neblung. Er ist überzeugt, dass sich die Krankheit rapide ausbreitet. Immer häufiger hört er von Neuerkrankten in der Nachbarschaft oder im Bekanntenkreis. Zudem ist er überzeugt, dass es mehr Kranke gibt als angenommen. Er vermutet, dass häufig ALS-Patienten fälschlicherweise für Schlaganfallpatienten gehalten werden – aus Unkenntnis der Ärzte. Auch deshalb will er diese Krankheit bekannter machen. Stefani Bode würde am liebsten die Eiskübel-Aktion wiederholen, um im Gespräch zu bleiben. Auch bei der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke (DGM) in Freiburg denkt man gemeinsam mit internationalen Partnern über eine alljährlich wiederkehrende Kampagne nach. Der Erfolg der Aktion im Sommer 2014 sei einzigartig gewesen, heißt es dort. Mit einem Teil der Spenden, gut einer Million Euro, hat die DGM Sonderforschungsprojekte finanziert. Vielleicht muss man aber auch manchmal einfach über das eigene Schicksal reden. Um die Einsamkeit zu überwinden. Angehörige sind Mitleidende, sagt Gerd Neblung. „Eine schwere Krankheit schweißt zusammen.“ Er macht eine kleine Pause und fährt schließlich fort: „Ich habe mir früher nicht vorstellen können, was ich heute alles machen kann, um meiner Frau zu helfen.“ Heidi Neblung holt einen Zettel und schreibt: „Ich will nicht ins Heim.“ „Niemals wird das geschehen!“, sagt ihr Mann. Der sprechende Bulli hilft auf dem Schulweg Mia und Leon wollen vor dem Schulanfang den Schulweg üben. Natürlich müssen sie schon ganz früh los. So, als ob sie wirklich zur Schule gehen würden. „Ist ja logisch“, sagt Leon. „Am Sonntagnachmittag, wenn auf den Straßen nichts los ist, kann das jeder. Aber bei uns muss alles genauso sein wie in echt.“ Gleich nach dem Frühstück setzten sie also ihre Schulranzen auf. Aber dann hat Mia plötzlich noch eine Idee. „Vielleicht könnten wir ja Bulli mitnehmen“, schlägt sie vor. „Gute Idee“, sagt ihr Vater. „Er muss sowieso mal wieder raus. Und er kennt sich aus im Straßenverkehr!“ Bulli ist der kleine rote Feuerwehrbus, der bei Mias Eltern in der Garage steht. Er ist schon ziemlich alt, und neben den meisten Autos von heute sieht er irgendwie aus, als würde er glatt in den Kofferraum passen. Aber er hat noch genug Luft auf den Reifen, und alle wichtigen Teile funktionieren auch noch, sogar das Blaulicht auf dem Dach! auf dem Weg zur Schule seid und gar nicht so viel Zeit habt, um an jeder Ecke stehen zu bleiben.“ „Klar, sonst kommen wir ja nie an“, meint Mia. „Genau“, sagt Bulli. „Oder ihr kriegt plötzlich Angst, dass ihr zu spät zur Schule kommt, und fangt an zu rennen, ohne richtig auf den Verkehr zu achten. Und schon passiert ein Unfall! Deshalb ist es immer besser, ruhig ein bisschen früher von zu Hause loszugehen, damit ihr in jedem Fall Zeit genug habt.“ ■ Im dritten Teil überlegen Mia und Leon, den Weg zur Schule mit dem Rad zurückzulegen. Bulli freut sich wie verrückt, als Mia und Leon ihn aus der Garage holen. Vor Freude schaltet er sogar kurz die Scheibenwischer an! Und wackelt ein bisschen auf allen vier Rädern. Dann spuckt er eine kleine Qualmwolke aus, hustet ein paar Mal, bis der Motor richtig läuft – und schon kann es losgehen. Nun darf ein Auto natürlich nicht auf dem Fußweg rumfahren, das weiß ja jeder. Aber es ist ja auch schon lange her, dass Bulli mit Blaulicht und Sirene in der Stadt unterwegs war. Ewig lange her! Und keiner würde ihn heute mehr für ein richtiges Auto halten. Sondern eher für so was wie einen großen Hund. Oder ein freundliches Gefahrenabwehrmonster. Oder einfach für einen guten Kumpel von Mia und Leon, der eben zufällig mal einen kleinen Ausflug mit ihnen macht ... Das findet auch der Dackel, der an der nächsten Ecke vor der Bäckerei sitzt. Der Dackel wedelt mit dem Schwanz und schnüffelt ein bisschen an Bullis rechtem Vorderrad. Dann hebt er plötzlich sein Bein. „He!“, ruft Leon. „Lass das. Das macht man nicht!“ „Süüüß!“, ruft Mia. „Einen Dackel hätte ich auch gerne.“ Bulli kurvt in einem kleinen Bogen um den Dackel herum. Dann sagt er: „Das wird euch noch ganz oft passieren!“ „Was?“, fragt Leon. „Dass uns ein Dackel ans Bein pinkeln will?“ „Nein, aber das ihr irgendetwas seht, was total spannend ist oder einfach komisch oder aufregend. Aber ihr müsst trotzdem immer daran denken, dass ihr Leon, Mia und Bulli sind die Stars im Buch z „Der kleine Bulli kommt zur Schule“ von Autor Wolfram Hänel und Illustratorin Mara Burmester. Sie können die Serienteile, die wir nach und nach in der HAZ veröffentlichen, sammeln. Zusätzlich ist das Buch beim großen Familienfest zur Aktion „Sicherer Schulweg“ am 6. September auf der Wiese neben dem Neuen Rathaus erhältlich. Dort beginnt das Programm mit Vorführungen der Polizeipferde, einem Auftritt von Kinderliedermacher Volker Rosin und vielen spannenden Mitmach-Aktionen um 11 Uhr. Der Eintritt ist frei.
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