Nachbaur: Vorratsdatenspeicherung „light“ – Rechtswidrig und allenfalls bedingt von Nutzen ZRP 2015, 215 Vorratsdatenspeicherung „light“ – Rechtswidrig und allenfalls bedingt von Nutzen Professor Dr. Andreas Nachbaur* Seit den Terroranschlägen von Paris steht unvermittelt die Vorratsdatenspeicherung (VDS) wieder auf der rechtspolitischen Agenda. Im Juni wurde von den Koalitionsfraktionen der Gesetzentwurf „zur Einführung einer Speicherpflicht und Höchstspeicherfrist für Verkehrsdaten“ (BT-Drs. 18/5088) vorgelegt. Vorgesehen ist eine gegenüber der früheren Regelung zwar entschärfte, aus verfassungsund europarechtlicher Sicht aber nach wie vor äußerst fragwürdige Regelung. I. Ausgangslage Die neuerlich entfachte Diskussion pro und contra VDS wird verbreitet unter falscher Prämisse geführt. Die Befürworter der VDS erwecken den Eindruck, als ginge es primär um die Frage, ob auf Vorrat gespeicherte Telekommunikationsverkehrsdaten für die Aufklärung von Straftaten hilfreich sein können (Münch, ZRP 2015, 130). Im Anschluss an BVerfG (NJW 2010, 833) und EuGH (NJW 2014, 2169) lautet die entscheidende (Vor-)Frage aber: „Wieviel“ VDS ist verfassungs- und europarechtlich überhaupt noch möglich? Erst nach Klärung dieser Frage macht es Sinn, zu überlegen, welchen Nutzen eine (eventuell noch zulässige) „light“-Version der VDS für die Kriminalitätsbekämpfung hat und ob dieser Nutzen zur Eingriffsintensität in einem angemessenen Verhältnis steht. II. Speicherpflicht Die in punkto Speicherpflicht zentrale Forderung des EuGH lautet Beschränkung der Datenspeicherung „auf das absolut Notwendige“ (NJW 2014, 2169 [2172]). Gegen diese Grundbedingung wird verstoßen, wenn ausnahmslos (Speicherung sämtlicher Verkehrsdaten aller Kommunikationsmittel in Bezug auf alle Personen), anlasslos (keine auch nur mittelbare Veranlassung durch die betroffenen Personen) und zusammenhanglos (kein auch nur mittelbarer oder entfernter Bezug zwischen Datenspeicherung und Bekämpfung schwerer Straftaten) gespeichert wird. In diesem Falle liegt ein unverhältnismäßiger Eingriff in Art. 7 (Recht auf Privatheit) und Art. 8 (Schutz personenbezogener Daten) der EU-Grundrechtecharta vor (EuGH, NJW 2014, 2169). Nach dem Gesetzentwurf soll die Speicherung weiterhin anlass- und zusammenhanglos erfolgen. Ein irgendwie gearteter Bezug zwischen betroffenen Personen und Daten einerseits und der Bekämpfung schwerer Straftaten bzw. der Abwehr von Gefahren andererseits wird nicht verlangt. Zugeständnisse werden nur in punkto „ausnahmslos“ gemacht: Ein Kommunikationsmittel (E-Mail) soll vollständig ausgeklammert, ein Verkehrsdatum (aufgerufene internet-Seiten) nicht gespeichert und einige wenige Personen (Berufsgeheimnisträger im sozialen und kirchlichen Bereich) nicht erfasst werden. Insgesamt ist darin eine allenfalls marginale Einschränkung des Kriteriums „ausnahmslos“ zu sehen, die den EuGH-Vorgaben schwerlich genügen dürfte. III. Schutz von Berufsgeheimnisträgern Hinzu kommt ein gemessen an den Vorgaben des EuGH unzureichender Berufsgeheimnisträgerschutz. Die maßgebliche Urteilspassage (NJW 2014, 2169 [2172]) findet sich im Kontext der Ausführungen zu den Speicherbedingungen, weshalb sie so zu verstehen ist, dass der Schutz nicht erst über ein Verwendungsverbot, sondern den Verzicht auf die Speicherung der Verkehrsdaten zu gewährleisten ist. Gleichwohl soll der Berufsgeheimnisträgerschutz nur partiell durch ein Speicherverbot umgesetzt werden. Nur „Verkehrsdaten, die sich auf Personen, Behörden und Organisationen in sozialen oder kirchlichen Bereichen“ beziehen, werden schon von der Speicherpflicht ausgenommen, § 113 b VI TKG-E iVm § 99 II TKG. Für alle anderen Berufsgeheimnisträger iSd § 53 StPO soll lediglich ein Abruf- bzw. Verwendungsverbot gelten, § 100 g IV StPO-E. Die Begründung für das bloße Verwendungsverbot ist nachvollziehbar (Speicherverbot aufwändig und zum Teil – dynamische IP-Adressen – technisch unmöglich, vgl. S. 33 des Gesetzentwurfs), aber nicht überzeugend: Wenn das europarechtlich geforderte Speicherverbot zum Schutz der Berufsgeheimnisträger faktisch nicht zu machen ist, so spricht dies nicht für ein bloßes Verwendungsverbot, sondern gegen die Europarechtsverträglichkeit der VDS. Tatsächlich erweist sich die EuGH-Entscheidung bei genauem Hinsehen als Sargnagel jeder Form der VDS, auch wenn deren prinzipielle Unzulässigkeit im Urteil nicht expressis verbis ausgesprochen wurde. Anzumerken ist in diesem Kontext, dass der Bundesgesetzgeber den gebotenen Schutz von Vertrauensbeziehungen auch für den über § 113 c I Nr. 2 TKG-E ermöglichten präventiven Datenabruf nicht dem Landesgesetzgeber überlassen darf; er hat diesen Schutz selbst zu gewährleisten, da zwischen Speicherung und zulässigen Verwendungszwecken eine „materielle Verknüpfung“ besteht (BVerfG, NJW 2010, 833 [846] – Bundeskompetenz kraft Sachzusammenhang aus Art. 73 I Nr. 7 GG). In § 113 c TKG-E (Verwendung der Daten) wäre daher zumindest eine dem Verwendungsverbot des § 100 g IV StPO-E vergleichbare Regelung aufzunehmen. IV. Datenabruf Der repressiv motivierte Datenabruf ist nur zulässig zur Verfolgung schwerer, in einem abschließenden Katalog zu benennender Straftaten, die auch im Einzelfall schwer wiegen (BVerfG, NJW 2010, 833 [841]). Ob die in § 100 g II StPO-E gelisteten Delikte dieser Anforderung sämtlich gerecht werden, darf bezweifelt werden. Eine Straftat wird nicht dadurch zur schweren, dass der Gesetzgeber sie per definitionem schlicht dazu erklärt („schwerer“ Bandendiebstahl); die Qualifizierung als schwer muss vielmehr in der Strafnorm selbst einen objektivierten Ausdruck finden. Von fragwürdiger Qualität etwa ist § 89 a StGB. Dies gilt erst Recht, nachdem in die Vorschrift unlängst (G. v. 12.6.2015, BGBl. I, 926) ein neuer Absatz 2 a eingefügt wurde, der nun bereits die Ausreise aus dem Bundesgebiet „in böser Absicht“ zur schweren staatsgefährdenden Straftat erhebt. Klassische Vorbereitungshandlungen für die Begehung künftiger Straftaten – im Falle des neuen § 89 a IIa StGB sogar die Vorbereitung der Vorbereitung (Ausreise) – werden hier kurzerhand selbst zur schweren Straftat erklärt. Es erscheint willkürlich, Handlungen, denen objektiv jedweder Unwertgehalt abgeht (Reisen), allein wegen eines subjektiven Unwertgehalts (böse Absicht) zu pönalisieren. Derartiger Gesetzgebung wohnt eine Tendenz inne weg vom Tat- und hin zum TäterStrafrecht („Gesinnungsstrafrecht“). Niemand wird ernsthaft glauben, dass je ein Beschuldigter nach der neuen Vorschrift abgeurteilt werden wird. Sie dient allein dem Zweck, Ermittlungsverfahren weit im Vorfeld konkreter Gefahren und in diesem Kontext die (vorgeblich) repressive Nutzung von Verkehrsdaten zu ermöglichen, die präventiv nach den Kriterien des BVerfG niemals zulässig wäre. Die vom BVerfG aufgestellte hohe Hürde für die präventive Nutzung der auf Vorrat gespeicherten Daten (konkrete Gefahr!) bzw. die ausdrücklich gewollte Verunmöglichung einer Datennutzung schon zur vorbeugenden Verbrechensbekämpfung wird so bewusst umgangen. Letztlich verwischt der Gesetzgeber auch in rechtsstaatlich bedenklicher Weise die kompetenz- und materiell-rechtlichen Grenzen zwischen Gefahrenabwehr- und Strafrecht, wenn er versucht, mit dem Mittel der Strafverfolgung Gefahrenabwehr zu betreiben (erstaunlich unkritisch zu dieser Art „Präventivstrafrecht“ Krings, ZRP 2015, 167 [168 f.]). V. Nutzen Die Frage nach dem Nutzen der geplanten VDS-„light“-Version ist in Ermangelung belastbaren Zahlenmaterials nicht abschließend zu beantworten. Eine seriöse Studie hierzu gibt es nicht (die von Münch in ZRP 2015, 130 angeführte BKA-Studie etwa bezieht sich großenteils auf Betrugsdelikte und damit Straftaten, für die der Datenabruf ausweislich des Katalogs des § 100 g II StGB-E auch künftig nicht erlaubt sein soll). Für den Bereich der Gefahrenabwehr lässt sich mutmaßen, dass die VDS infolge der hohen Tatbestandshürde – der Datenabruf erfordert eine bereits konkrete Gefahr (BVerfG, NJW 2010, 833 [841 f.]) – ein weitgehend untaugliches Mittel bleibt. Von polizeilichem Interesse wäre in erster Linie die Datennutzung im Vorfeld konkreter Gefahren („Verhinderungsvorsorge“); genau für diesen Zweck aber wurde dem Datenabruf durch das BVerfG aus Gründen der Verhältnismäßigkeit ein strikter Riegel vorgeschoben. Auch die typischerweise im Vorfeld konkreter Gefahren operierenden Geheimdienste kommen deshalb als abrufberechtigte Stellen so gut wie nicht in Betracht (BVerfG, NJW 2010, 833 [842]). Auf dem Gebiet der Strafverfolgung könnte sich die Regelung mit Blick auf vielfältige Umgehungsmöglichkeiten ebenfalls als nur bedingt tauglich erweisen. Schon weil nicht alle Kommunikationsmittel erfasst werden dürfen (E-Mail) bzw. technisch (noch) gar nicht zu erfassen sind (Messenger-Dienste wie „WhatsApp“), können sich Straftäter der staatlichen Überwachung leicht entziehen, von der Nutzung legal zu erwerbender Anonymisierungssoftware ganz zu schweigen. Es wäre erstaunlich, wenn ausgerechnet Terroristen und andere Schwerkriminelle – nur um deren Bekämpfung soll und darf es im Kontext der VDS gehen – diese Möglichkeiten ungenutzt ließen. So ist denn der praktische Nutzen der VDS-Regelungen eher ungewiss. Sicher dagegen ist der mit der Speicherung der Verkehrsdaten und ihrer Nutzung einhergehende Eingriff in die Freiheitsrechte nahezu der gesamten Bevölkerung, der keineswegs als grundrechtliche Marginalie abgetan werden kann. Das BVerfG führte in seinem Urteil zur VDS aus, dass der damit verbundene Eingriff „grundsätzlich nicht geringer wiegt als die inhaltsbezogene Telekommunikationsüberwachung“ (NJW 2010, 833 [841]). Angesichts der auch vom EuGH herausgestellten Grundrechtsdimension der VDS mutet es im Übrigen seltsam an, wenn die EU-Kommission wegen des Gesetzesvorhabens nun im Notifizierungsverfahren Bedenken in Bezug auf die Dienstleistungsfreiheit der Telekommunikationsunternehmen anmeldet, zu den Grundrechten jedoch kein Wort verliert. VI. Ausblick Unter anderem in Österreich, den Niederlanden, Bulgarien und Belgien wurden die jeweiligen nationalen Regelungen zur VDS von den dortigen Verfassungsgerichten unlängst für nichtig erklärt. Auch in Deutschland wird die juristische Auseinandersetzung um die VDS mit der Verabschiedung des Gesetzes zur „Einführung einer Speicherpflicht und Höchstspeicherfrist für Verkehrsdaten“ nicht beendet sein. Über die Rechtmäßigkeit der Regelungen werden letztlich wieder Richter entscheiden. Klagen vor dem BVerfG gegen das geplante Gesetz sind bereits angekündigt, auch eine Überprüfung durch den EuGH ist sehr wahrscheinlich. Vieles spricht dafür, dass die VDS-„light“-Version keinen Bestand haben wird. * Der Autor lehrt Verfassungs-, Europa- und Polizeirecht an der Hochschule für Polizei BadenWürttemberg in Villingen-Schwenningen. Beck-Online - ZRP 2015, 215
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