Living backwards 1895 schreibt Hofmannsthal „Das Märchen der 672. Nacht“. Kein Mensch weiß, warum “672”. Am plausibelsten scheint mir die Theorie, dass es an den Zischlauten liegt: 672 versammelt all diejenigen Zahlen zwischen 1 und 10, die mit Zischlaut beginnen. Zischlaute tragen keine Bedeutung, aber sie können deshalb umso signifikanter, verheißender, bedrohlicher werden: Die Schlange im Paradies, die durch ihr Zischeln zum Wissenwollen anstiftet, und so die ersten Menschen aus ihrem selbstgenügsamen, paradiesischen Dasein vertreibt. Hofmannsthals „Märchen“ jedoch scheint sich fast lautlos abzuspielen, es gibt keine Schlange, kein Zischeln, überhaupt kaum Geräusche außer dem gelegentlichen Klirren von Münzen. Die Erzählung handelt von einem jungen „Kaufmannssohn, der sehr schön war und weder Vater noch Mutter hatte“, und der sich, kraft des ererbten Reichtums, eingerichtet hat in einer luxuriös ausgestatten, nach außen hermetisch abgeriegelten Welt. Vom gesellschaftlichen Leben hat sich der Kaufmannssohn in schöner Resignation zurückgezogen; allein mit seinen vier Dienern bewohnt er ein Reich aus kostbaren Möbeln und Dingen, die zu betrachten, durch seinen Blick zu beseelen, seine Tage ausfüllt. „Allmählich wurde er sehend dafür, wie alle Formen und Farben der Welt in seinen Geräten lebten. Er erkannte in den Ornamenten ein verzaubertes Bild der verschlungenen Wunder der Welt. Er fand die Formen der Tiere und die Formen der Blumen und das Übergehen der Blumen in die Tiere; die Delphine, die Löwen und die Tulpen, die Perlen und der Akanthus“. In diesem künstlichen Paradies fließen die Wasser „nach aufwärts und wiederum nach abwärts“ und koinzidieren „das Tanzen und das Totsein“; die diesseitigen Naturgesetze und die Ordnung der Zeit scheinen aufgehoben. In den Schlangenlinien der Ornamente findet das Leben seine höhere, durch und durch artifizielle Form, das weder Tod noch Vergängnis fürchten muss. Es ist ein übernatürliches Leben von berauschender Schönheit und Langeweile, und zugleich ein totes Leben, das auf dem abgelegten Erbe der Vergangenheit II aufruht. In der Mitte von Hofmannsthals „Märchen“ wird der Held von einem anonymen Brief erreicht. Dieser Brief führt eine Art initialen Sündenfall in die Erzählung ein, er berichtet von einem „Verbrechen“ in der Vergangenheit, das mit einem der angestellten Diener zu tun habe. Wir erfahren nicht, was es mit diesem Verbrechen auf sich hat. Selbst der Held der Erzählung erfährt es nicht, aus den Schriftzügen des Briefes nämlich „war nicht zu erraten, welches Verbrechen angedeutet werde und welchen Zweck überhaupt“ dieser Brief verfolgen könnte. Nicht eine Botschaft erreicht den Kaufmannssohn; schlimmer: Er erkennt sich als Adressat des Briefes, ohne zu wissen, was er bedeutet; er tritt aus seiner Welt heraus und findet schließlich den Tod. Nach Nietzsches blasphemischer Auskunft, knapp 10 Jahre vor Hofmannsthals “Märchen“ veröffentlicht, war es niemand anders als Gott selbst, der „sich als Schlange am Ende seines Tagewerks unter den Baum der Erkenntnis legte“, denn er musste sich erholen. Am siebten Tage brauchte Gott Erholung, nicht, weil er von der Schöpfung erschöpft war, sondern weil sie ihn bereits jetzt langweilte. Gott wurde Schlange und „erholte sich so davon, Gott zu sein... Er hatte alles zu schön gemacht...“. In the garden that is you Solange Hofmannsthals Held in seiner Kunstwelt lebt, macht er sich einerseits zum Zuschauer des artifiziellen Lebens, das er seinen ererbten Gütern einhaucht. Zugleich treibt ihn der Gedanke um, dass er selbst eigentlich gar nicht wirklich lebe, dass vielmehr seine Diener, die er wiederum als die aufmerksamen Betrachter seiner selbst weiß, alles Leben von ihm abziehen: Naturhaft-schwerfällig, wie sie sind, scheinen sie einer anderen Welt anzugehören und doch das Substrat seiner eigenen abzugeben; als pflanzenhafte Wesen sind sie Teil seines übernatürlichmorbiden Universums. Der Mensch als Pflanze, so Hofmannsthal an anderer III Stelle, vegetiert, langweilt sich und stirbt ab. Nicht so der Mensch, der als Betrachter über diese gartenhafte Welt regiert, der – so noch einmal Hofmannsthal – das eigene Innere „in der seltsamsten Weise mit einer Landschaft verflochten“ sieht, mit einem „Draußen“, das das eigene Dasein „zum geometrischen Ort fremder Geschicke“ macht. Im „Märchen“ ist es die anonyme Schickung, die den Helden aus seinem Paradies vertreibt und ins Außen schickt. Sein Schicksal ist nicht das vegetabile Absterben, sondern ein wahrhaft tragisches Zugrundegehen, vollzogen in der verräumlichten Struktur einer Stadtwanderung, die durch trostlose Vorstadtgebiete in einen nach-biblischen Garten der Erkenntnis, und von hier aus schließlich auf einen verlassenen Hinterhof führt, an dem der Held durch ein hässliches Pferd zu Tode kommt. The snow comes like a breath Der ominöse Brief trifft ein, und der Held zieht aus, das Fürchten zu lernen. Er verlässt den Rahmen, den sein Haus und das Viereck seiner Diener sonst so zuverlässig um ihn herum spannt, um sich in die Stadt zu begeben und die geheimnisvolle Botschaft des Briefes zu enträtseln. Doch der Brief enthält keine Botschaft und keine Geschichte, er hat buchstäblich nicht mehr zu sagen, als dass er seinen Adressaten adressiert und ihn veranlasst, der Sache auf den Grund zu gehen und so gewissermaßen selbst die unbekannte Botschaft zu schreiben. Nicht wissend, wen oder was er eigentlich zu suchen hätte, gerät der Kaufmannssohn in der Stadt notwendigerweise auf Abwege – wie sollten diese auch von einem richtigen Weg unterscheidbar sein –; die ihn in immer unwirtlichere, verfallenere Gegenden führen. Der Kaufmannssohn gelangt schließlich in einen ärmlichen Juweliersladen und von dort wiederum in einen Garten, ganz so, als hätte sein Weg zwangsläufig hier münden müssen. Zwar wird der Kaufmannssohn, kaum hat er den schäbigen Schmuckladen betreten, von einer seltsamen Unruhe erfasst, IV die ihn zurück auf die offene Straße drängt. Dann aber fällt sein zerstreuter Blick auf billigen Schmuck oder Zierrat, der ihn an seine Dienerinnen denken lässt, er versinkt in Erinnerungen und bleibt, um die Gegenstände zu kaufen und sich weitere zeigen zu lassen. Während der Juwelier ihn derart von einem stickigen Zimmer in das nächste, noch stickigere führt, bewegt sich der Kaufmannssohn fast traumwandelnd vorwärts durch die verschachtelten Räume und dabei zugleich rückwärts in der Zeit; geleitet von Erinnerungsspuren, die wie zufällig seinen Weg vorantreiben. But it may be the constellation Noch im Schmuckgeschäft, entdeckt der Kaufmannssohn schließlich ein Gitterfenster, durch das ein kleiner, scheinbar freundlicher Garten erkennbar wird. Und so führt der Weg nicht hinaus, sondern weiter hinein in die einmal eingschlagene Bahn, die gleichwohl nicht vorgegeben ist, sondern ihre eigene, konsequente Struktur erst nach und nach aufbaut. Natürlich wartet in dem Garten mit seinen Treibhäusern keine Erlösung. Der Held trifft zunächst auf eine exotisch anmutende Blumenpracht, und als kurz darauf, fast unbemerkt, die Nacht über die Szene hereingebrochen ist, bemerkt er mit Entsetzen die Anwesenheit eines Kindes, das ihn wie ein Phantom aus der Vergangenheit bedrohlich anstarrt. Mit den Münzen, die der Kaufmannssohn ihm zum Zweck der Besänftigung hinwirft, ist nicht viel gewonnen; eilig und angstvoll verlässt er den Garten, der Rest ist Geschichte. That shows us where we are Alexandra heimes
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