über das Thema "Leben im Schatten"

von APH Gerda Schmidt
Leben im Schatten ... Sterben auf Raten ... Leid und Entbehrung, ist das die
Endstation?
Diese Zeilen eines Liedes stimmen mich sehr nachdenklich, wenn ich an das
Schicksal vieler alter Menschen in unseren Pflegeheimen denke. Ist es das, was
Menschen, die ihr Leben lang unheimlich viel geleistet haben, verdient haben, wenn
sie von dieser Welt Abschied nehmen müssen?
In den letzten Jahren - leider viel später als z.B. in Großbritannien - hat sich
innerhalb des Gesundheitssektors ein neuer Fachbereich entwickelt. "Palliative
Care" ist ein Begriff, der immer geläufiger wird. Hospize werden gegründet, die
ambulante Hospizbewegung entwickelt sich immer weiter.
Gott sei Dank hat man erkannt, dass Krebspatienten in der letzten Phase andere
Bedürfnisse haben als moderne Apparatemedizin. Schmerztherapie,
Symptomenkontrolle, Bedürfnisbefriedigung, ... sind für diese Patientengruppe endlich - keine Fremdwörter mehr.
Was mich sehr nachdenklich stimmt, ist die Tatsache, dass die große Gruppe der
pflegebedürftigen alten Menschen unserer Gesellschaft nicht mit dem gleichen
Selbstverständnis nach diesen Richtlinien betreut wird.
Mit einigen Fragen möchte ich zum Nachdenken anregen:
In welchem geriatrischen Pflegeheim ist der Einsatz von Schmerzpumpen
selbstverständlich?
Darf der pflegebedürftige alte Mensch seinen Tagesablauf selber gestalten?
Wie viele ehrenamtliche Mitarbeiter stehen Ihnen in Ihrer geriatrischen Einrichtung
in der Begleitung sterbender Menschen zur Seite?
Haben Angehörige die Möglichkeit, rund um die Uhr beim Sterbenden zu bleiben
und können sie in die Pflege miteinbezogen werden?
Zu hohe Erwartungen?
Ich arbeite selber seit vielen Jahren - und noch immer mit Begeisterung - in einem
geriatrischen Pflegeheim und bin dabei in der glücklichen Lage, dass wir viele
Freiräume haben in der Betreuung der uns anvertrauten Bewohner, trotzdem muss
ich immer wieder erfahren, dass "Palliative Care" in der Geriatrie nur sehr langsam
Einzug hält.
Im Besonderen ist es die Schmerztherapie, die mir ein großes Anliegen ist. Es
handelt sich da um einen Bereich, in dem wir Pflegepersonen auf die Unterstützung
der Ärzte angewiesen sind und diese nicht immer als Partner erleben. Manchmal
habe ich fast den Eindruck, dass sich Ärzte in ihrer Ehre gekränkt fühlen, wenn ich
als Pflegekraft es "wage", Vorschläge bezüglich einer besseren Schmerztherapie zu
machen.
Palliativmedizinische Fortbildung haben leider nur sehr wenige praktische Ärzte. Oft
sind sie unsicher, des Weiteren werden ihnen immer wieder von den Krankenkassen
ihre Grenzen aufgezeigt.
Ich selber sehe mich - vor allem dort, wo alte Menschen sich nicht mehr selber
ausdrücken können - als Anwalt und Sprecher für diese Menschen. Wir Pflegekräfte
sind es, die den alten Menschen 24 Stunden lang mit seinen Schmerzen und seinem
Leid erleben. Der Arzt erhält immer nur eine Momentaufnahme und sollte eigentlich
über die Unterstützung durch engagierte Pflegekräfte dankbar sein.
Weiter vorne stellte ich die Frage, in welchem geriatrischen Pflegeheim der Einsatz
von Schmerzpumpen selbstverständlich ist. Vielleicht erwarte ich da viel zu viel? Es
wäre schon toll, würde die Palette der zu verabreichenden Schmerzmedikamente
ausgeweitet und auch höher dosiert werden. Natürlich kann ich durch spezielle
Lagerungen und vorsichtiges Handling schmerzlindernd agieren, eine gute
medikamentöse Schmerztherapie kann aber sicher andere Probleme hintanhalten:
Ein Mensch, der weniger Schmerzen hat, bewegt sich mehr, was das Entstehen von
Decubitalulcera oder Kontrakturen verhindern kann
Der pflegerisch-technische Aufwand reduziert sich und die Pflegepersonen haben
mehr Zeit für die ebenfalls notwendige psychische Betreuung
Ein Vermeiden von Decubitalulcera und Kotrakturen reduziert den Einsatz von
Verbandmaterial und Medikamenten
Ein Mensch, der weniger Schmerzen hat, hat vielleicht auch mehr Appetit und
braucht keine künstliche Ernährung
Palliative Geriatrie?
Als Pflegekraft möchte ich mit dem Arzt zusammenarbeiten und mit ihm gemeinsam
das Beste für die uns anvertrauten alten Menschen erreichen.
Es kann doch nicht sein, dass es dem Zufall überlassen ist, ob ein alter Mensch von
einem Arzt betreut wird, der Schmerzmedikamente großzügig verabreicht oder ob
er einen Arzt hat, der damit sehr vorsichtig umgeht.
Ich bin mir dessen schon bewusst, dass eine gut eingestellte Schmerzmedikation
bei alten Menschen schwieriger ist, aber kann ich deshalb darauf verzichten?
Oft ist die Stoffwechselsituation verlangsamt, was eine andere Dosierung erfordert
als bei jungen Menschen. Desorientierte alte Menschen können ihre Schmerzen
nicht beschreiben. Sie können nicht befragt werden, ob sie Erleichterung
empfinden, aber ich kann sie beobachten und aus ihrem Verhalten, ihrem
Gesichtsausdruck, ihrer Beweglichkeit, ... Rückschlüsse ziehen.
Schluckbeschwerden erschweren die Einnahme.
Das alles dürfen keine Gründe dafür sein, dass den alten Menschen etwas
vorenthalten wird, was ihre Lebensqualität, die ohnehin schon eingeschränkt ist,
noch weiter reduziert. Es gibt eine so große Zahl von Schmerzmedikamenten in
unterschiedlicher Dosierung und Applikationsform, dass es für jeden
Schmerzpatienten Möglichkeiten der Schmerzlinderung geben muss.
In letzter Zeit gibt es einen neuen Fachbegriff - "Palliative Geriatrie". Aber braucht
es diese Differenzierung überhaupt? Ist nicht Palliative Geriatrie Palliative Care im
eigentlichen Sinn?
Es darf keinen Unterschied geben in der Betreuung junger und alter sterbender
Patienten. Auch in die Betreuung schwerkranker und hilfloser alter Menschen sind
ihre Wünsche und Bedürfnisse mit einzubeziehen. Sie sind nicht Menschen zweiter
Klasse.
Palliative Geriatrie braucht es nur so lange, bis es für jeden selbstverständlich ist,
dass alle sterbenden Menschen die gleichen Rechte und Möglichkeiten erhalten.