PI-Symposium „Spuren hinterlassen...“, 27. & 28.10.2015

Bildung und Sport
PI-Symposium „Spuren hinterlassen...“, 27. & 28.10.2015
Schriftliche Workshopdokumentation
Workshop Nr.: 24
Thema:
Bildung braucht Bewegung - zum Zusammenhang von Lernen und
Bewegung
Referierende: Prof. Dr. Nils Neuber
Diese Dokumentation ist im Rahmen eines Kooperationsprojekts des Pädagogischen
Instituts mit der KSFH München und der LMU München entstanden.
Die nachfolgenden Aufzeichnungen geben den Eindruck der AutorInnen wieder
und sind nicht mit den Referierenden der Workshops abgestimmt.
AutorInnen:
Anja Schiefer & Lena Mackinger
Pädagogisches Institut • Symposium 2015 • Dokumentation • Workshop Bildung braucht Bewegung
1. Wissenschaftlicher Hintergrund zum Workshop
„Der Mensch ist ein Bewegungswesen.“ Auf dieses Zitat wurde im Workshop „Bildung
braucht Bewegung“ immer wieder zurückgegriffen, und das nicht ohne Grund. Der Leiter
des Workshops, Prof. Dr. Nils Neuber, betonte mehrmals, dass Lernen durch Bewegung
positiv beeinflusst werde. Der Zusammenhang von Lernen und Bewegung soll nun anhand
der Gesichtspunkte Lernmodalitäten, Wandel des Aufwachsens, Pädagogische
Partizipation und Sportpädagogische Begründungen dargestellt werden.
Wo und wie kann man die beste Bildung erlangen? Diese Frage ist schwer zu beantworten,
da es viele Bildungsorte und Bildungsmodalitäten gibt. Lernmodalitäten beschreiben die Art
und Weise des Lernens und bestehen aus formellem, nicht- formellem und informellem
Lernen. 70- 80% des Gelernten werden durch den informellen Teil abgedeckt. Das
bedeutet, dass Menschen allgemein am meisten lernen, wenn sie sich in einer
ungezwungenen Umgebung befinden. Diese Umgebung befindet sich meistens im Umkreis
der Familie und den Freunden. Das Lernen erfolgt hier freiwillig, ungeplant und
unorganisiert. In diesem Kontext ist die sportliche Betätigung ein wichtiger Aspekt. Denn
neben Köpererfahrung, Körperästhetik und Körperausdruck spielen auch kognitive
Gesichtspunkte eine Rolle.
Über den Lauf der Jahre wurde ein Wandel des Aufwachsens beobachtet. Dieser liegt in
mehreren Faktoren begründet. Durch den Demografischen Wandel entstehen verstärkt
neue Gesellschaftsformen, welche erhebliche Auswirkungen auf das Bildungssystem
haben. Da Lebenswege heutzutage nicht mehr vorgeschrieben sind, erlangt das
Individuum ein großes Maß an Selbstverantwortung. Diese Enttraditionalisierung
(Soziologen sprechen in diesem Zusammenhang von einem „Ende der Normalbiografie“)
führt unter anderem einen gewissen Leistungs- und Bildungsdruck mit sich. Des Weiteren
leben wir in einer Multioptionsgesellschaft, die es uns ermöglicht, unseren präferierten Weg
zu gehen. Das zeigt sich an dem aktuellen Beispiel, dass Vereine nicht mehr so
ausgelastet wie früher sind, da Jugendliche gegenwärtig verstärkt zum Individualsport
neigen. Zudem führt die vermehrte Digitalisierung zu einer Dynamisierung. Kinder haben
keine Differenzerfahrungen mehr. Beispielsweise scheint ein Leben ohne Handy nicht mehr
möglich zu sein. Ein weiterer Grund für den Wandel des Aufwachsens ist die Ausweitung
des Bildungsauftrages. Kinder wachsen in öffentlicher Hand auf, was einen Rückgang der
Freizeit und damit auch eine Einschränkung der Bewegung bedeutet. Dementsprechend
muss das Bildungssystem auf die neuen Gegebenheiten reagieren. Infolgedessen wurde
ein Wandel des Bildungssystems hervorgerufen und eine schulische und außerschulische
Bildungsdebatte ausgelöst. Das neunjährige Gymnasium wurde auf acht Jahre
zurückgestuft und Ganztagsschulen sind mehr gefragt. Insgesamt erfolgt eine intensive
pädagogische Kontrolle, die jedoch vom Wunsch der Kinder nach mehr Freizeit abweicht.
Pädagogische Partizipation ist ein wichtiges Qualitätsmerkmal von Ganztagsschulen und
kann in drei Unterbereiche gegliedert werden. Ein Teil ist die politische Partizipation,
welche die Möglichkeit beschreibt, Entscheidungen oder Entscheidungsträger zu
beeinflussen und somit aktiv zum Geschehen beizutragen. Ein anderer Teil ist die soziale
Partizipation, die Beteiligungsmöglichkeiten im Aushandeln und der Mitsprache gibt. Den
dritten Teil bildet das aktive Handeln, das sich im Engagement und der Mitgestaltung bei
der Ausführung von Entscheidungen zeigt und zusätzlich Selbstorganisation und
Verantwortungsübernahme beinhaltet.
Davon abzugrenzen ist die Scheinpartizipation, die keine reale Möglichkeit zur
Mitentscheidung gibt. Demnach entsteht Partizipation durch ein ausgeglichenes Verhältnis
von Fremd-, Selbst- und Mitbestimmung.
Wie ist die Aufmerksamkeit um Bewegung, die mit Bildung gekoppelt ist, sportpädagogisch
begründet? Entwicklungstheoretisch ist bewiesen, dass regelmäßiges Sporttreiben die
Intelligenzentwicklung im Kindesalter signifikant steigert bzw. sich die Intelligenz bei
2
Pädagogisches Institut • Symposium 2015 • Dokumentation • Workshop Bildung braucht Bewegung
Kindern, die sich regelmäßig bewegen, schneller entwickelt als bei Kindern, die sich nicht
sportlich betätigen. Zudem zählt das Unterrichtsfach Sport bei 70 Prozent der Schüler und
50 Prozent der Schülerinnen zu den Lieblingsfächern und ist daher an den Bedürfnissen
der Individuen orientiert. Ein weiteres Indiz für das Verlangen nach körperlicher Aktivität ist,
dass über 75 Prozent der Jungen im Alter von 10-12 Jahren in einem Sportverein aktiv
sind. Auch der lebensweltliche Wandel ist zu beachten. Dies veranschaulicht folgende
Überlegung: „Wenn Schüler nicht mehr auf Bäume klettern, dann muss man die Bäume in
die Schule holen“. Zusätzlich kompensiert Bewegung das Sitzen während des Unterrichts
und gewinnt aufgrund des vermehrten Nachmittagsunterrichts immer größere Bedeutung
im Schulalltag. Zuletzt ist auf die anthropologische Begründung einzugehen. So ist der
„Mensch ein Bewegungswesen“ und jede Äußerung des Lebens wird in Bewegung
umgesetzt (vgl. PowerPoint Präsentation von Dr. Neuber).
2. Wesentliche Thesen und Ergebnisse des Workshops
Im Folgenden werden wesentliche Ergebnisse des Workshops zum Themenbereich
Lernmodalitäten erläutert. Speziell beim Mannschaftssport werden Teamfähigkeit und
Selbstvertrauen
geschult,
aber
genauso
auch
Selbstorganisation
und
Verantwortungsfähigkeit. Diese Kompetenzen sind in der Schule vor allem im sozialen und
kognitiven Bereich relevant, im höheren Alter auch im politischen Rahmen. Somit lassen
sich nach dem Motto „learning by doing“ kognitive Leistungen in der Schule durch
Bewegung signifikant verbessern.
Zudem stellt sich die Frage, wie Partizipation in Bildungssituationen ermöglicht und
gefördert werden kann. Eine Möglichkeit ist das Trainieren von Fähigkeiten in Bewegungs-,
Spiel-, und Sportkontexten, also durch die Kopplung mit körperlicher Aktivität. Ein Beispiel
hierfür ist das Variieren von Spielregeln durch den Übungsleiter (Fremdbestimmung), durch
die Kinder (Selbstbestimmung) oder durch beide in Kooperation (Mitbestimmung).
Gesprächskreise oder ein Schülerparlament haben ebenfalls großes Potenzial zur
Förderung. Durch die Möglichkeit zur Anteilnahme an der Entscheidung über die Aktivitäten
bewegen sich die Schüler_innen zuerst geistig und betätigen sich anschließend körperlich.
Die grundlegende These vom Wandel des Aufwachsens ist, dass die Schulen sich an die
Veränderung des Alltags der Schüler_innen anpassen müssen, um den aktuellen
Bedürfnissen gerecht zu werden.
Zuletzt beweist die pädagogische Begründung, dass Bewegung einen positiven Effekt auf
das Lernen hat und deswegen gefördert werden soll.
3. Erlebte Wirksamkeitsfaktoren im Workshop
Auf Grundlage sechs lernwirksamer Faktoren durften die Teilnehmenden im Workshop
Erfahrungen sammeln.
Zu Beginn wurde mit einem Bewegungsspiel in das Thema eingeführt. Dieses diente zum
einen dem Austausch und Kennenlernen der Anwesenden untereinander sowie mit dem
Dozenten, zum anderen zur Selbsteinschätzung. Der Austausch erfolgte durch das
Zuordnen in Berufsgruppen und anschließender Diskussion über die Erwartungen an den
Workshop. Die Einteilung in verschiedene Sporttypen (Fitness, Individualsportarten,
Mannschaftssportarten und Sport in der Natur) sorgte für eine Reflexion der eigenen
sportlichen Interessen und regte somit ebenfalls zur Selbsteinschätzung an.
Die wissenschaftlichen Grundlagen zum Zusammenhang von Bewegung und Bildung
wurden bedarfsorientiert und individuell auf die Teilnehmer_innen ausgerichtet. Dadurch
wurde theoretischer Input mit einer persönlichen Komponente verknüpft, was besonders
komplexe Inhalte anschaulich machte.
Als Beispiel für eine praxiserprobte Theorie zeigte Prof. Dr. Nils Neuber ein Video über die
Glockseeschule in Hannover, welche als Vorreiter für die Verknüpfung von Schule und
Bewegungsraum bekannt ist. Dies sollte die Teilnehmenden dazu inspirieren, in ihren
3
Pädagogisches Institut • Symposium 2015 • Dokumentation • Workshop Bildung braucht Bewegung
eigenen Einrichtungen ein ähnliches Konzept zu verwirklichen und dadurch ein innoviertes
Umfeld für Heranwachsende zu schaffen.
Zudem wurde das Variablenmodell im Sport thematisiert und exemplarisch durch weitere
Videos unterlegt. Das Modell stellt Gegensätze dar, welche in Bewegungsspielen vereint
werden können und somit den Erfahrungshorizont von Kindern und Jugendlichen erweitern.
Das Spiel „Ab durch die Mitte“ (Zwei Sprungkästen stehen so hintereinander, dass sie
durch einen Spalt getrennt werden. Ziel ist, dass eine von insgesamt zwei Mannschaften
durch die Spalte auf die andere Seite gelangt. Teamarbeit ist dabei besonders gefragt) ist
erwähnenswert, da es den Konflikt der Konkurrenzorientierung (Gewinnen wollen) und der
Kooperationsorientierung (Zusammenarbeiten) verknüpft und in Einklang bringt.
Pädagogisches Erleben als ein weiterer lernwirksamer Faktor ist durch das praktische
Erfahren theoretischer Impulse gekennzeichnet. Zur Aufrechterhaltung der Konzentration
forderte Prof. Dr. Nils Neuber mitten im Vortrag alle Teilnehmenden auf, aufzustehen und
sich an einem einfachen Bewegungsspiel zu beteiligen. Kognitive Prozesse der Personen
wurden dadurch unbewusst aktiviert und die Kopplung mit Bewegung sorgte für das
erneute Herstellen einer für die Teilnehmenden angenehmen Arbeitsatmosphäre.
Anschließend ermunterte der Dozent zur metakognitiven Analyse, die eine Betrachtung
des eigenen Erlebens und Denkens beinhaltet. Die Gruppe erkannte erst im Nachhinein,
dass sie gerade aktiv die Auswirkungen eines kurzen Bewegungsspiels erlebt hatte.
Am Ende des Workshops wurden die besprochenen Inhalte angeregt diskutiert. Dabei
durfte jede_r ihren/seinen eigenen Standpunkt äußern, präferierte Themen mitteilen und
einen persönlichen Ausblick für die zukünftige Umsetzung an ihrem/seinem Arbeitsplatz
geben. Diese Runde zum Feedback wurde mit Hinweisen zur Informationsbeschaffung
über das Thema Bewegung in der Schule abgeschlossen. Zusätzlich gab Prof. Dr. Nils
Neuber die Möglichkeit, sich nach dem Workshop an ihn zu wenden und offen gebliebene
Fragen zu klären.
Während des Seminars gerieten viele Workshop-Besucher_innen in ein Spannungsfeld
zwischen erfahrungsbedingtem Handlungswissen und Neugelerntem. Diese kognitive
Dissonanz führte zu einer kritischen Betrachtung der Inhalte, da die neuen Erfahrungen
nicht in alte Schemata eingegliedert werden konnten. Daraufhin gab der Dozent
Lösungsmöglichkeiten vor, um den Teilnehmenden dabei zu helfen, das Ungleichgewicht
zu korrigieren. Dadurch gelang es ihm, die Gruppe zu motivieren, weil sie nun eine
Erfolgsaussicht verspürten.
4. Offene Fragen
Aufgrund des bedarfsorientierten und umfassenden Vortrags blieben nur wenige Fragen
zum eigentlichen Thema offen. Ein nicht angesprochener Themenbereich, der die
Pädagog_innen interessierte, ist der neue Trend von Bewegungsvideos auf der
Videoplattform YouTube. Die Sorgen bezogen sich auf das Fehlen einer kompetenten
Instruktion und der Beaufsichtigung durch einen Übungsleiter, wie es in einem Verein
üblich ist. In dieser Hinsicht gab es starke Meinungsdifferenzen. Zum einen besteht eine
hohe Verletzungsgefahr, zum anderen lernt man nur mit Risiken umzugehen, wenn man
Risiken eingeht. Man kam zu keinem festen Resultat, da die Entscheidung in der Regel
individuell und situationsbedingt erfolgen muss.
Des Weiteren bestand der Wunsch zu mehr Praxisbeispielen, die jedoch den zeitlichen
Rahmen der Veranstaltung gesprengt hätten. Prof. Dr. Nils Neuber verwies auf die App
„Sport goes mobile“, die viele Bewegungsspielvideos beinhält.
4
Pädagogisches Institut • Symposium 2015 • Dokumentation • Workshop Bildung braucht Bewegung
5. Weiterführende Literatur
Neuber, N.; Kaufmann, N.; Derecik, A. (2013): Partizipation in der Offenen
Ganztagsgrundschule. Pädagogische Grundlagen und empirische Befunde zu Bewegungs, Spiel- und Sportangeboten. Wiesbaden: Springer VS.
Neuber, N. (2007): Entwicklungsförderung im Jugendalter. Theoretische Grundlagen und
empirische Befunde aus sportpädagogischer Perspektive. Schorndorf: Hofmann.
5