Prof. Dr. Anke Grotlüschen Universität Hamburg Prof. Dr. Anke Grotlüschen Ihr Interesse? Möchten Sie erfahren, wie man Interesse bei Anderen wecken kann? Möchten Sie nachvollziehen, wie Ihre Interessen entstanden sind? Prof. Dr. Anke Grotlüschen Aufbau 1. Erstaunliches - Thesen 2. Historie : Interesse als Zustand 3. Theorie: Interesse als Relation und Spiel 4. Empirie: Interessegenese bei Studierenden 5. Ergebnis: Theorie der Interessegenese 6. Fazit: Erstaunliches? 3 Prof. Dr. Anke Grotlüschen 1. Erstaunliches - Thesen Interessen sind erstaunlich abhängig von unserer sachlich-sozialen Welt und entstehen nicht „von innen heraus“. Sie werden als selbstbestimmt etikettiert, entstehen aber nicht von selbst. Interessen kann man nicht so schnell „wecken“, denn sie sind träge. Die Anfänge sind erstaunlich anders, als wir erwarten würden. Interessen „sind“ nicht, sondern sie werden und vergehen. Das lässt sich in Phasen unterteilen. Prof. Dr. Anke Grotlüschen 2. Historie: Interesse als Zustand Prof. Dr. Anke Grotlüschen Gertrud Hermes, Tübingen 1926 Prof. Dr. Anke Grotlüschen Reinhard Buchwald Tübingen 1934 Prof. Dr. Anke Grotlüschen Adressaten- und Milieuforschung zu Weiterbildungsverhalten und -interessen Lernmotivation und Bildungsbeteiligung Bildung und gesellschaftliches Bewusstsein Barz/Tippelt 2004 Siebert 2006 Strzelewicz, Raapke, Schulenberg Stuttgart 1966 8 Prof. Dr. Anke Grotlüschen Zwischenfazit Erhoben wird bisher, wie hoch das Interesse von Erwachsenen an diesen oder jenen Themenkategorien ist. Die Entstehung und Verlauf von Interessen bleibt offen. 9 Prof. Dr. Anke Grotlüschen 3. Theorie: Interesse als Relation und Spiel Prof. Dr. Anke Grotlüschen Von uns wird (..) behauptet, dass ich von meinem Standpunkt aus nicht ‚begründet‘ gegen meine eigenen Interessen (wie ich sie wahrnehme) handeln kann (Holzkamp 1993, S. 26) Klaus Holzkamp “Interest is personal; it signifies a direct concern, a recognition of something at stake, something whose outcome is important for the individual” (Dewey 1913, S. 16). Darwin: Origin of Species: 1859 John Dewey Pierre Bourdieu „Ein Interesse haben heißt, einem bestimmten sozialen Spiel zugestehen, dass das, was in ihm geschieht, einen Sinn hat, und dass das, was bei ihm auf dem Spiel steht, wichtig und erstrebenswert ist.“ (Bourdieu/ Wacquant 1996, S. 148) Prof. Dr. Anke Grotlüschen Axiome des Interessebegriffs (Grotlüschens Lesart) John Dewey (1913, 1916): Interesse als Prozess (nicht statisch!), inter-esse zwischen Person und Gegenstand (nicht Motivation!) Pierre Bourdieu (1987, 1996): Interesse als Soziales Spiel (nicht individuell!) Klaus Holzkamp (1993): Interesse als a priori für Lernen (Interesse ist das relevanteste Einflussmoment für Lernen, nicht etwa Begabung oder Intelligenz!) Prof. Dr. Anke Grotlüschen 4. Empirie: Zugriff und Auswertung Qualitative „Kurzerzählungen“ n=85, Dauer 30 Min. + Nachbearbeitung Autor/inn/en: Studierende in pädagogischen Fächern Auswertung: Grounded Theory Software: MaxQDA 13 Prof. Dr. Anke Grotlüschen [58] Menschen,[30] Filme drehen, [35] Möbeldesign, [45] Königin Elizabeth I, [49] Literatur, [27] Hunde, [64] Naturwissenschaften, [21] Fotografie, [77] Freud, [07] Kunst, [70] Psychologie Gesundheit, [69] Philosophie, [86] Tierheilkunde, [72] Reisen, [55] Literatur, [14] Bücher, [23] Gewalt, [16] Das Mittelalter, [18] Ernährung (Verbraucherschutz), [19] Ernährung (medizinisch), [24] Gitarre spielen, [34] Mini Playback Show und Orchester, [43] Klavier spielen, [46] Saxophon, [56] vom Radio zum E-Bass, [63] Gesang, [51] Lehrer u. Psychologie, [11] Beruf der Grundschullehrerin, [12] Berufsziel Grundschullehrerin, [26] Beruf der Grundschullehrerin, [41] Umgang mit Kindern, [74] Sachunterricht, [75] Sachunterricht 2, [04] Lehrerin, [36] Lehrer, [68] Personal und Organisationsentwicklung, [62] Motivation, [02] Kinder mit Migrationshintergrund, [10] Arbeit mit behinderten Menschen, [42] Kinder und Literatur, [22] Frühkindliche Bildung, [03] Alphabetisierung, [79] Sozial benachteiligte Kinder, [59] Erziehung u. frühkindliche Entwicklung, [47] Kinder, [54] Integration behinderter Kinder, [57] Arbeit mit beeinträchtigten und behinderten Kindern, [44] Kommunikation Schüler, [66] Arbeit mit Kindern, [65] Nichtmuttersprachler, ausländische Kinder!, [81] Sport mit Kindern, [71] gewerkschaftliche Bildung, [09] Arbeit mit behinderten Kindern, [87] Beziehungsvermeidungsstrategen, [38] Interkulturelle Pädagogik, [60] Migration Integration, [89] Sportliche Aktivität, [05] Reiten, [50] Mannschaftssportarten, [06] Reitsport, [61] Sport, [67] Joggen, [73] Reiten, [80] Sport, [37] Tanzen, [88] Voltigieren Volleyball, [31] Fußball, [90] Sport, [85] Tennis, [48] Fußball, [13] Bowling, [15] Tennis, [20] Fitnesstraining, [25] Handball,[28] Ballett, [29] Trampolin, [52] Jonglieren, [53] Pferde, [17] Englisch, [82] Sprachen lernen, [83] Sprachen und Literatur, [91] Sprachen Spanisch, [78] Skandinavien-Sprachen, [76] Schreiben, Sprachen, Reisen 14 Prof. Dr. Anke Grotlüschen Frage an Sie: Wenn Sie an eines Ihrer Interessengebiete denken: Wie kam es zu Ihrem Interesse? War Ihr erster Reflex zufällig „ach, das war schon immer“? (Kontinuitätszuschreibung) Und war der zweite Reflex: „Das kam eigentlich von mir“? (Selbstzuschreibung) Prof. Dr. Anke Grotlüschen Selbstbestimmt? Prof. Dr. Anke Grotlüschen …meine Interessen lagen schon von klein auf eher im naturwissenschaftlichen Bereich (64-2). Seit ich denken kann spielt Kunst für mich eine große Rolle (7-2). Mein Interesse gilt der Tierheilkunde und – psychologie. [...] Seit ich denken kann haben wir Hunde, Pferde und Kleintiere gehabt (86-2). Außerdem hat meine Mutter so weit ich zurückdenken kann immer (…) musiziert. So hatte ich also schon damals relativ viel Kontakt zur Musik (56-3). Prof. Dr. Anke Grotlüschen Für Musik interessiere ich mich schon so lange ich denken kann (63-2). Schon so lange ich denken kann, hat es mir immer Spaß bereitet mich mit Kindern zu beschäftigen (57-3). Ich war gerade ein paar Tage alt, da hat meine Mutter mich schon mit in den Reitstall genommen. Solange ich denken kann, bestand also immer eine Beziehung zu Pferden (73-2). Seit ich denken kann interessiere ich mich für Sport in jeglicher Hinsicht (80-2). Prof. Dr. Anke Grotlüschen Ich hege schon seit jeher ein Interesse für die Fotografie (21-2) Die Arbeit mit Kindern hat mir schon immer sehr viel Spaß gemacht (22-2). Der Beruf der Grundschullehrerin ist und war schon immer der einzige der mich wirklich interessiert. Allerdings ist dieses Interesse nicht plötzlich aus mir heraus gekommen, sondern hat sich vielmehr über Jahre durch verschiedenste positive Erfahrungen bezüglich pädagogischer Arbeit manifestiert (26-2). Prof. Dr. Anke Grotlüschen Da meine Eltern beide schon immer berufstätig waren, habe ich mich schon früh viel mit meinen jüngeren Geschwistern beschäftigt (12-2). … als Älteste schon relativ früh etwas Verantwortung für meinen Bruder und meine Schwester übernehmen musste. Ich wusste schon früh, dass ich später beruflich etwas mit Menschen machen wollte (41-1). So bin ich schon früh in dieses Berufsfeld eingeführt worden (42-3). Prof. Dr. Anke Grotlüschen Mein Interesse an frühkindlichen Entwicklungen und an Erziehung begann schon früh (59-2). Schon früh erkannte ich meinen starken Bezug zu Kindern (47-2). Mein Interesse am Schreiben entwickelte sich schon recht früh... Ich konnte es kaum erwarten, endlich schreiben zu lernen und somit meiner Sprache auf diese Weise Ausdruck zu verleihen (76-3). Ähnlich: 81-4, 18-4, 49-2 Prof. Dr. Anke Grotlüschen …aber nicht von selbst! 22 Prof. Dr. Anke Grotlüschen „Das Interesse, das ich behinderten Kindern entgegenbringe, kam von mir alleine. [...] Ich bin froh, ein FSJ in diesem Bereich absolviert zu haben, denn dadurch wurde ein neues Interesse in mir geweckt, das ich auch zum Beruf machen möchte“ (9-4). 23 Prof. Dr. Anke Grotlüschen „Das Interesse entstand durch Beobachtungen und aus Gesprächen mit eigenen Freunden. Die Themenwahl liegt also an mir“ (87-12). 24 Prof. Dr. Anke Grotlüschen Kontinuitäts- und Selbstzuschreibung Interesse wird als langfristig verstanden (Kontinuitätszuschreibung) Obwohl nicht immer sicher ist, ob wir „schon immer“ tolle Turner, Tänzer, Theoretiker waren, sondern wir uns im Rückblick vielleicht spezifisch erinnern Interesse wird als selbstbestimmt verstanden (Selbstzuschreibung) Obwohl die Selbstbestimmung weder in der Wahl der Themen noch in der Chance des Ausstiegs wirklich gegeben ist Prof. Dr. Anke Grotlüschen Die Wahl der Themen bedarf der Berührung. Anfängliche Berührungen sind erstaunlich anders, als wir erwarten würden 26 Prof. Dr. Anke Grotlüschen Volleyball „Entstanden ist dieses Interesse im Alter von ca. 14 Jahren, durch eine Fernsehsendung (klingt banal, war aber so), in der Volleyball den Mittelpunkt darstellte. Gefestigt wurde mein Interesse durch das Angebot einer Volleyball-AG an meiner Schule“ Student/in, 25 Jahre Prof. Dr. Anke Grotlüschen Mila Superstar Ausstrahlung: 1993 - 1994, RTL2 (D) Meilenstein des Shojo Manga Prof. Dr. Anke Grotlüschen Orchester Mein Interesse für die Musik besteht schon sehr lange. Schon als Kind mochte ich gerne Musik hören und ich liebte die… Prof. Dr. Anke Grotlüschen http://www.youtube.com/watch?v=fKZiCYr0CSw Erhielt 1996 den Preis der beleidigten Zuschauer Prof. Dr. Anke Grotlüschen Regie Als ich 1995 zum ersten Mal „…“ gesehen habe, stieg mein Interesse an Filmen wie nie zu vor. (…) Daraufhin mussten mir meine Eltern jedes Wochenende Independent-Filme aus der Videothek ausleihen. Mit 15 Jahren konnte ich meine Eltern überreden, mir meine erste HI-8 Videokamera zu kaufen. Student/in, 25 Jahre Prof. Dr. Anke Grotlüschen Prof. Dr. Anke Grotlüschen Ballett „Ich hörte sehr oft die alte „…" Kassette von meiner Mutter und tanzte dazu“ Prof. Dr. Anke Grotlüschen Prof. Dr. Anke Grotlüschen 5. Ergebnisse: Theorie der Interessegenese Prof. Dr. Anke Grotlüschen b) Pragmatische Achse: Interesse entsteht zwischen Erinnerung an vergangene Handlungen und Antizipation auf zukünftige Handlungen habitus a) Habituelle Achse: Interesse entsteht zwischen Welt und Selbst. Der Habitus trennt zwischen interessanten und uninteressanten Berührungen. pragma Prof. Dr. Anke Grotlüschen Habituelle Achse Interessen transportieren auch Schichtinteressen mit, die uns nicht bewusst sind (Distinktionsinteressen, Aufstiegsinteressen, Solidaritätsinteressen) Der inkorporierte, in seiner Entstehung vergessene Geschmack beeinflusst Wahlentscheidungen (das ist nichts für mich, den Quatsch fasse ich nicht an…) Schichtinteressen werden mit reproduziert, auch wenn mit dem genuinen Lebensinteresse im Konflikt stehen (Schuster, bleib bei Deinen Leisten) Prof. Dr. Anke Grotlüschen Alle reden vom Wetter… (BILD/ HA/ SZ) „Als für Vorhersagen noch Ziegen geopfert, Priesterinnen nackt gebadet und Erdgase inhaliert wurden, nahm man die Ergebnisse deutlich ernster. Wer würde heute sein Kind im Gebirge aussetzen, nur um sein angekündigtes Schicksal zu verhindern?“ Prof. Dr. Anke Grotlüschen Alle reden vom Wetter… (BILD/ HA/ SZ) Serie: „Gute Frage“: Warum ist der Himmel blau? Wenn wir von der Erde nach oben blicken, schauen wir in den Weltraum (…) kurzwelliges, nämlich blaues Licht stärker gestreut [wird, A.G.] als langwelliges, rotes Licht „Schauer begleiten uns heute (..) 14 Grad sind dann drin (…) Werbung daneben: „Die Kochshow für alle, die bei Michelin an Autoreifen denken.“ Prof. Dr. Anke Grotlüschen Habitus ist unbewusst Distinktion von anderen merkt man gar nicht, Ödipus kennt doch jeder? Streben ist nur für die distinguierte Schicht anstrengend, schichtintern wird es geachtet (!) Solidarität ist (auch) rigide und hindert am Aufstiegsversuch. Prof. Dr. Anke Grotlüschen Zoom auf die habituelle Achse: Interessen als soziale Spiele Akzeptanz von Einflüssen, ergo Sozialen Spielen als spielenswert (oder auch nicht) Akzeptanz Welt Interesse Relevanz-Zuschreibung zu sozialen Spielen und ihren Gegenständen aufgrund von personaler Biografie Relevanz Selbst Prof. Dr. Anke Grotlüschen Pragmatische Achse Interessen durchlaufen Phasen Berührung Latenz, Expansion, Kompetenz Distanzierung Prof. Dr. Anke Grotlüschen Zoom auf die pragmatische Achse: Interessen als Prozess B Latenz Expansion Kompetenz D Prof. Dr. Anke Grotlüschen Latenz Erste Berührungen mit dem Gegenstand finden statt, werden jedoch noch wieder vergessen. Einflüsse Dritter werden als Zufall deklariert. Die Ausstiegsoption wird abgewogen. Die Hinwendung zum Gegenstand des Interesses ist instabil, kann wieder versanden: Es finden Umwege und Pausen in der Interessegenese statt. Der Gegenstand wird mit Attraktion oder Aversion konnotiert (Faszination des Neuen, Herausforderung, bei negativem Verlauf entsteht Enttäuschung). Prof. Dr. Anke Grotlüschen Expansion Einflüsse werden negiert. Die Ausstiegsoption wird nicht in Erwägung gezogen. Schritte der Interesseentwicklung werden als lineare Abfolge berichtet (Vertiefung & Verallgemeinerung). Der Gegenstand erhält Relevanz (z.B. durch Zugehörigkeitswünsche, Individuationschancen, Selbstbetrachtung, Erhalt & Ausbau eigener Fähigkeiten). Bezüge zu vergangenen und zukünftigen Lebensinteressen werden klarer (Mittelbarkeit) Prof. Dr. Anke Grotlüschen Kompetenz Einflüsse werden reflektiert berichtet oder aktiv mitgestaltet (Prävalenz). Die Ausstiegsoption ist nur mit großen Einschränkungen realisierbar. Die Person generiert Wissen über den Gegenstand, kann Fragen formulieren, Bezüge herstellen, nutzt abstrakte Begriffe und unterzieht Positionen einer Kritik. Die emotionale und kognitive Beteiligung kumuliert im Involvement. Soziale Beteiligung wird als Netzwerk berichtet. Spielräume werden ausgeweitet, Grenzen überwunden. Das Interessegebiet wird fachlich vertreten (Lobbying). Prof. Dr. Anke Grotlüschen 6. Fazit: Erstaunliches? Interessen sind erstaunlich abhängig von unserer sachlich-sozialen Welt und entstehen nicht „von innen heraus“. Sie werden als selbstbestimmt etikettiert, entstehen aber nicht von selbst. Interessen kann man nicht so schnell „wecken“, denn sie sind träge. Aber die Anfänge sind erstaunlich anders, als wir erwarten würden. Interessen „sind“ nicht, sondern sie werden und vergehen. Das lässt sich in Phasen unterteilen. Prof. Dr. Anke Grotlüschen Vielen Dank für Ihr Interesse
© Copyright 2024 ExpyDoc