„Ich erinnere mich noch ganz genau an den Tag, als es losging!“, sagte Lucy und starrte dabei an die Zimmerdecke. Ihre Finger klimperten nervös auf der mit Wildleder bezogenen Sessellehne herum. Ihre Blicke wanderten jetzt nervös durch das Untersuchungszimmer, in dem Dr. Raven immer seine langen Gesprächssitzungen abhielt. Er hatte noch einen separaten Raum, der eigentlich genau für diese Art von Gesprächen gedacht war, aber Lucy fühlte sich dort nicht wohl. Sie war der Ansicht, dass es dort zu finster wäre. Außerdem lag er ganz am Ende des Flurs und Lucy konnte und wollte nicht durch diesen langen Flur gehen. Sie fand ihn unheimlich, geradezu furchteinflößend. Also wich der Doc extra für sie auf ein normales Behandlungszimmer aus. „Erzählen sie mir davon, Lucy! Wann fing es an?“ „Das ungute Gefühl begann am Tag seiner Beerdigung! Es war da noch keine Angst, eher eine Ahnung, das irgendwas nicht stimmte, insofern am Tod des Stiefvaters überhaupt irgendetwas stimmen kann!“ Lucy holte tief Luft und sortierte kurz ihre Gedanken. „Wenn ich nur daran denke, wie er mich angesehen hat, als er gestorben ist, dann wird mir ganz übel!“, sagte Lucy und musste kurz die Augen schließen, um eine herannahende Träne zu unterdrücken. „Im Vorgespräch haben sie erwähnt, das sein Tod sehr schlimm war. Können sie das genauer beschreiben, Lucy?“ „Man muss sich das so vorstellen; da stirbt ein Mensch, mit dem man eine Hassliebe verbindet. Mal wünscht man sich, dass er endlich zur Hölle fährt und mal liebt man ihn von ganzem Herzen. Man nennt ihn Dad, spielt mit ihm im Garten, hat einfach eine schöne Zeit. Im nächsten Moment prügelt er volltrunken auf meine Mum und mich ein, ohne Reue, ohne Schuldbewusstsein und mit jeder Verachtung, die man sich nur vorstellen kann. Aber wenn es dann soweit ist und dieser Mensch dann geht, weiß man trotzdem, dass er einem fehlen wird. Man erinnert sich an diese tollen Zeiten. Man sieht den Himmel und nicht die Hölle. Aber er hat an diesem Tag die Hölle gesehen und ich konnte nicht sagen, ob es mir gefallen hat oder nicht!“ „Und wie kommen sie darauf, dass er die Hölle gesehen hat, Lucy? Woran machen sie das fest?“, fragte Dr. Raven, der im Gegensatz zum Vorgespräch mittlerweile mehr Interesse an diesem Fall zeigte. „Er hat es uns gesagt! Er hat uns gesagt, das er die Hölle gesehen hat!“, sagte Lucy und schluckte laut. „Was meinen sie damit, Lucy?“, fragte Raven ungläubig. „Na ich mein es so, wie ich es sage!“, sagte Lucy etwas verärgert und zupfte an den Ärmeln ihres Wollpullovers herum. „Er kam mit schweren Atembeschwerden ins Krankenhaus nach View Hills. Da war er eigentlich schon fast am Ende. Die Lamberts, also seine Familie, waren immer schon perfekt im Verschweigen von Beschwerden. Paul, also mein Stiefvater, setzte diese Familientradition fort. Er stand abends im Bad und kotzte Blut ins Waschbecken. Dabei röchelte er so laut, das ich es bis in mein Zimmer hören konnte; und zwar jede Einzelheit, jedes kleinste Detail!“, sagte Lucy mit einer leicht zittrigen Stimme. Lucy machte eine kurze Pause, nahm einen großen Schluck aus ihrem Wasserglas und fuhr dann mit der Erzählung fort. „Er wusste schon bei der Ankunft im Krankenhaus, das es mit ihm zu Ende gehen wird! Im Krankenwagen nahm er immer wieder meine Hand, schaute mich mit großen, ängstlichen Augen an und sagte mir, dass er wohl bald ins Fegefeuer müsse. Sie können sich nicht vorstellen, was da in mir vorging! Auf der einen Seite dachte ich, dass es genau das ist, was dieser Bastard verdient hätte. Aber auf der anderen Seite waren da diese schönen Momente, die wir ohne Zweifel massenhaft hatten, auch wenn er sie abends mit einem Gürtel oder einem Besenstiel wieder aus meinem Kopf prügelte!“ Lucy kullerte eine Träne über ihre Wange, während ihr Blick starr auf den Schreibtisch des Arztes gerichtet war, wo eine Metallskulptur von Albert Einstein im hellen Licht der Nachmittagssonne glänzte. Dann richtete sie ihren Blick wieder auf Dr. Raven, der eifrig weiter auf seinem roten Notizblock herumkritzelte. „Ich glaube, ein Mensch ahnt es, wenn er gehen muss. Ich weiß nicht, wie es funktioniert oder was da genau geschieht, aber ich bin sicher, das Paul wusste, was kommt und wohin die Reise gehen wird! Nach den ersten Untersuchungen mussten wir ihn immer wieder in den Rollstuhl setzen und aus seinem Zimmer herausfahren. Er hatte Angst vor dem Zimmer. Er bildete sich ein, das in seinem Krankenzimmer der Tod wartete!“ Lucy wischte sich die Träne vom Gesicht und kramte in ihrer Jeans nach einem Lutschbonbon. Nachdem die Suche erfolgreich war und das Bonbon in ihrem Mund verschwand, schnippte sie das Bonbonpapier gekonnt in den Abfallkorb neben einem Beistelltisch, der als Ablageplatz für ihr Wasserglas diente. „Und was meinten sie vorhin, als sie sagten, dass er die Hölle gesehen hat?“, fragte Raven neugierig. „Er ist uns am selben Nachmittag zweimal im Rollstuhl zusammengeklappt. Wir riefen daraufhin die Krankenschwester zu uns, die ihn sofort in einen Untersuchungsraum rollte. Die haben den Arzt angefunkt und gaben ihm den Hinweis, das Pauls Herz nicht mehr schlug. Aber bevor der Arzt überhaupt in dem Zimmer ankam, war Paul schon wieder zurück. Er lebte wieder, wie in einem dieser Psychothriller; ein Kommen und Gehen! Das passierte mehr als nur einmal!“, sagte Lucy und schob ihr Lutschbonbon mit der Zunge zur Seite. „Er ist noch ein paar Mal weggeklappt, manchmal für eine ganze Minute oder sogar länger. Er verdrehte dann die Augen soweit nach oben, wie ich es noch nie zuvor gesehen habe. Sein Kopf klappte dann einfach nach hinten und weg war er. Und immer wieder kam er zurück, während feine Blutfäden zwischen seinen Lippen hingen. Er röchelte dann kurz und begann zu stöhnen. Ich werde dieses Gestöhne nie vergessen! Es war so beängstigend, so anders, so verändert!“ Lucy atmete etwas schneller, während sie nochmals zum Wasserglas griff. Dr. Raven erkannte den Stress, dem die junge Frau gerade ausgesetzt war. Die Anspannung stand ihr förmlich ins Gesicht geschrieben. „Und danach hat er ihnen gesagt, dass er die Hölle gesehen hat, Lucy?“, fragte Raven. „Das war kurz vor seinem Tod. Nach den vorherigen Malen hat er immer nur von Angst geredet. Es ging immer um Angst, Panik und Schmerzen. Am frühen Abend seines Todestags passierte es dann nochmal! Meine Mutter war zu der Zeit in der Cafeteria! Aber als er da zurückkehrte, war es entsetzlich. Nach über einer Minute kam er wieder ins Leben zurück! Er röchelte und das Blut schoss aus seinem Mund heraus. Der Kopf schnellte nach oben und sein Blick war grauenhaft. Er starrte mich an und sagte, dass er nicht in die Hölle wolle! Doc, er hat das wortwörtlich zu mir gesagt! Sein Kopf hat verfluchte Kreise um seine Schultern gedreht. Er hat sich gewehrt! Er sagte, dass er die Hölle gesehen hat und dass der Tod ihn bereits dort erwartet! Eine Stunde später war er dann tot, endgültig!“ „Sie müssen sehr gelitten haben, Lucy!“, sagte der Doc jetzt sichtlich bewegt. Er legte seine Hand auf ihren Arm, um sie etwas zu beruhigen. Lucy schien jetzt aufgebracht zu sein. Sie konnte ihren Herzschlag im ganzen Körper spüren. „Ich hatte Angst, einfach nur eine riesen scheiß Angst! Können sie sich vorstellen, wie es ist, wenn sie jemand so anstarrt, nachdem er gerade etwas gesehen hat, das den Horizont des menschlichen Verstandes so dermaßen überschreitet?“, fragte Lucy aufgeregt. „Jemand, der so etwas nicht live miterlebt hat, kann das glaube ich nicht! Aber das bedeutet nicht, dass ich es anzweifele. Erzählen sie weiter! Was geschah dann als nächstes?“ „Na ja, meine Mum glaubte mir natürlich kein Wort von dem, was passiert ist! Sie hockte unten in der Cafeteria und hat von der Sache nichts mitbekommen. Sie hörte sein Röcheln nicht. Sie hat nicht in seine Augen gesehen. Sie hat seinen fauligen Atem nicht gerochen und seine rostige, gurgelnde Stimme nicht gehört!“, seufzte Lucy laut. „Und wann fingen die Ereignisse an, wegen derer sie hier sind, Lucy?“ „Bei seiner Beerdigung! Da ging es los! Es war erst vollkommen unscheinbar. Wir standen am Grab und sahen zu, wie sein Sarg herabgelassen wurde. Diese Maschine, die ihn herunterlässt, surrte so laut, das man fast den Pastor nicht mehr hören konnte. Und dann, in einem Moment, wo die leere Winde wieder nach oben gezogen wurde, hörte ich plötzlich dieses Klopfen. Die anderen Trauergäste schienen das gar nicht zu hören, aber ich schon! Etwas klopfte gegen den Sargdeckel. Ich bin mir absolut sicher!“, sagte Lucy entschlossen. „Wie haben sie sich das erklärt?“, fragte Raven, der sich selber dabei ertappte, wie er, entgegen seiner Art, ungläubig die Stirn runzelte. „Ich hatte keine Erklärung dafür! Ich dachte, ich hätte mir das nur eingebildet. Aber da wusste ich ja auch noch nicht, was noch alles passieren würde. Hätte ich es gewusst, hätte ich wahrscheinlich den verfluchten Deckel aufgerissen!“ Lucy spielte wieder mit dem Bonbon in ihrem Mund und ließ es gegen ihre Backenzähne schlagen. Sie rutschte nervös auf dem Sessel umher und beobachtete während ihrer Erzählung die Mimik des Arztes. „Sie denken, ich bin verrückt, oder?“, fragte sie. „Nein, das denke ich nicht! Ich glaube nicht, dass sie verrückt sind. Aber Fakt ist nun mal, das es gerade im Fall von Trauer und Verlust immer wieder zu Paranoia kommt. Diese wirkt sich immer unterschiedlich aus. Ich kann aber noch nicht sagen, ob das auf ihren Fall auch zutrifft, Lucy!“, sagte der Doc und es klang für Lucy recht überzeugend. „Na ja, wie dem auch sei! Da fing es auf jeden Fall an und am Abend ging es in meinem Zimmer weiter. Ich saß auf dem Bett und las noch ein wenig, als sich meine Gardine plötzlich bewegte. Das Fenster war geschlossen und die Gardine bewegte sich. Sie schaukelte richtig hin und her! Ich meine, stellen sie sich das doch mal vor! Sie beerdigen ihren Stiefvater, der scheinbar einen grauenhaften Tod gestorben ist. Sie kommen nach Hause und plötzlich bewegen sich Gegenstände!“, sagte Lucy und sah den Therapeuten fragend an. „Und es kann kein Luftzug gewesen sein, Lucy?“ „Nein, das war kein Luftzug. Alles war geschlossen! Zu der Zeit war es arschkalt draußen! Da öffnet man die Fenster nur tagsüber, um kurz zu lüften. Außerdem war es ja nicht das einzige Ereignis an dem Abend!“ „Was geschah denn noch?“, wollte der Arzt wissen. „Ich habe in meinem Zimmer eine Abstellkammer, in der eine Glühbirne hängt, die man durch eine Strippe anschalten kann. Als ich gerade das Licht ausgeschaltet hatte und im Bett lag, hörte ich, wie die Metallstrippe gegen die Regalkante schlug, immer wieder wie ein verfluchter Taktgeber! Ich stand auf und wollte nachsehen, was da los war. Als ich die Kammer betrat, hörte mit einem Mal das Schlagen auf! Es war weg, einfach so! Als ich mich dann zu meinem Bett umdrehte, spürte ich plötzlich eine Kälte, wie ich sie noch nie zuvor erlebt hatte. Es war ein Hauch; ein verdammt kalter Hauch, der mich förmlich durchflutet hat. Er ging direkt durch mich hindurch!“, sagte Lucy sehr bestimmt und zielgerichtet. „Was haben sie dann gemacht, Lucy?“, fragte Raven, dem man das Interesse an dieser Geschichte jetzt ansehen konnte. „Ich hatte Angst, Panik, einfach von jedem etwas! Ich war durcheinander. Ich hab dann das Licht angeschaltet und mich ins Bett gesetzt. Da war es plötzlich wieder, dieses Gefühl von Kälte. Es war ganz nah bei mir! Ich hab mir dann die Decke über den Kopf gezogen. Und dann hat plötzlich…!“ Lucy stoppte und schaute den Doc verunsichert an. „…jemand von außen auf meine Bettdecke geschlagen! Dr. Raven, ich war alleine in dem Zimmer. Da war niemand außer mir! Meine Mum schlief bereits, weil sie ihre Trauer an dem Abend mit einer Flasche Gin betäubt hat! Ich war ganz allein und jemand schlug auf meine Bettdecke. Nicht leicht oder sanft, sondern fest, so das ich es genau spüren konnte!“ Der Arzt rutschte etwas nach hinten, um sich auf seinem Block weitere Notizen zu machen. „Erzählen sie weiter, Lucy!“, sagte er neugierig. „Ich schaute über die Kante meiner Bettdecke, aber niemand war da. Ich war immer noch allein. Ich hab meiner Mum am nächsten Morgen davon erzählt, aber sie glaubte mir natürlich kein Wort! Sie hat mir sowieso fast nie was geglaubt, auch schon vorher nicht! Na ja, als es ihr dann selbst passiert ist, natürlich schon!“ Lucy stand aus dem braunen Ledersessel auf und begann, mit verschränkten Armen einige Runden durch das Behandlungszimmer zu drehen, während sie weiterredete. „Drei Tage später hatte ich Spätdienst im Chicken Stop vor dem Einkaufszentrum. Ich räumte die Theke auf und wollte dann mit dem Rad nach Hause fahren! Als ich die alte Miller Road mit dem Fahrrad herunterfuhr, merkte ich plötzlich, dass mein Licht nicht mehr funktionierte. Es fiel plötzlich aus, wieder einfach so! Man muss dazu sagen, dass auf dieser Straße so gut wie nie irgendwelche Laternen funktionierten. Und so war es dann schon ziemlich dunkel dort. Ich bin abgestiegen und wollte grad nach dem Lichtdynamo sehen, als ich merkte, das mich jemand von hinten am Rücken berührte, immerhin so heftig, dass ich es sogar durch die Winterjacke gespürt hab!“ „Und da war niemand außer ihnen?“, fragte Raven erstaunt. „Nein, da war nur ich! Und selbst wenn da noch jemand gewesen wäre, konnte er ja wohl meinen Namen nicht kennen, oder?“ „Ihren Namen? Wie meinen sie das?“ „Naja, ich drehte mich natürlich um, als ich diese Berührung spürte. In dem Moment hörte ich eine Stimme meinen Namen sagen! Und ich schwöre bei allem, was mir heilig ist, dass es die röchelnde Stimme meines Stiefvaters war! Da bin ich absolut sicher!“ „Und sie können sich das nicht eingebildet haben, Lucy?“, fragte Raven mit einem leicht zynischen Tonfall, der Lucy nicht passte. „Sehe ich aus, wie eine kleine Irre? Das tu ich bestimmt nicht! Ich hab mir das doch nicht eingebildet. Es war seine Stimme, genauso röchelnd und gurgelnd, wie im Krankenhaus, als ihm das Blut in den Hals lief! Das war er definitiv!“, sagte sie mit fester Stimme. „Ich bin dann schnell nach Hause gefahren, ohne Licht! Als ich da ankam, wartete meine Mutter schon in der Küche auf mich. Ihre Zigarette lag abgebrannt im Aschenbecher und sie war kreidebleich. Ich fragte, was denn mit ihr los sei. Darauf sagte sie, dass Paul gerade dort war. Sie sagte, dass erst nur sein Schatten auf dem Fußboden im Flur zu sehen war. Sie hatte dann wohl Schritte gehört, dachte aber, dass ich es wäre und rief mich! Da hat ihr plötzlich jemand ins Ohr geflüstert, das er mich gerade auf der Miller Road besucht hätte. Und sie hat trotz des Flüsterns Pauls Stimme erkannt. Das hat sie mir geschworen, Doc!“ „Sie haben nie erwähnt, dass auch noch jemand anderes eine Begegnung mit Paul hatte! Ist das öfter vorgekommen, Lucy?“ „Ja, aber nicht bei meiner Mum! Mein Bruder Steven, der schon länger nicht mehr bei uns wohnt, hatte mehrere Begegnungen mit ihm. In seiner Wohnung in Dayton sollen die Lampen geflackert haben und aus heiterem Himmel fiel der Fernseher aus. Nur noch Schnee auf dem Bildschirm. Da hat Steven den Schatten einer Person auf dem flimmernden Bildschirm gesehen. Und auf dem Spiegel im Bad hat er mal nach dem Duschen etwas lesen können. Da stand „Daddy“ auf dem Spiegel! Jemand hatte das mit dem Finger auf die beschlagene Oberfläche geschrieben. Wir bilden uns das doch nicht alles ein, oder?“, sagte Lucy und schüttelte dabei den Kopf. Hatten sie denn auch noch weitere Begegnungen mit ihm, Lucy?“, fragte Raven, um der Antwort auf ihre Frage aus dem Weg zu gehen. „Selbstverständlich!“, sagte Lucy. „In der Nacht kommt er oft in mein Zimmer. Ich öffne meine Augen ja mittlerweile immer, sobald ich ein Geräusch höre, das ich nicht zuordnen kann. Ich sehe dann für einen Bruchteil von Sekunden seinen Schatten. Er ist da! Auf jeden Fall ist er da! Meine Mum und ich hören oft die Bodenbretter im Flur. Sie knirschen, wenn jemand darüber läuft. Jeden Abend hören wir das Holz knirschen. Jeden Abend klackert es in der Küche. Meine Mum hat über dem Herd eine Metallvorrichtung, an der ein paar Kochtöpfe und Pfannen hängen. Sie bewegen sich scheinbar durch irgendetwas und schlagen dann gegeneinander. Das geht jeden Abend so! Ab und zu rieche ich ihn auch. Er hat immer so eine widerliche Handcreme mit Eukalyptusöl benutzt. Wenn ich abends vor dem Computer oder dem Fernseher sitze, rieche ich oft aus heiterem Himmel diese verdammte Creme. Hört sich ziemlich krank an, oder?“ „Es klingt tatsächlich alles sehr merkwürdig. Eine wirkliche Antwort oder Erklärung dafür hab ich erstmal leider auch nicht! Hat er denn auch noch mal zu ihnen gesprochen?“, wollte Dr. Raven wissen, obwohl er die Antwort bereits ahnte. „Ja, das hat er! Es war eines der schlimmsten Erlebnisse, das ich nach seinem Tod hatte. Eines Nachts öffnete sich plötzlich meine Zimmertür, nur einen kleinen Spalt! Ich bin wach geworden, stand auf und dachte ehrlich gesagt in diesem Moment gar nicht an ihn. Ich dachte, das meine Mum oder vielleicht der Wind die Tür geöffnet hätte. Ich hab dann durch den kleinen Türspalt geschaut und ganz plötzlich atmete mir jemand direkt ins Gesicht. Ich bin dann einen Schritt zurückgegangen und dann öffnete sich langsam die Tür. Sie quietschte ganz fürchterlich und da sah ich seinen Schatten direkt an der Wand im Flur. Er hatte den Kopf leicht zur Seite geneigt und im selben Moment roch es wieder nach dieser verfluchten Eukalyptuscreme. Der ganze Raum stank nach diesem ekeligen Zeug. Er stand dann direkt neben mir und da hörte ich, wie er plötzlich in mein Ohr sprach. Doc, ich konnte das Blut riechen, das aus seinem Mund lief. Ich bin fast gestorben vor Angst! Und dann hat er meinen Namen gesagt, allerdings wie ein Kaugummi langgezogen!“ „Luuuuucyyyyyyy!“ „Immer wieder sagte er das so, bis es plötzlich ruhig wurde. Ich begann wieder zu frieren und dann sagte er plötzlich: „Ich bin ganz nah!“ Ich konnte die ganze Nacht nicht mehr schlafen. Und in den Nächten danach blieb meine Freundin Tory bei mir. Das geht jetzt schon seit sechs Wochen so!“, sagte Lucy und senkte verzweifelt den Kopf. „Wissen sie Lucy, wir haben heute viel geredet aber ich will es nicht übertreiben. Machen wir Schluss für heute, damit sie ein wenig auf andere Gedanken kommen können. Lassen sie uns einen neuen Termin für den kommenden Donnerstag ausmachen, ok?“, sagte Raven, der mittlerweile auch etwas erschöpft wirkte. Lucy verabschiedete sich etwas unzufrieden von Dr. Raven und nahm den Bus nach Hause. Sie hatte sich mehr von dem Mann erwartet, den alle den Seelenkönig nennen. Seine Erfolgsquote machte im ganzen Bundesstaat die Runde und Lucy hatte auch deshalb die große Hoffnung, dass er ihr Antworten liefern konnte. Allerdings konnte sie natürlich selbst von einem Seelenkönig keine Wunder erwarten und das wusste sie auch. Als sie zuhause ankam, wartete ihre Mutter schon mit dem Essen auf sie und Tory hatte einen Salat gemacht. Aber Lucy war nicht nach Essen zumute. Sie ging direkt rauf in ihr Zimmer im ersten Stock und verschloss hinter sich die Tür. Auch auf das energische Klopfen ihrer Freundin reagierte sie nur mit einem knappen „Ich will ein bisschen allein sein!“. Lucy blätterte ein wenig in alten Zeitschriften herum, als es wieder an der Tür klopfte. Sie verdrehte die Augen und keifte ein „Ich will jetzt verdammt nochmal allein sein!“ durch die geschlossene Zimmertür. Als sie sich gerade wieder ihren alten Zeitschriften widmen wollte, bemerkte sie plötzlich diesen Eukalyptusgeruch im Zimmer. Sie bekam eine Gänsehaut und sah sich ängstlich um. „Ist da jemand?“, fragte Lucy schüchtern. Natürlich wusste sie sofort, wer dort war. Sie wusste, dass es Paul war, der sich gerade wieder in ihre Gedanken arbeitete. Es war der Mann, zu dem sie als kleines Mädchen aufgeschaut hatte, mit dem sie gespielt und von dem sie später gebrochen wurde. Es war der Tyrann, der auch liebevoller Familienvater sein konnte, wenn er wollte. Leider wollte er es nicht so oft, wie Lucy es sich schon damals immer gewünscht hatte. Lucy stand von ihrem Schreibtisch auf, als sie den fauligen Atem von Etwas in ihrem Nacken spürte. Sie zitterte am ganzen Körper und eine durchdringende Kälte umhüllte sie wie ein dicker Mantel aus Angst und Entsetzen. Sie drehte sich um, aber da war niemand zu sehen. Da war kein Schatten, keine Silhouette, einfach nichts, das nach Paul aussah. Aber der Geruch war da. Er war allgegenwärtig. Auch in dem Moment, wo die Nachttischlampe zu flackern begann, roch es nach ihm. Sie flackerte heftig in unregelmäßigen Intervallen, die so aussahen, als wenn jemand ein schwarzes Tuch über die Lampe legen würde, um es dann wieder wegzuziehen. Das untere Ende ihrer Gardine geriet ebenfalls in Bewegung und die Holzbretter auf dem Fußboden knirschten plötzlich ohne Unterbrechung. Es hörte sich an wie Schritte, die sich auf Lucy zu bewegten, als plötzlich das Licht komplett ausfiel. Einzig der Schein der Straßenlaterne brachte noch etwas Licht in das Eckzimmer. Lucy stand ganz still, atmete kaum und war starr vor Angst. Sie blickte sich panisch um und versuchte, irgendetwas in dem dunklen Zimmer erkennen zu können. Da tauchte plötzlich wieder der faulige Geruch neben ihr auf. Sie kniff ganz fest die Augen zusammen und hoffte, dass dieses Grauen schnell wieder enden würde. Sie hörte das grauenhafte Gurgeln von Paul direkt an ihrem Ohr und im selben Moment hörte sie die röchelnde Stimme ganz nah bei sich. „Luuuuucyyyyy!“, flüsterte es gurgelnd in ihr Ohr. „Ich bin ganz nah bei dir! Das fühlst du, oder?“, sagte die Stimme und der Geruch von altem Blut zog sich jetzt durch den Raum. „Ich bin auf der Schwelle!“, zischte die Stimme und im selben Moment hatte sie die Seite gewechselt. Nun röchelte sie in das andere Ohr. Die Kälte zog direkt in ihr Ohr, direkt in ihr Gehirn, in ihre Gedanken, in ihre Welt. Tränen liefen an Lucys Gesicht herunter und sie zitterte am ganzen Körper. Sie fühlte ihn direkt neben sich. So nah hatte sie Paul noch nie gespürt. So nah war er ihr nach seinem Tod noch nie gekommen, entweder weil er nicht konnte oder weil sie es einfach nicht zugelassen hatte. „Was passiert hier? Was willst du Bastard von mir?“, fragte sie mit zitternder Stimme. Sie konnte kaum noch einen klaren Gedanken fassen, als sie plötzlich den fauligen Atem direkt vor ihrem Gesicht spürte. „Das weißt du nicht?“, fragte die gurgelnde Stimme von Paul ganz leise, aber trotzdem so durchdringend, das Lucy sie überall in ihrem Körper fühlen konnte. „Du wirst mich nicht fertigmachen, Paul! Du hast es damals nicht geschafft und du wirst es auch heute nicht schaffen!“, sagte Lucy ängstlich. „Darum geht es ja auch nicht, Lucy! Es geht um viel mehr als das! Und du weißt es! Du weißt es ganz genau!“ Lucy atmete tief ein und konnte förmlich das Blut schmecken, das seinen modrigen Geruch aussandte, um ihre Sinne damit zu füllen. Wieder schloss sie ganz fest die Augen und pustete durch ihre engen Lippen die Luft nach draußen. Immer noch zitterte sie am ganzen Körper. „Ich will dich nicht in meinem Leben haben! Ich wollte es nie! Du hast dich mir einfach aufgezwängt! Ich habe dich gehasst! Ich habe dich gehasst wie eine Seuche. Du hast unsere Familie zerstört. Und selbst jetzt, wo du tot bist, versuchst du es weiter!“, flüsterte Lucy vollkommen hasserfüllt. Plötzlich funktionierte das Licht wieder und der Gestank aus Blut, Moder und Eukalyptusöl war verschwunden. Lucy öffnete die Augen und schaute sich um. Keine Bewegung mehr, kein Gurgeln, kein blutiger Geschmack im Mund. Alles war still und so wie immer. Lucy schloss die Tür auf und rannte nach unten. Sie erzählte Tory und ihrer Mum, was sie erlebt hatte. Diesmal glaubten sie ihr und alle drei beschlossen, in der heutigen Nacht auf den Sofas im Wohnzimmer zu schlafen. Selbst die Nacht verlief ohne besondere Vorkommnisse. Die drei saßen zusammen am Frühstückstisch und es war eine vollkommene Ruhe im Haus, wie sie es schon lange nicht mehr erlebt hatten. Dieses Gefühl von Ruhe kannten sie schon gar nicht mehr, war Paul doch in den letzten Wochen ein ständiger Begleiter gewesen. Am Donnerstag hatte Lucy dann den nächsten Termin bei Dr. Raven, wo sie von ihrem Aufeinandertreffen mit Paul berichtete. Sie erzählte ihm, was er zu ihr gesagt hatte und wie sie ihn diesmal wahrgenommen hat. Sie berichtete ihm von dem Gurgeln, dem blutigen Geschmack und von der Schwelle, die Paul erwähnt hatte. Raven konnte sich auf die Äußerungen keinen wirklichen Reim machen und erbat sich in einer Sitzung, die wesentlich kürzer war, als die letzte, noch etwas Zeit um zu recherchieren, was es mit der „Schwelle“ auf sich hatte. Er hatte wahrscheinlich selbst keine große Hoffnung, irgendwelche brauchbaren Informationen zu finden. Aber einen Versuch wollte er dann trotzdem wagen. Es regnete an diesem Abend, als Raven vor Lucys Tür stand. Er war vollkommen durchnässt und durchgefroren, als er seinen Mantel über den Kleiderständer im Flur hängte. Lucy ging in die Küche und setzte eine Tasse Kaffee für den Arzt auf. Dieser stand im Türrahmen und kramte einige nasse Notizzettel aus seiner Hosentasche. „Lucy, ich hab mich etwas näher mit den Aussagen ihres verstorbenen Stiefvaters beschäftigt und bin tatsächlich fündig gefunden!“, sagte Raven und legte einen der vielen Notizzettel auf den Küchentisch. „Was ist das?“, fragte Lucy und setzte sich auf den Stuhl am Kopfende. Sie starrte auf den Zettel und versuchte die leicht verwaschene Schrift darauf zu entziffern. „Es gibt Aufzeichnungen aus einem Kloster in der Bretagne. Sie stammen irgendwann aus dem 17. Jahrhundert! Darin ist von der so genannten „Schwelle“ die Rede, die ihr Stiefvater erwähnt hat!“ „Als Schwelle bezeichneten die damaligen Gelehrten eine Sphäre oder Dimension jenseitsvon Gut und Böse, jenseits von allem Weltlichen, allerdings noch nicht im Jenseits selbst!“, fuhr Raven mit seiner Erklärung fort. „Ich meine, es ist nichts Offizielles, keine christliche Überlieferung oder eine Theorie der Kirche. Es gibt aber Aufzeichnungen aus diesem Kloster, die tatsächlich auf die von ihnen empfundene und erlebte Situation passen könnten!“, sagte Raven etwas stolz. „Also ist Paul dort jetzt gerade? Er steht auf der Schwelle? Wollen sie mir das sagen?“, fragte Lucy ziemlich verunsichert. „Ich hab da noch mehr!“, sagte der Doc und legte einen weiteren Notizzettel auf den Tisch. „Es gibt diverse Sekten, bevorzugt in Südamerika, die mit einem so genannten Medium arbeiten und verstorbenen Seelen helfen, ins Jenseits zu kommen. Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass es sich im Falle ihres Stiefvaters um einen ähnlichen Fall handeln könnte! Es käme aber auch weiterhin noch eine medizinische Erklärung in Frage!“, sagte Raven und für einen kurzen Moment steckte der Abenteurer in ihm zurück und es kam wieder der nüchtern analysierende Psychotherapeut zum Vorschein. „Sie glauben also weiterhin, dass ich verrückt bin? Und meine ganze Familie ebenfalls?“, fragte Lucy ziemlich ungläubig. „Lucy, sie müssen meinen Standpunkt auch verstehen! Ich bin Mediziner und kein Parapsychologe oder Esoteriker! Mein Job ist es, eine medizinische Erklärung oder Behandlungsmethode für diverse psychische Leiden zu finden. Natürlich ist ihr Fall da etwas Besonderes! Das muss ich zugeben. Aber es gibt Traumata, die von einer intensiven Form der Trauer ausgelöst werden können. Natürlich ist es ziemlich selten, das drei Personen das selbe Trauma haben, allerdings ist es auch nicht absolut unmöglich!“ „Doc, sie sollten sich mal hören! Sie reden von einem Trauma auf der Basis intensiver Trauer. Meine Trauer ist aber nicht mal sonderlich intensiv. Sie ist da, aber mehr auch nicht! Ich habe meinen Stiefvater nicht über alles geliebt. Ich weiß nicht einmal genau, ob da auch nur ein kleiner Funken Liebe im Spiel war. Die meiste Zeit über hab ich ihn verachtet. Wie also soll da ein Trauma zustande kommen?“, fragte Lucy vorwurfsvoll. „Ich weiß es doch auch nicht! Ich versuche nur, eine medizinische Erklärung für das alles zu finden! Ich hatte noch nie einen Patienten, bei dem derartige Phänomene so intensiv aufgetreten sind!“, sagte Raven und strich sich seine nassen Haare nach hinten. „Ich weiß nur, dass ich ihnen gerne helfen möchte! Deshalb sollten wir noch einen weiteren Termin machen, um vielleicht mal das eine oder andere Medikament auszuprobieren. Normalerweise halte ich nicht viel von einer medikamentösen Therapie, aber in einem Fallwie ihrem könnten sie durchaus eine brauchbare Wirkung erzielen!“, fuhr Dr. Raven fort. „Ich möchte, dass sie jetzt gehen, Doc!“, sagte Lucy und zeigte auf die Tür. „Lucy, hören sie, ich……!“ „Nein, Dr. Raven!“, unterbrach Lucy den Arzt. „Sie wollen mich unter Drogen setzen, um ihre gute Quote halten zu können. Ich will das aber nicht. Ein Arzt, der seinem Patienten nicht glaubt, ist kein guter Arzt für mich!“, sagte Lucy sichtlich enttäuscht. Sie stand auf und ging zielgerichtet zur Haustür. Raven folgte ihr, nahm seinen durchnässten Mantel vom Kleiderständer und schlich zur Tür hinaus. Er blickte dabei nicht einmal zurück. Wahrscheinlich wusste er, das Lucy sowieso nicht einlenken würde, egal was für Argumente er noch aufbringen würde. Lucy schloss die Tür und ging nach oben auf ihr Zimmer, wo sie sich auch direkt ins Bett legte. Sie wollte den Besuch des Therapeuten schleunigst vergessen. Innerhalb von wenigen Minuten schlief sie ein, während Tory noch mit ein paar Freunden in der Stadt unterwegs war. Gegen Zwei Uhr öffnete Lucy die Augen. Irgendein Geräusch hatte sie aus ihrem mittlerweile ziemlich leichten Schlaf gerissen. Sie drehte sich um und bemerkte, das Tory noch immer nicht zuhause war. Lucy hob den Kopf und sah, das ihre Zimmertür immer noch geschlossen war. Da stand er in der Ecke des Zimmers direkt neben dem Fenster. Seine imposante Erscheinung hatte ihr schon zu seinen Lebzeiten Respekt eingeflößt. Aber jetzt, wo er doch tot war, ergab sich aus seinem Auftreten nochmal eine ganz neue Form von Respekt. Sie hörte sein dumpfes Gurgeln in der dunklen Ecke des Zimmers. Sein Gesicht konnte sie nicht erkennen, aber es war definitiv Paul. Er röchelte wie ein alter Motor auf seinen letzten Metern. Für einen Moment hatte sie das Gefühl, als würde er grinsen, was sie aber auf eine Reflektion der Straßenlaternen schob. Er gurgelte diesmal wesentlich lauter als bei den ersten Kontaktaufnahmen. Lucy zuckte zurück, als sein Körper, der eigentlich unter der Erde liegen müsste, plötzlich verschwand. Sie wollte aufstehen und das Licht anschalten, aber ihre Beine versagten komplett ihren Dienst. Es war, als würde irgendetwas ihre Beine auf die Matratze drücken. „Oh mein Gott! Er kann mich berühren. Wenn dem so ist, kann er mich auch verletzen!“, dachte sich Lucy und ihr Herz schlug schnell und fest in ihrer Brust. Sie versuchte zu schreien, aber irgendetwas raubte ihr den Atem dazu. Sie öffnete den Mund und schnappte nach Luft. Da bemerkte sie wieder diesen Geruch aus altem Blut und Eukalyptusöl, der sie umgab wie eine dichte Nebelschwade. Sie griff sich an den Hals und rieb verzweifelt mit den Händen darüber, bis dann mit einem Mal die Luft zurückkehrte. „Luuucyyy!“, hallte es aus einer undefinierbaren Richtung des Zimmers. Allerdings konnte sie noch immer nicht sprechen. Sie versuchte verzweifelt, einen Ton über ihre Lippen zu bekommen, während wieder diese entsetzlich gurgelnde Stimme ihres Stiefvaters durch den Raum schallte. „Hast du Angst, Lucy? Das solltest du, denn ich werde niemals aufhören, Lucy!“ Lucy versuchte wieder, ihre Beine zu bewegen, aber es wollte einfach nicht gelingen. Irgendetwas übte einen dermaßen starken Druck auf ihren Körper aus und presste sie in die Matratze. Jeder Versuch, aus einem angespannten Muskel eine Bewegung zu provozieren, misslang ihr gründlich. Sie spürte, dass Paul direkt über ihr war. Sie konnte ihn riechen, fühlen und sogar schmecken. Sie riss die Augen auf und sah in sein widerliches blutverschmiertes Gesicht. Wieder blieb ihr die Luft weg und mittlerweile konnte sie auch ihre Hände nicht mehr bewegen. Jede Faser ihres Körpers war jetzt in absoluter Alarmbereitschaft. Jeden Moment konnte ihr Herz aus einer perversen Form von Angst heraus aufhören, zu schlagen. „Ich bin immer noch auf der Schwelle, Lucy!“ röchelte Paul und in seinem Hals gluckerte das Blut auf und ab. „Es ist grauenvoll hier! Es ist nicht der Tod, der grauenvoll ist! Es ist diese Zerrissenheit, die Qualen, nicht gehen gelassen zu werden, Lucy!“ Lucy versuchte wieder, ihre Arme und Beine zu bewegen. Außer ein paar Zuckungen in ihren Muskeln bekam sie jedoch nichts dergleichen zustande. Währenddessen bemerkte sie, wie etwas Feuchtes ihre Lippen berührte. War es Einbildung oder tropfte tatsächlich Pauls Blut auf ihren Mund? Sie hatte für einen kurzen Moment das Gefühl, wahnsinnig zu werden, als dann aber wieder Pauls glucksende Stimme den gesamten Raum erfüllte. „Wir wissen beide, warum ich hier gefangen bin! Du weißt es und ich weiß es auch! Ich weiß nicht, was du getan hast, aber Fakt ist, das du es getan hast! Du musst es ihr sagen, Lucy! Ich werde dich niemals in Frieden leben lassen! Lass mich gehen oder ich werde dich und vor allem deinen verlotterten Bruder in den Wahnsinn treiben!“ Dann war Paul plötzlich verschwunden, ebenso wie der Geruch seines Blutes und das feuchte Gefühl auf ihrem Mund. Sie konnte jetzt wieder Arme und Beine bewegen. Lucy atmete tief durch und begann dann, hemmungslos zu weinen. Sie kauerte sich auf ihrem Bett zusammen, zog die Beine ganz weit an ihren Bauch heran und weinte noch lange, bevor die Sonne langsam den nächsten Tag einläutete. Der Regen hatte nachgelassen und schon um kurz nach Sechs stand Lucy unter der Dusche. Kurz darauf ging sie mit einer Sporttasche über der Schulter in die Küche, wo ihre Mutter bereits den ersten Kaffee aufgebrüht hatte. Sie stellte die Tasche auf den Boden und setzte sich an den Tisch, wo ihre Mutter gerade in der Morgenausgabe der Lokalzeitung blätterte. „Mum, ich muss dir etwas sagen!“, murmelte Lucy schüchtern und ihre Mutter schaute sie fragend an. „Was ist denn los, mein Kind?“, fragte die Mutter. „Auf dem Schreibtisch in meinem Zimmer liegt ein Brief. Ich muss jetzt dringend los und etwas Wichtiges erledigen! Wenn ich weg bin, kannst du nach oben gehen und ihn öffnen!“ „Warum sagst du es mir nicht einfach? Warum so kompliziert, Liebes?“ „Mum, bitte frag nicht! Mach es genauso und sorg dich nicht um mich! Alles ist gut! Alles wird gut!“, sagte Lucy und stand auf, um ihre Tasche zu nehmen. Sie gab ihrer Mutter noch einen Kuss auf die Wange und verließ dann wortlos das Haus, ehe ihre Mum auch nur den geringsten Versuch machen konnte, sie aufzuhalten. Sie ging daraufhin nach oben und öffnete die Tür zu Lucys Zimmer, wo der Brief mit der Aufschrift „Für Mommy“ auf einem angebrochenen Schreibblock lag. Die Mutter öffnete den zugeklebten Umschlag hastig und begann damit, den Brief zu lesen. Guten Morgen Mum, wie du weißt, ist in den letzten Wochen viel Seltsames passiert. Wir wissen beide, dass Paul noch da ist. Irgendwo ist er und er tyrannisiert uns. Er hat es zu Lebzeiten getan und auch jetzt lässt er uns einfach nicht los. Ich habe heute Nacht herausgefunden, warum das alles passiert und warum er nicht einfach für immer geht. Die Vergangenheit ist wohl der Grund dafür, warum er nicht gehen kann. Es mag dir ziemlich egal sein, das er damals immer wieder diese Anfälle hatte und uns alle wie den letzten Dreck behandelt hat. Es mag dir auch egal sein, das er Steven und mich immer wieder verprügelt und gedemütigt hat. Es war dir egal, weil du ihn geliebt hast. Nicht das er deine Liebe verdient gehabt hätte, aber du hast ihm trotzdem dein herz geschenkt. Das hat dich blind gemacht und du hast ignoriert, wie sich deine beiden Kinder mit dem neuen „Vater“ fühlen könnten. Unser Zuhause ist zu einer kleinen privaten Hölle geworden und das hast du nicht verstanden. Du wolltest nicht, dass deinem neuen „Glück“, wenn man es so nennen kann, irgendetwas im Weg steht. Wir haben das akzeptiert, wenn auch schweren Herzens. Wir haben es für dich in Kauf genommen, Steven noch mehr als ich! Eines Abends aber hatte Paul einen besonders schlimmen Anfall. Wahrscheinlich war er auch betrunken, denke ich. Spielt aber keine große Rolle! Auf jeden Fall kam er in mein Zimmer, hat mich beschimpft und mit den Fäusten geschlagen, immer und immer wieder. Wo warst du? Wo warst du, als deine Tochter Hilfe nötig gehabt hätte? Du warst nicht da! Du hast meine Rufe ignoriert, um deinen supertollen Lover zu behalten. Du hast weggehört und dafür hab ich dich gehasst. Aber nicht so sehr, wie ich Paul gehasst habe. Es mag Zeiten gegeben haben, in denen er sich um mich gekümmert hat, aber die waren weiß Gott sehr selten. Meistens war er nur das Schwein, das mich schlägt, verachtet und mich nicht in seiner Nähe haben will. Eines Tages ging ich mit Steven ins Kino und da habe ich meinen eigenen Bruder dazu überredet, Paul zu töten. Ich konnte es nicht selbst tun, weil ich davor zu große Angst hatte. Steven aber war ausgezogen, erwachsener als ich und mutiger sowieso. An Thanksgiving haben wir Paul dann das erste Mal verdünnten Abflussreiniger unters Essen gemischt. Er hat es nicht mal gemerkt. Nach ein paar Malen gingen dann seine Atembeschwerden und die Schmerzen los Da begann er auch, Blut zu spucken. Desto mehr ich gesehen habe, wie er leidet, desto mehr Zweifel hatte ich an unserer Aktion. Du musst mir glauben, wenn ich dir sage, dass ich es noch stoppen wollte. Dafür war es aber schon zu spät. Zu dem Zeitpunkt war Pauls Speiseröhre und sein Magen wahrscheinlich schon zu kaputt. An dem Tag, als Paul ins Krankenhaus kam, war Steven bei uns und stellte ihn zur Rede. Er sagte ihm, dass er ihn töten würde oder es schon getan hätte. Paul hat gewinselt. Ja richtig, Mum! Der große Mann, der uns mit sämtlichen harten Gegenständen verprügelt hat, winselte vor Steven. Er sagte, ihm, das er doch sein Daddy wäre. Aber Steven ignorierte es einfach und lachte ihn aus. Als er dann das Haus verließ, rief ich den Notarzt und wir fuhren ins Krankenhaus. Ich wollte es nochmal korrigieren. Das musst du mir glauben. Ich wollte es wieder in Ordnung bringen, aber es war zu spät dafür. Steven hat ihn getötet und ich habe ihn letzten Endes dazu gebracht. Mein Gott, es tut mir so leid, was wir getan haben. Rückgängig machen kann ich es aber leider nicht. Paul ist in einem Zustand, indem sein Körper tot ist, aber seine Seele lebt. Er ist auf der Schwelle zum Jenseits, aber scheinbar kann er erst gehen, wenn ich ihn lasse. Er würde uns alle sowieso nie in Ruhe lassen. Er würde immer weiter und weitermachen. Wahrscheinlich würde er uns sogar in der Klapsmühle besuchen, wenn wir schon vollkommen wahnsinnig geworden sind. Ich bin jetzt auf dem Weg zur Polizei und werde dort gestehen, was ich getan habe. Ich hoffe, dass ich zumindest dadurch dafür sorgen kann, dass dieser Mann, der sich gerne „Daddy“ nannte, seinen Weg über die Schwelle gehen kann. Er wird in die Hölle kommen. Das weiß ich sicher! Aber letztlich geht es doch darum, dass wir wieder ein normales Leben führen können und vielleicht erreiche ich dies dadurch! Ich erwarte nicht, dass du mir verzeihst, was ich getan habe. Ich erwarte einfach nur, dass du es verstehen kannst! Wenn du diesen Brief liest, bin ich wahrscheinlich schon auf dem Revier angekommen und habe den Polizisten bereits erzählt, dass ich Teil eines Mordkomplotts gewesen bin. Es tut mir leid, was ich dir angetan habe. Verurteile uns bitte nicht dafür! Ich weiß nicht, ob Steven gestehen wird. Ich werde es aber tun und der Polizei auch seinen Namen geben. Es muss und soll so sein! Ich liebe dich über alles! Mach dir keine Sorgen um Steven oder mich! Viele Küsse Lucy
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