Umgang der Justiz mit rassistischen Straftaten gehalten am 4. November 2015 im Bundeskanzleramt bei der Veranstaltung anlässlich des Jahrestages der Aufdeckung der NSU-Mordserie „Was hat sich verändert?“ http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/IB/Artikel/Allgemein/2015-10-04-nsuveranstaltung.html;jsessionid=BD395D6603BF7E762B39FB174048C6BF.s1t1 Dr. Hendrik Cremer Sehr geehrte Frau Staatsministerin, sehr geehrte Damen und Herren, als erstes möchte ich mich für die Einladung bedanken, hier heute sprechen zu dürfen. I. Frau Professor John hat es bereits angesprochen: Der Schutz vor Rassismus ist menschenrechtlich verbrieft, die Opfer rassistischer Gewalt gehören aus menschenrechtlicher Perspektive in den Mittelpunkt. Sie haben ein Recht auf Aufklärung und Entschädigung. Hierzu möchte ich einleitend auch an die Rede der Bundeskanzlerin erinnern, die sie bei dem Staatsakt für die Opfer rechtsextremistischer Gewalt am 23. Februar 2012 in Berlin gehalten hat. In der sie deutlich gemacht hat: die Notwendigkeit, Rassismus zu bekämpfen, ergibt sich aus dem grund- und menschenrechtlichen Auftrag, die Würde jedes einzelnen Menschen zu schützen. Sie hat daran erinnert, dass es die Werte des Grundgesetzes als Fundament unserer Gesellschaftsordnung verletzt, wenn Menschen in unserem Land ausgegrenzt, bedroht, verfolgt werden. Der Kampf gegen Rassismus – dies haben auch die Europarats-Kommission gegen rassistische Diskriminierung, der UN-Ausschuss gegen rassistische Diskriminierung und der Menschenrechtskommissar des Europarats in ihren jüngsten Berichten über Deutschland hervorgehoben, kann nur gelingen, wenn die deutschen Behörden und politischen Führungskräfte alle Arten von Hassrede und Hassverbrechen nachdrücklich und eindeutig verurteilen, und sich aller Rhetorik enthalten, die Vorurteile schüren, die Menschen stigmatisieren. Wer hingegen in diesem Land lebende Minderheiten oder Flüchtlinge zu einer Bedrohung, zu einer Gefahr umdefiniert, bedient Argumentationsmuster, die sich auch bei rassistisch motivierten Gewalttätern finden: Täter, die sich in einer Art Notwehrsituation sehen und deswegen andere Menschen ohne Anlass angreifen, ihre Unterkünfte und Wohnungen in Brand setzen, sie ermorden. II. Der NSU-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages hat in seinem Abschlussbericht hervorgehoben, dass Gleichgültigkeit von Justiz und Polizei gegenüber rassistischer Gewalt dazu beiträgt, dass Radikalisierung und das Ausmaß rassistischer 1 Gewalt weiter zunimmt. Kommt es, wie in den frühen 1990er Jahren zu einer Welle rassistischer Gewalttaten insbesondere gegen Flüchtlinge und Migranten, ohne dass Justiz und Polizei wirksam auf Seiten der Opfer eingreifen und effektiv und erkennbar gegen die Täterinnen und Täter vorgehen, werden auch potentielle Nachahmer und Sympathisanten dadurch ermutigt und bestätigt. III. Hat sich der Umgang der Justiz mit rassistischen Straftaten verändert? Angesichts der gegenwärtigen Situation in diesem Land, in der rassistische Gewalt und Hetze abermals auf dramatische Weise zunehmen, kann diese Fragestellung kaum dringender, kaum aktueller sein. In der Beantwortung dieser Fragestellung möchte ich zunächst hervorheben: Deutschland ist menschenrechtlich dazu verpflichtet, rassistisch motivierte Straftaten effektiv zu verfolgen und sicherzustellen, dass Polizei und Justiz nicht diskriminierend handeln. Wir begrüßen daher auch die Änderung von § 46 Strafgesetzbuch, indem er nun explizit die Berücksichtigung rassistischer Beweggründe im Rahmen der Strafzumessung vorschreibt. Diese Änderung des Gesetzes allein kann aber keine ausreichende Wirkung erzeugen. So werden auch immer wieder Fälle bekannt, in denen Staatsanwaltschaft und Gerichte den rassistischen Kontext von Taten nicht ausreichend erfassen. Erforderlich sind daher Maßnahmen für eine gezielte Qualifizierung von Staatsanwaltschaft und Richterschaft mit Blick auf Rassismus und Menschenrechte, um ein besseres Verständnis des Phänomens rassistischer Diskriminierung zu erreichen. Auf diese Notwendigkeit weisen auch jüngste Empfehlungen internationaler und europäischer Menschenrechtsgremien an Deutschland hin. Ein grundsätzliches Defizit bei der Bekämpfung von Rassismus in Deutschland besteht darin, dass Rassismus in Deutschland zu eng verstanden wird. Rassismus wird häufig mit organisiertem Rechtsextremismus gleichgesetzt. Dieses enge Verständnis basiert auf der Fehleinschätzung, dass Rassismus nur ein Phänomen in rechtsextremen Milieus sei, nicht aber in der gesamten Gesellschaft. Bei der Beurteilung einer Straftat durch die Justiz werden rassistische Motive daher oftmals nur dann angenommen, wenn sich Hinweise dafür finden, dass der Täter oder die Täterin Verbindungen zu rechtsextremen Organisationen hat. Auseinandersetzungen mit der Frage, ob eine Straftat als rassistisch einzuordnen ist, lassen sich eher selten finden. Eine etablierte Spruchpraxis zum Verständnis von rassistisch motivierten Straftaten existiert nicht. Internationale und europäische Menschenrechtsgremien der UN und des Europarates empfehlen Deutschland daher bereits seit Jahren, den Ansatz in der Bekämpfung von Rassismus auszuweiten und die bestehende Gesetzgebung und Praxis im Bereich der Strafverfolgung rassistischer Straftaten zu überprüfen. Beispielhaft sei hierzu ein aktueller Fall erwähnt, über den im Oktober auch in den Medien berichtet wurde, und der das grundsätzliche Defizit beim Schutz vor Rassismus in Deutschland sehr deutlich macht: In dem Fall haben zwei Männer, einer war bei der Feuerwehr tätig, im sauerländischen Altena ein Haus angezündet, weil darin syrische Flüchtlinge lebten. Staatsanwaltschaft und Polizei haben die Tat anschließend in öffentlichen Stellungnahmen verharmlost. So haben sie hervorgehoben, dass die Täter nicht rechtsradikal seien. Der Staatsanwalt wurde wie folgt zitiert: „Hintergrund ist eine persönliche Überzeugung, keine politische“. 2 Solche Ausführungen seitens der Justiz gehen nicht nur an Sache vorbei, sie sind fatal. Sie besagen nämlich, dass Rassismus Privatsache sei, auch wenn er sich in Form von Gewalt gegen Menschen richtet. IV. Abschließend komme ich nun zu vier Empfehlungen, damit Deutschland seiner menschenrechtlichen Verpflichtung, rassistisch motivierte Straftaten zu verfolgen, effektiver nachkommt. 1. Zur Umsetzung der Empfehlung Nr. 1 des Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestags sollte die neu aufgenommene Ermittlungspflicht hinsichtlich rassistischer oder sonstiger menschenverachtender Beweggründe in den Richtlinien für das Straf- und das Bußgeldverfahren (RiStBV) präzisiert werden. Nach der Empfehlung Nr. 1 muss grundsätzlich in allen Fällen von Gewaltkriminalität, die wegen der Person des Opfers einen rassistisch motivierten Hintergrund haben könnten, eingehend geprüft und dokumentiert werden, ob ein solcher vorliegt. Ein vom Opfer oder Zeugen angegebenes Motiv für die Tat muss von der Polizei beziehungsweise der Staatsanwaltschaft verpflichtend aufgenommen und angemessen berücksichtigt werden. 2. Bei den Staatsanwaltschaften sollten Sonderzuständigkeiten für rassistisch motivierte Straftaten eingerichtet werden. Die Abteilungen beziehungsweise Dezernate sollten dann zuständig sein, sobald es Hinweise dafür gibt, dass eine Straftat rassistisch motiviert sein könnte. 3. Flankierend zu den Änderungen auf gesetzlicher und untergesetzlicher Ebene sollten Qualifizierungsmaßnahmen im Bereich der Aus- und Fortbildung auf den Weg gebracht werden, damit vorurteilsfrei ermittelt und rassistisch motivierte Taten durch die Justiz besser erkannt und adäquat bearbeitet werden. Bei der Staatsanwaltschaft sollten primär Staatsanwältinnen und Staatsanwälte qualifiziert werden, die im Rahmen einzurichtender Sonderzuständigkeiten tätig sind. 4. Das statistische polizeiliche und justizielle Erfassungssystem sollte so überarbeitet werden, dass alle Taten mit rassistischer Tatmotivation erfasst werden und eine die Bereiche Polizei und Justiz übergreifende Verlaufsstatistik eingerichtet wird, so dass die Statistiken hinsichtlich der Verfahrensabläufe aussagekräftig werden. Dies würde nicht nur der Empfehlung Nr. 4 des Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestags entsprechen, sondern ebenso dem allgemeinen Vorhaben der Regierung, die sich im Koalitionsvertrag verpflichtet hat, die Kriminal- und Rechtspflegestatistiken aussagekräftiger zu gestalten. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. 3
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