DIE DRITTE SEITE 3 Der Sonntag · 6. Dezember 2015 Warum jemand Rache übt War es eine geplante oder eine spontane Tat? Im NEUENBURGER MORDPROZESS wird morgen das Urteil verkündet TONI NACHBAR M it einer erwähnenswerten Geste ist der sogenannte Neuenburger Mordprozess diese Woche zu Ende gegangen. Nach 24 Verhandlungstagen und stundenlangen Plädoyers der Anklage und der Verteidigung wird morgen der Vorsitzende Richter der Großen Jugendkammer am Freiburger Landgericht, Stefan Bürgelin, das Urteil verkünden. Mit tränenerstickter Stimme verlas am Mittwochmorgen im Gerichtssaal die Schwester des am 18. Juni 2014 auf einem Parkplatz in Neuenburg getöteten Patrick H. eine Erklärung. Die junge Frau blickte auf die drei Männer auf der Anklagebank und sagte: „Akram Y., Moustapha Y. und Timo P., ihr seid Mörder. Wir hassen euch nicht, aber ihr habt unsere Familie zerstört.“ „Hinterhältig“, so die Nebenklägerin, hätten die Angeklagten ihren 28-jährigen Bruder in eine Falle gelockt und ihn „bestialisch ermordet“. Sie hätten nicht gewollt, dass der vermeintliche Vergewaltiger sich vor einem Gericht verantworten könne, sondern Selbstjustiz geübt. Den Anblick des mit zahlreichen Stichwunden übersäten Leichnams ihres Bruders und Sohnes würden sie und ihre Eltern nie mehr vergessen können. Stunden später – die Anwälte der Angeklagten hatten inzwischen engagierte Plädoyers gehalten – gab Richter Bürgelin den Angeklagten die Gelegenheit zum letzten Wort. Der zur Tatzeit 21-jährige Timo P., dem die Anklage vorwirft, das Opfer Patrick H. „fixiert zu haben“, während ihn Akram Y. erstach, entschuldigte sich nicht nur erneut bei der Familie H., sondern sagte, er wisse, dass er fortan mit einer Schuld lebe, die ihm niemand verzeihen könne. Daraufhin stand die Nebenklägerin auf, lief zur Anklagebank und nahm seine Hand. Was Patrick H.s Schwester zu Timo P. sagte, konnte im Gerichtssaal niemand vernehmen, doch zu sehen war, wie die Szene den Verteidiger des Angeklagten rührte. Vielleicht hat die Frau tatsächlich gesagt, nun könne sie verzeihen. ANZEIGE Günterstalstraße 29 D-79102 Freiburg Tel.: 0761 - 7 27 78 www.hirschle-moebel.de Natürlich Einrichten mit System Die Frage, welche Strafe Timo P. verdient, dürfte die fünfköpfige Kammer vor ein kniffliges Problem stellen. Für Oberstaatsanwalt Eckart Berger hat der junge Elektriker gemeinschaftlich mit dem minderjährigen Akram Y. und dem zur Tatzeit 48-jährigen Moustapha Y. das Opfer heimtückisch ermordet und muss dafür mit einer lebenslangen Haftstrafe büßen. Mit der Tat sollen sie zu rächen versucht haben, dass Patrick H. angeblich am 12. Juni 2014 eine Tochter des Moustapha Y. und Schwester des Akram Y. vergewaltigt hatte. Timo P.s Verteidiger, Rechtsanwalt Thomas Häfner, forderte das Gericht auf, seinen Mandanten nur wegen „Körperverletzung mit Todesfolge“ zu bestrafen: Timo P. sei bis zum 18. Juni 2014 ein „extrem friedfertiger und hilfsbereiter“ junger Mann gewesen, auf den seine Eltern stolz sein könnten. Zur unauffälligen Biografie gehörten nicht nur eine erfolgreiche Berufsausbildung, sondern auch der Besitz eines neuen Autos, der Einzug in eine eigene Wohnung sowie eine Liebesbeziehung zu einer Gleichaltrigen. Wer dies alles in seinem jungen Leben besäße, so Häfner, sei nicht bereit, es für eine Straftat zu opfern: Timo P. habe mitgemacht, weil er davon ausging, der vermeintliche Vergewaltiger Patrick H. hätte eine „Abreibung“ verdient und sei danach der Polizei zu übergeben. In Richtung Ankläger sagte Häfner: „Die Staatsanwaltschaft benutzt bei ihrer Argumentation nur Passagen der Vernehmungen von Timo, die ihn belasten, und bezeichnet Passagen, die ihn entlasten, als Lügen.“ Mord und lebenslang auf der einen und Körperverletzung und überschaubare Freiheitsstrafen auf der anderen Seite – mit harten Bandagen wurde im Freiburger Landgericht gefochten: „Herr Oberstaatsanwalt, Sie haben das Gericht mit Vorurteilen, besser: Vorverurteilungen und Spekulationen, überschüttet, dass einem angst und bange werden konnte“, sagte der Verteidiger von Moustapha Y., Rechtsanwalt Klaus Malek. Akram Y., zur Tatzeit erst 17 Jahre alt, bat den Richter, „niemand zu bestrafen für eine Dummheit“, die ausschließlich er begangen habe. Der Müllheimer Schüler, der einige Zeit im Heimatland seiner Eltern, dem Libanon, verbracht hat, hatte laut einer seiner Lehrerinnen Wochen vor der Tat und der vermeintlichen Vergewaltigung seiner Schwester im Unterricht behauptet, Unrecht an der Familie sei mit einer Gewalttat zu rächen, denn nur so sei deren Ehre wiederherzustellen. – Umstrittener Begriff „Ehrenmord“ – Im Neuenburger Mordprozess ist diese Aussage für die Anklage sowie die Verteidigung zu einem wichtigen Argumentationspunkt geworden. Für Staatsanwalt Berger verrät sie den „kulturellen Hinter- grund“, wieso Patrick H. sterben musste. Die Famile Y. habe sich entschlossen, den Menschen zu töten, der ihrer Angehörigen ein großes Leid zugefügt habe – schließlich gehe es um die „Familienehre“. Für die Tat auserkoren worden sei der minderjährige Bruder, dessen Alter ihn vor der Höchststrafe bei Mord schützen würde. Der Vater, Moustapha Y., hingegen sei bewusst in den Hintergrund gedrängt worden, um als etwaiger entscheidender Anstifter nicht in Erscheinung zu treten. Diese Argumentation der Anklage versuchte Moustapha Y.s Verteidiger Malek zu widerlegen. Sein Mandant habe seinen Sohn nicht zu einer Tat anstiften können, zu der dieser im Vorhinein schon bereit gewesen war. Ein zentrales Element der Verteidigungsargumentation aber ist die Anwesenheit des Vaters am Tatort. Hätte er komplett aus der „Schusslinie“ genommen werden sollen, wäre er dort nie erschienen und nur der Sohn hätte die Sache mit Patrick H. ausgefochten – unterstützt eventuell von seinem Freund, dem Mitangeklagten Timo P., der wiederum nur mit einer „Abreibung“ für Patrick H. gerechnet hätte. Diese von ihm erwartete Verteidigungsstrategie hatte Oberstaatsanwalt Berger bereits in seinem Plädoyer zu attackieren versucht. Mit dem Hinweis, es sei offensichtlich, dass Moustapha Y. und Timo P. sich hinter beim Anblick des Patrick H. ausrastenden Akram Y. verstecken wollten, für den die Anklage nur eine Haftstrafe von acht Jahren fordern könne. In einer ersten Vernehmung bei der Kriminalpolizei hatte Akram Y. gesagt: „Es hat gut getan, es hat Spaß gemacht, hoffentlich ist er tot.“ Später, als man ihm in seiner Untersuchungshaftzelle mitgeteilt hat, Patrick H. sei tatsächlich tot, sei er schockiert gewesen. Ein KripoBeamter soll als Zeuge vor Gericht ausgesagt haben: „Er istvon seiner eingenommenen Haltung von zwei Meter Größe auf einen Meter zusammengesackt.“ Für seinen Rechtsanwalt Sebastian Glathe ist dies ein Hinweis dafür, dass Akram Y. von dem Augenblick an, an dem er von der vermeintlichen Vergewaltigung seiner Schwester erfuhr, bis zum Zeitpunkt der Tat in Neuenburg in einer „Parallelrealität“ gelebt habe. In dieser sei er beseelt von Rachegedanken gewesen. Dies sei psychologisch, aber nicht kulturell erklärbar. Das passiv Erlittene soll Akram Y. durch aktives Handeln zu bewältigen versucht haben. Dafür müsse man nicht religiös sein, solche Gefühle, so Glathe, könne jeder Mitteleuropäer empfinden. Damit schloss sich der Kreis zur Argumentationslinie des Verteidigers des Vaters. Stets hatte Rechtsanwalt Malek versucht herauszuarbeiten, die Familie sei nicht religiös, eine Erklärung der Tat durch einen „Ehrenmord“ scheide aus. Vielmehr sei die Angelegenheit in Neuenburg eskaliert, als Akram und Moustapha Y. keinen Zweifel mehr verspürten, den Vergewaltiger ihrer Schwester und Tochter vor sich zu haben. So wirft nun Glathe der Anklage einen Zirkelschluss vor: „Man geht vom Tatgeschehen aus und legt sich die Details zurecht.“ qu-int.com RBeratungsgespräch im Gerichtssaal: Rechtsanwalt Sebastian Glathe (links) und sein Mandant, der Angeklagte Akram Y. FOTO: SALZER-DECKERT 19. DEZEMBER BIS 5. JANUAR Täglich 15 und 19 Uhr, Messe Freiburg Spielfrei vom 21. bis 24. Dezember sowie am 1. Januar Ermäßigungen für BZ Card-Inhaber 10 % auf alle Plätze bei allen Vorstellungen (max. 2 Karten pro BZ Card, gilt nicht für Silvestergala) 20 % bei der BZ-Sondervorstellung am 3. Januar, um 15 Uhr. Die Vorverkauf Büro Circolo, Tel. 0 76 41 / 9 33 55 55, www.circolo-freiburg.de beim Kartenservice der Badischen Zeitung, Tel. 07 61 / 4 96 88 88 in allen Geschäftsstellen der BZ, www.freiburg-tickets.de Circolo-Kasse, ab 8.12., tägl. 10 – 19 Uhr beim Zelt, Tel. 07 61 / 6 12 91 10 Ge sc he nk ide e!
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