Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, Bischof Dr. Dr. h.c. Markus Dröge, Predigt am Kirchentagssonntag 24. Januar 2016, Oberkirche Cottbus, Psalm 139,13-18. Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen. Amen. I. Auf dem Heimweg nach dem letzten Theaterbesuch habe ich mich mit meiner Frau noch einmal ausgiebig über das Stück unterhalten. Sie hat mir ihre Eindrücke geschildert; doch je mehr sie erzählte, habe ich gedacht: „Haben wir das gleiche Stück gesehen?“ Ich hatte das ganz anders erlebt. In solchen Momenten wird einem klar, dass Sehen und Wahrnehmen etwas sehr Persönliches und Einzigartiges ist. Sogar wenn wir das gleiche anschauen, sehen wir doch niemals dasselbe. Wir betrachten die Welt immer aus unserer Perspektive. Und die ist sehr individuell geprägt. Von Kindesbeinen an lernen wir die Welt in bestimmter Weise einzuordnen und zu begreifen. Wir lernen meins und deins zu sehen, Freund und Feind, Liebe und Hass, wertvoll und nutzlos, Gott und Welt, Gerechtigkeit und Unrecht. Und so entsteht über die Jahre in uns das Bild einer Welt – ein Weltbild –, das gar nicht mehr anders sein kann als so, wie wir es sehen. Das Sehen schafft sich seine Wirklichkeit: - Die Mutter sieht in ihrem Kind immer die Tochter und nicht die erfolgreiche Managerin. - Wir, heute hier im Gottesdienst versammelt, sehen in einem Kreuz immer mehr als zwei Balken, die einander überschneiden. - Wir sehen aber niemals alles. Nicht einmal an uns selbst; sondern immer nur einen Ausschnitt. - Und manchmal verschließen wir sogar die Augen, und wollen gar nicht alles so genau sehen. So wie Kinder, die sich die Augen zuhalten und meinen, sie wären dann für die anderen nicht mehr da. 1 Wir erleben aber auch die Freude darüber, uns neue Sichtweisen zu erschließen, um dabei zu merken: Die Unterschiede können uns bereichern und den eigenen Blick, die eigenen Sehgewohnheiten und unseren Horizont erweitern. In der Begegnung mit Menschen aus anderen Ländern und Kulturen – heute ganz konkret mit den internationalen Studierenden, die diesen Gottesdienst mitgestalten – können wir dies immer wieder bereichernd erfahren. II. „Du siehst mich“ – so lautet das Kirchentagsmotto für den Deutschen Evangelischen Kirchentag 2017 in Berlin, Potsdam und Wittenberg. Davon erzählt der 139. Psalm: von Gott, der mich und die Welt sieht und ansieht. Nicht in Teilen, nicht bruchstückhaft, so wie wir Menschen sehen, sondern Gott sieht mich und die Welt im Ganzen. Gott behält den Überblick. Diese Erfahrung drückt der Psalmbeter in sehr persönlicher Weise aus. Gott sieht, wie ich geworden bin und was aus mir werden wird. Ich lese aus Psalm 139, die Verse 13 bis 18. Denn du hast meine Nieren bereitet und hast mich gebildet im Mutterleibe. 14 Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke; das erkennt meine Seele. 15 Es war dir mein Gebein nicht verborgen, / als ich im Verborgenen gemacht wurde, als ich gebildet wurde unten in der Erde. 16 Deine Augen sahen mich, als ich noch nicht bereitet war, und alle Tage waren in dein Buch geschrieben, die noch werden sollten und von denen keiner da war. 17 Aber wie schwer sind für mich, Gott, deine Gedanken! Wie ist ihre Summe so groß! 18 Wollte ich sie zählen, so wären sie mehr als der Sand: Am Ende bin ich noch immer bei dir. Der Psalmbeter schreitet seine Welt ab. Ich stelle mir vor, wie er sitzt und dann wieder aufsteht; er legt sich nieder und geht umher, dreht seine Runden im Haus oder draußen vor der Tür. Innerlich schreitet er sein Leben ab, in Gedanken sieht 2 er sich noch vor dem Beginn seines Lebens, als er im Mutterleibe gemacht wurde, bis in die Zukunft hinein und bis zu dem, was einmal in das Buch seines Lebens hineingeschrieben sein wird. „Wo komme ich her – was ist der Sinn meines Daseins – wo gehe ich hin?“ Diese uralten Fragen des Lebens bewegen den Psalmbeter und treiben ihn um. Eine Unruhe ist spürbar, ein Suchen und Fragen. Es kommt mir so vor, als wolle er die Welt vermessen. Als wolle er jeden Ort und Winkel dieser Erde auskundschaften, um es bestätigt zu bekommen: Gott ist schon da. Am Beginn unseres Lebens, schon im Mutterleib, und am Ende unseres Lebens bis in den Tod – „Du, Gott, bist bei uns.“ Und „am Ende bin ich noch immer bei dir“. III. Gott behält den Überblick. Er behält mich im Blick, und meine Welt. Das, was mir bruchstückhaft und vorläufig erscheint, all das, was ich nicht zu überblicken vermag, hält Gott zusammen. Gott schafft eine Verbindung, er sieht zusammen, was mir getrennt erscheint. Das ist der besondere Blick Gottes, der nicht – so wie wir es tun und tun müssen – die Welt teilt und einteilt; nach Nationalitäten oder Ländern; nach Kulturen und Religionen; nach gut und schlecht; gewinnbringend oder wertlos; West und Ost; Nord oder Süd. Gott sieht durch die Trennungen hindurch auf das Ganze. Er sieht hinter Unfrieden und trennenden Konflikten die Möglichkeit auf Versöhnung. Gott sieht den Menschen. Jeden Menschen. Denn jedem Menschen hat Würde verliehen. „Du siehst mich“ – die Losung des Kirchentages 2017 erzählt dazu noch eine ganz besondere Geschichte. „Du siehst mich!“ – das sagt eine junge, schwangere Frau auf der Flucht. Sie hat die Heimat verlassen, weil es dort nicht mehr zum Aushalten war. In einem Engel, der ihr Mut macht, begegnet sie Gott und spricht ihn an: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ – Es ist Hagar, die vor Sarah flieht. 3 Eine Geschichte aus dem Ersten Buch Mose. Aus dieser Geschichte stammt der Losungsvers des Kirchentages 2017. Es ist dieser besondere Blick Gottes auf jeden einzelnen Menschen, der uns ermutigt, nicht nur auf uns selbst zu schauen, sondern Grenzen zu überschreiten; auf andere zuzugehen, uns zu interessieren für die Sichtweisen anderer: Was hat der Mensch neben mir erlebt, erfahren, erlitten, dass er heute so ist, wie er ist und mit einem ganz eigenen Blick die Welt betrachtet? Der besondere Blick Gottes, auf jeden einzelnen Menschen und doch – wie es der Psalmbeter beschreibt – mit dem Überblick über das Ganze, diesen besonderen Blick, das macht der Psalmbeter sehr deutlich, hat nur Gott. Wir bleiben Menschen mit bestimmten Perspektiven. Vorläufig und bruchstückhaft. Und deshalb ist es gut und tut es gut, wenn wir unsere kleinen Perspektiven einbetten in den Horizont Gottes. Das ist die große existenzielle Erkenntnis des Psalmbeters. Gott schaut nicht neutral, so wie ein teilnahmsloser Weltbeobachter es vielleicht tun würde, sondern Gottes Blick ist erfüllt von Liebe. Deshalb kommt in unserem Leben immer beides zusammen: Wir wissen, dass unser eigener Blick sehr begrenzt und vorläufig ist, aber wir wissen auch, dass Gott uns ansieht, liebevoll ansieht. Und was folgt daraus? Demütig sein in der Wahrheit und klar in der Liebe: so könnte man es beschreiben. Vorsichtig sein darin, Wahrheiten zu verbreiten, denn wir sehen ja nur eine Perspektive der Wahrheit. Aber klar darin sein, der Liebe das Wort zu reden. Für das Thema, das unser ganzes Land im Moment so stark bewegt, kann dieser Blick sehr hilfreich sein: Demütig sein in der Wahrheit und klar in der Liebe. Wie soll es gelingen, die Menschen bei uns heimisch zu machen, die in großer Zahl ihre Heimat verlassen haben, weil es sich dort nicht mehr leben ließ, so wie Hagar? Vieles ist noch unklar, und es gibt viele Sichtweisen auf dieses Thema. Sie sind ernst zu nehmen, müssen ins Gespräch gebracht werden. Die Sorgen der 4 Menschen sind zu hören, nicht überheblich abzutun. Aber auf der anderen Seite können und sollen wir doch auch ganz klar sein: in der Liebe zum Nächsten, in der Achtung seiner Würde. Darin müssen und sollen wir kompromisslos sein und in großer Klarheit gegen Gewalt und menschenverachtende Parolen angehen. „Gott sieht mich!“ – Das gilt auch für jede Geflüchtete und jeden Geflüchteten, die und der bei uns eine Heimat sucht. IV. Demütig in der Wahrheit, klar in der Liebe. Das ist die Grundhaltung des Psalmbeters, der sich geborgen weiß in Gott: „Am Ende bin ich noch immer bei dir.“ Das ist für den Psalmbeter der Anker seines Lebens. Weil Gott mich ganz und gar sieht, kann ich nicht aus seiner Liebe herausfallen. Bei ihm kann ich bleiben und sein. Bei Gott kann ich mich sehen lassen, so wie ich eben bin. Ich vertraue darauf, dass noch in den fernsten Fernen Gottes Hand mich führt und hält. Es gibt keinen Winkel dieser Welt, der Gottes Herrschaft entzogen ist, und es gibt auch keine Windung meines Lebenswegs, die der Güte Gottes entzogen wäre. Wo ich ausharre und bleibe, wo ich mich aufmache und wandere, und sogar den Weg meiner Gedanken – um all das weiß Gott. Diese Erfahrung übersteigt immer wieder unser Verstehen – „wie schwer sind für mich, Gott, deine Gedanken! Wie ist ihre Summe so groß“, sagt der Psalm. Nirgends sind wir von Gott verlassen. Aus dem Umkreis seiner Zuwendung fallen wir nicht heraus, wie weit uns unser Weg auch führt. Wie unbekannt die Zukunft auch immer ist: seine Hand führt uns, seine Rechte hält uns fest. V. „Du siehst mich!“ Mit dieser Losung gehen wir nun auf den Kirchentag 2017 zu. Und mit dem Psalm 139 können wir ergänzen: „Du Gott, siehst mich ganz und gar, mit den Augen der Liebe.“ Die Losung soll uns auch jetzt schon begleiten, 5 wenn wir in den Vorbereitungen stecken. Das wird ein spannendes Jahr. Ein Jahr, in dem wir aufeinander sehen wollen! Der Kirchentag 2017 ist nicht nur ein Berliner Kirchentag, mit Außenstelle in Potsdam und Abschluss in Wittenberg. Der Kirchentag nimmt unsere ganze Landeskirche in den Blick. Alle Gemeinden unserer Landeskirche können sich zum Beispiel anmelden zum Abend der Begegnung, dem großen Straßenfest am ersten Abend des Kirchentags, einem Schaufenster sozusagen, in dem wir uns als Gastgeberinnen und Gastgeber präsentieren können. Es gibt auch Tandems, so dass die unterschiedlichen Kirchenkreise und Gemeinde sich gegenseitig unterstützen können. So kommen hoffentlich sehr viele unterschiedliche Perspektiven zusammen. Um mehr vom Ganzen zu sehen. Ich sehe darin die große Chance, dass wir uns als Landeskirche in dieser gemeinsamen Aufgabe noch einmal neu als Gesamtkirche in den Blick nehmen und wahrnehmen können. „Du siehst mich! Von der Prignitz bis nach Görlitz, von der Uckermark bis zur Mittelmark. Du siehst mich. Und wir sehen einander an!“ Aber natürlich blicken wir auch über den Tellerrand hinaus. Der Kirchentag im nächsten Jahr wird international werden, die Welt sieht sich in Berlin, in Potsdam in Wittenberg – und wir können Gastgeber sein. Das ist eine große Aufgabe, aber auch eine große Chance. Wir haben die Gelegenheit, einander wahrzunehmen und neu zu entdecken, dass Gottes Liebe sich nicht begrenzen lässt. Der Kirchentag 2017 wird ein besonderer Kirchentag werden: ein Jubiläumskirchentag in besonders herausfordernden Zeiten. Wir stehen vor der epochalen Aufgabe, Antworten auf die Frage zu finden, was es heißt, gemeinsam in der einen Welt zu leben und einander achtsam in den Blick zu nehmen. Da ist es gut zu wissen, dass Gott uns liebevoll anschaut, jeden einzelnen Menschen, und dass er unseren Blick weitet, auf die eine Welt, in der wir alle unseren Raum zum Leben finden sollen. „Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen“. Amen. 6
© Copyright 2024 ExpyDoc