Daß wir selber frei zu werden suchen, soviel uns immer möglich ist.

Friedrich Naumann
„Daß wir selber
frei zu werden suchen,
soviel uns immer möglich ist.“
(Friedrich Naumann, 1905)
Leben und Werk Friedrich Naumanns 1860–1919.
Chronik der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit 1958–2010.
Diese Publikation
wurde gefördert durch
die Gesellschaft der
Freunde und Förderer
der Friedrich-NaumannStiftung für
die Freiheit e. V.
„Daß wir selber
frei zu werden suchen,
soviel uns immer möglich ist.“
Friedrich Naumann. Das Ideal der Freiheit (1905).
Inhalt.
Geleitwort. Dr. Wolfgang Gerhardt
4-7
Sein Leben, sein Werk, seine Wirkung. Dr. Barthold C. Witte
8-45
100 Jahre danach. Dr. Jürgen Frölich
46-65
Biografie Friedrich Naumanns.
66-67
Friedrich-Naumann-Bibliografie.
68-69
Chronik der Stiftung.
70-74
Gremienvorsitzende der Stiftung.
73
75
Politische Grundsätze der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.
74–77
76-79
Die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit aktuell.
78–81
80-83
50 Jahre für die Freiheit.
84-97
Bundespräsident Prof. Dr. Horst Köhler
85
84
Prof. Dr. Lord Ralf Dahrendorf
88
Dr. Wolfgang Gerhardt,
Vorsitzender des Vorstandes
der Friedrich-NaumannStiftung für die Freiheit
(seit 2006)
Friedrich Naumann scheint uns weit weg: Seine
Geburt liegt rund anderthalb Jahrhunderte zurück,
der Tod ereilte ihn vor neun Jahrzehnten. Viele der
sozialen und politischen Rahmenbedingungen, die
sein Leben und Wirken prägten, sind verschwunden:
das deutsche Kaiserreich, das preußische Junkertum,
Europas weltpolitischer Führungsanspruch, deutsche
Kolonien in Übersee, das System der europäischen
Großmächte etc. Persönliche Erinnerung an ihn gibt
es, anders als vor 50 Jahren bei der Gründung unserer
Stiftung, auch nicht mehr. Ist es da noch sinnvoll,
wenn sich die Arbeit einer politischen Stiftung des
21. Jahrhunderts auf einen Protagonisten der Wende
vom 19. zum 20. Jahrhundert beruft?
Auf den ersten Blick nicht. Denn manches
oder gar vieles von dem, was Naumann politischstrategisch propagierte, ist nicht mehr aktuell bzw.
längst überholt: Es gibt kein ungleiches Wahlrecht
mehr wie in Preußen, das deutsche Parlament ist
eindeutig das von der Verfassung eingesetzte politische Entscheidungszentrum, die Zersplitterung des
deutschen Liberalismus ist seit Gründung der FDP
vor 60 Jahren und spätestens seit der Fusion mit den
ostdeutschen Liberalen überwunden, die betriebliche
Mitbestimmung ist seit Langem gesichert. Was bleibt
da heute noch von der politischen und gesellschaftlichen Gedankenwelt des sächsischen Pfarrersohns?
Ich behaupte, in anderer Weise ist Friedrich
Naumann immer noch sehr modern. Ich meine damit
Lorem ipsum dor sit amm dolor slor sit.
Geleitwort.
nicht in erster Linie seine optimistische Weltsicht,
seinen Glauben an die stetige Weiterentwicklung
der Gattung Mensch und seine Überzeugung von
der schöpferischen Kraft der Freiheit. Dies sollte
Gemeingut aller Liberalgesinnten sein.
Die Modernität und Aktualität von Friedrich
Naumann liegt für mich vor allem darin, wie er die
Problemlagen seiner Zeit analysiert hat und wie er
damit umgegangen ist. So erkannte Naumann sehr
früh, dass man damals wie heute in einem Zeitalter
der Globalisierung lebte, deren Auswirkungen sich
auf nationaler Ebene wenig oder gar nicht einschränken ließen. Naumann wollte dies auch gar nicht:
„Wir haben nur die Wahl, ein kleines Volk am Rande
der Weltgeschichte zu sein oder zum Freihandel
überzugehen.“ Als Naumann dies 1906 schrieb, war
für ihn klar, wie die Wahl ausfallen müsste, denn
im Freihandel sah er die „denkbar größte Garantie
der menschlichen Wohlfahrt“ und deshalb rief er in
seiner „Neudeutschen Wirtschaftspolitik“ dazu auf:
„Macht Luft, macht alle Häfen frei, lasst uns ein
Werkhaus der Völker werden und ein Stapelplatz der
Erzeugnisse aller Zonen.“ Wir sollten uns vom damaligen Optimismus Friedrich Naumanns anstecken lassen
und die zweite Welle der Globalisierung ebenfalls vor
allem als Chance ansehen.
Friedrich Naumann hat aber auch die Probleme
des Liberalismus seiner Zeit nicht verkannt. Er hat
für ihn neue Strategien und Aktionsformen gesucht,
zum Teil selbst – wie bei seinem fulminanten
Wahlerfolg in Heilbronn 1907 – erprobt. Vor allem
hat er versucht, dem besitz- und bildungsbürgerlich erstarrten Liberalismus neue gesellschaftliche
Gruppen zu erschließen. Eine eher kleine Gruppe
waren Intellektuelle und Künstler. Naumann hat sich
nicht damit begnügt, diese nur gelegentlich anzu
sprechen, er wollte ihnen dauerhafte Foren bieten,
u. a. in seinen Publikationsorganen wie der „Hilfe“, der
von ihm 1895 ins Leben gerufenen politisch-kulturellen Zeitschrift. In diesen Kontext gehört auch der
„Deutsche Werkbund“, dessen 100. Geburtstages im
Jahre 2007 vielerorts gedacht wurde. Aus heutiger
Sicht ist weniger wichtig, welche konkreten Ziele
Naumann mit dem „Werkbund“ verfolgte, interessant
und beispielhaft ist vielmehr, wie es ihm und seinen Mitstreitern, darunter der junge Theodor Heuss,
gelang, ein Netzwerk von intellektuellen Vordenkern,
schaffenden Künstlern und innovativen Unternehmern
aufzubauen, das bis heute trotz aller zeithistorischen
Stürme überlebt hat. Der ursprüngliche „Werkbund“
ist sicherlich auch heute noch ein Modell, wie man
liberales Gedankengut in scheinbar unpolitische
gesellschaftliche Kreise hineintragen kann.
Eine zweite, weit größere Zielgruppe als
die, welche der „Werkbund” bedienen sollte, hatte
Friedrich Naumann in den Frauen erkannt. Diese
waren damals noch weitgehend vom politischen
Leben ausgeschlossen; erste Verbesserungen wurden
vor genau 100 Jahren mit dem Reichsvereinsgesetz
erreicht, für das sich Naumann sehr stark gemacht
hatte. Naumann hatte große Sympathien für die
Frauenbewegung, in der er eine Art Freiheitsbewegung
ausgemacht hatte und die er für den Liberalismus
gewinnen wollte. Das ist ihm teilweise auch gelungen,
man denke nur an Helene Lange, Gertrud Bäumer und
Marie-Elisabeth Lüders.
Friedrich Naumann war überzeugt davon,
dass Liberalismus keine Sache der sozialen Herkunft
sei, sondern auch Menschen jenseits des klassischen
Bürgertums von ihm profitieren würden. Andererseits
sollten die Liberalen sich auch direkt an diese wenden. Nochmals sei die „Neudeutsche Wirtschaft“
zitiert: „Der Liberalismus muß um seiner eigenen
Selbsterhaltung willen für die Industrieverfassung
sein, für freie Koalition, für Tarifverträge, für
Lorem ipsum dor sit amm dolor slor sit.
Geleitwort.
Arbeiterschutz, für alles, was den Wert der einzelnen
Persönlichkeit in der Menge der Angestellten und
Arbeiter erhöht.“
Dieses Zitat belegt, Naumann ging es immer
auch um den Ausbau der Freiheit. Sie war für ihn,
unabhängig davon, wie weit er sich in Detailfragen
vom „klassischen Liberalismus“ absetzte oder diesen kritisierte, das zentrale Element moderner
Gesellschaften. Und die Freiheit ging jeden einzelnen etwas an: „Freiheit ist eine ganz persönliche
Angelegenheit, und wenn sie das nicht ist, dann gibt
es keine freien Staaten und keine freien Kulturen.“
Dieser Satz aus dem 1905 erschienenen „Ideal
der Freiheit“ steht auch 100 Jahre später noch im
Mittelpunkt der Bildungsarbeit unserer Stiftung. Von
daher gesehen, meine ich, war es nur folgerichtig,
dass wir den altehrwürdigen Namen unserer Stiftung
um den Begriff „Freiheit“ ergänzt haben. Friedrich
Naumann hätte dagegen sicherlich keine Einwände
gehabt. Denn an seiner grundsätzlichen Bedeutung
für die Stiftungsarbeit ändert dies nichts.
Potsdam, im August 2009
Dr. Wolfgang Gerhardt
Dr. Barthold C. Witte
Friedrich Naumann: Sein Leben,
sein Werk,
seine Wirkung.
Überarbeiteter Text einer Rede, gehalten
am 3. September 1994 in Gummersbach,
zum 75. Todestag Friedrich Naumanns.
LoremLeben,
Sein
ipsumsein
dorWerk,
sit amm
seine
dolor
Wirkung.
slor sit.
Friedrich Naumann um 1911.
Am 24. August 1919 starb in Trave­
münde an der Ostsee Friedrich Nau­
mann, Vorsitzender der ein knappes
Jahr zuvor gegründeten Deut­schen
Demokratischen Partei, Abgeordneter
der verfassungsgebenden National­
versammlung in Weimar, Herausgeber
der Zeitschrift „Die Hilfe“ und erfolgreicher Autor politischer Sach­bücher.
Er wurde nur 59 Jahre alt. In Berlin
liegt er begraben, dort, wo er zwei
Jahrzehnte lang politisch und publizistisch gewirkt hatte.
Was eigentlich hebt Friedrich Nau­
mann aus der großen Zahl der
zu­meist längst vergessenen Politiker
heraus, die während des deutschen
Kaiserreiches wirkten? An der politischen Macht hatte er, auch als
Reichs­tagsabgeordneter, kaum Anteil.
Kein großes Gesetzgebungswerk
trägt seinen Namen. Der von ihm
mitbegründeten linksliberalen Partei
stand er gerade einen Monat vor,
und überdies hielt ihr anfänglicher
Wahlerfolg am Beginn der Weimarer
Republik nicht an, sondern ging bald
in Niedergang, schließlich schon vor
Hitlers Macht­ergreifung in Agonie
über. Wer nur in Kategorien der
Macht denkt, für den ist Friedrich
Naumann bestenfalls ein glänzender Redner und erfolgreicher
Bücherschreiber aus einer längst vergessenen Zeit. Wenn wir heute seiner
gedenken, und dies unter dem Dach
der Stiftung, die seinen Namen trägt,
so muss das andere Gründe haben.
Wir wollen ihnen nachgehen, Person
und Lebenswerk uns vergegenwärtigen
und schließlich fragen, was Friedrich
Naumann uns heute für morgen zu
sagen hat.
Der junge Theologe.
Wie der Dichter Lessing, wie der Phi­
lo­­s­oph Nietzsche, stammte Friedrich
Naumann aus einem sächsischen
Pfarr­­haus. In Störmthal bei Leipzig,
einem wohlhabend gewesenen und in
unserer Zeit beinahe von Braunkohle
aufgefressenen Dorf, steht noch
heute das Haus, in dem er am
23. März 1860 geboren wurde. Vater
und Großvater Theologen – was
Wunder, dass sich auch ihr Spross der
Gottes­wissen­schaft zuwandte, freilich
nach inneren Kämpfen und Bedenken.
Zu beidem, Bedenken und Entschluss,
trug gewiss die Fürstenschule St. Afra
zu Meißen bei, in die der junge
Friedrich als Obersekundaner eintrat.
Kirche in Störmthal,
Geburtsort von Friedrich Naumann.
10
Er hatte es dort nicht leicht, nicht
bloß der strengen Ordnung wegen,
die er in späterer Rückschau sogar
lobte als Teil des „erziehenden
Ge­samtgeists“ von St. Afra, der frei
von pädagogischen Sentimentalitäten
ge­wesen sei, vielmehr „herb und
derb und voll Kämpfen und allerlei
Roman­tik“. Aber er war kein guter
Turner, ein schlechter Sänger und in
den Sprachen gerade mittelmäßig.
Auch dauerte es seine Zeit, bis die
Kameraden den Spätkömmling akzeptiert hatten. Und doch liebte er seine
Schule lebenslang so sehr, dass er
meinte, wenn er einen Sohn hätte,
der gesund und stark wäre, so müsse
er dieselbe Schule durchmachen.
Mathematik war sein Lieblingsfach,
das er zunächst studieren wollte, bis
dann die von Elternhaus und Schule
herkommende Ergriffenheit von den
Glaubensfragen doch obsiegte. Wenn
der spätere Politiker am liebsten mit
historischen Bezügen und statistischen
Vergleichen operierte, so blieb das die
dauerhafte Frucht von St. Afra. Darum
konnte Friedrichs Bruder Johannes,
auch er Afraner, nach Naumanns Tod
zu Recht sagen, St. Afra habe einen
ihrer treuen Söhne verloren, „der an
seinem Volke gelohnt hat, was sie
ihm für das Leben mitgab“.
Dieses Leben war bunt genug. Nach
dem Theologiestudium in Leipzig und
Erlangen diente er zwei Jahre lang
als Oberhelfer im Hamburger Rauhen
Haus, der berühmten Gründung
des evangelischen Sozialethikers
und So­zialpraktikers Johann Hinrich
Wichern.
LoremLeben,
Sein
ipsumsein
dorWerk,
sit amm
seine
dolor
Wirkung.
slor sit.
Öffentliches Wirken.
Dieser Einführung in die Gegen­warts­
probleme des Industriezeitalters
folgten vier Jahre Pfarramt im
sächsischen Langenberg, einem
Arbeiterdorf, und erste Schriften,
beginnend mit einem Arbeiterkatechismus – sodann die Rückkehr
zur Inneren Mission, der Gründung
Wicherns, als geistlicher Betreuer
sozialer Einrichtungen in Frankfurt
am Main. In diese Zeit fiel der Beginn
von Naumanns politischer Tätigkeit
in der damaligen christlich-sozialen
Bewegung und intensiver publizistischer Tätigkeit in deren Sinn als
einer ihrer Sprecher. Aber bald wagte
der junge Pfarrer den Sprung auf
die eigenen Füße: 1895 gründete er,
mit wenig Geld und viel Mut, seine
eigene Wochenschrift „Die Hilfe“.
Schon im Jahr darauf kam das zweite, noch größere Wagnis, nämlich
die Gründung des Nationalsozialen
Ver­eins als politische Partei, beides
gefolgt von dem Ausscheiden aus
dem Pfarramt und der Übersiedlung
in das politische Zentrum Berlins.
Seither bis zu seinem Tod blieb
Friedrich Naumann Publizist und
Poli­tiker von Beruf und aus Berufung,
freilich mit Erfolgen und Niederlagen
gleichermaßen. Seine Zeitschrift
war bald einflussreich, doch scheiterte eine Zeitungsgründung. Seine
politischen Bücher waren allesamt
Best­seller, allen voran die Programm­
schrift „Mitteleuropa“ von 1915,
in­­dessen blieb der Nationalsoziale
Verein in zwei Reichstagswahlen ganz
erfolglos. Nach dessen Auflösung
und dem Übertritt Naumanns mit der
Mehr­zahl seiner Gesinnungsgenossen
zur linksliberalen Freisinnigen Verei­ni­
gung im Jahre 1903 schaffte er 1907
die Wahl in den Reichstag – nicht
zuletzt übrigens dank seines jungen
Wahlkampfleiters Theodor Heuss,
in dessen Heimatstadt Heilbronn er
kan­didierte. Aber im Parlament blieb
er Außenseiter, und erst 1919 gelang
mit der Wahl zum ersten Vorsit­zen­den
der Deutschen Demokratischen Partei
der Sprung zur politischen Spitze.
Da ereilte den durch Kriegshunger
Ge­schwächten ein plötzlicher und
einsamer Tod.
Grabstätte von
Friedrich Naumann
in Berlin-Schöneberg.
11
So blieb ihm die wirklich große politische Wirkung versagt. Und doch
war er als Redner und Schriftsteller
einer der wirkungsmächtigsten
Männer des öffentlichen Lebens seiner Zeit. In diesem Leben erregte er
erste Auf­merk­­samkeit als Redner auf
einem Kongress für Innere Mission in
Kassel anno 1888, gerade 28 Jahre
alt. Das war also im Dreikaiserjahr, als
der uralte erste Kaiser Wilhelm starb,
sein todkranker Sohn Friedrich, die
Hoff­nung der Liberalen, nur 100 Tage
regierte und diesem sein ehrgeiziger,
intelligenter und unsteter Sohn
Wilhelm II. nachfolgte. Wichtigstes
Problem deutscher Innenpolitik war
die Arbeiterfrage, und ihr wandte
sich der junge Kaiser entschieden zu.
Wer wie der junge Naumann sich als
einer der Matadore der christlichsozialen Bewegung dann versuchte,
Christentum und Sozialismus,
Arbei­ter und Kirche miteinander zu
versöhnen und so Karl Marx und die
„glaubenslose Sozialdemokratie“ zu
besiegen, der war der Mann der Stun­
de. So schien es jedenfalls, indessen
nur für wenige Jahre, bis Wilhelm II.
auf konservativen Gegenkurs ging
und die evangelische Kirche ihm
ge­horsam folgte. Naumann musste
er­kennen, dass für den von ihm
er­streb­ten „christlichen Sozialismus“
kein Raum war. Eines blieb: Der junge
Re­bell hatte die Öffentlichkeit auf
sich und seine Botschaft aufmerksam
ge­macht. Sein Buch „Jesus als Volks­
mann“, 1894 erschienen, erreichte
viele Tausend Leser.
12
Nicht nur aus diesen äußeren, auch
aus inneren Gründen brach nun aber
Naumann mit dem christlich-sozialen
Versuch. Als gewichtiger Mitstreiter
im Kampf um soziale Reformen waren
ihm auf den Tagungen des von ihm in
diesen Jahren mitbegründeten Evan­
gelisch-sozialen Kongresses Rudolf
Sohm und Max Weber begegnet,
Staatsrechtler der eine, National­öko­
nom der andere. Sohm vermittelte
ihm die schmerzhafte Erkenntnis, dass
aus dem Christentum, zum Beispiel
der Bergpredigt, keine politischen,
wirtschaftlichen oder sozialen Tages­
rezepte zu gewinnen seien. Eine
spezifisch christliche Politik konnte
es also nicht geben. Max Weber wiederum, auch eine junge Berühmtheit,
lehrte Naumann die Macht erkennen
und schätzen. Das war für ihn das
Ende der Ideenpolitik.
Macht verkörpert sich im Staat, für
Naumann und seine Zeitgenossen
also im Deutschen Reich. Dem Staat
Bismarcks hatte Max Weber in seiner
rasch berühmt und später berüchtigt
gewordenen Freiburger Rede von
1895 bescheinigt, seine Gründung sei
bloß ein kostspieliger Jugendstreich
der alten deutschen Nation, „wenn
sie der Abschluss und nicht der
Aus­gangspunkt einer deutschen Welt­
machtpolitik sein sollte“.
LoremLeben,
Sein
ipsumsein
dorWerk,
sit amm
seine
dolor
Wirkung.
slor sit.
So sprach der Imperialismus der Zeit,
nicht bloß in Deutschland; wir hören
heute solche Sätze mit Schrecken.
Naumann und viele andere folgten
indes diesem Geist der Zeit. Kolonialund Flotten­politik, Wettbewerb mit
England, Krieg gegen das fast wehrlose China, ja selbst gegen die Hotten­
totten – das galt ihnen als legitime
Weltpolitik. Diese nach innen
abzustützen wurde nun der Sinn der
sozi­alen Reform, und umgekehrt galt
die deutsche Welt­macht als Voraus­
set­zung allen sozialen Fortschritts.
In Naumanns Pro­gramm­schriften
für seinen National­sozialen Verein
kann man das im Einzelnen unter der
Überschrift „Nationaler Sozialismus“
nachlesen.
Daran heute heftige Kritik zu üben
ist leicht. Manche Kritiker haben
Friedrich Naumann gar in die Nähe
Hitlers gerückt, ihn einen Vorläufer
der Nazis genannt. In der gewesenen
DDR gab es dazu ein ziemlich um­fäng­­
liches Buch. Das haben die Nazis
selbst indessen ganz anders gesehen:
Theodor Heuss durfte seine schöne,
bis heute gültige Biografie Friedrich
Naumanns 1937 nur veröffentlichen,
nachdem er zugesichert hatte, sein
Held werde keinesfalls in die Nähe
der Nationalsozialisten gerückt.
Er gab diese Versicherung natürlich
nur zu gern, und glaubhaft ist sie
auch. Denn mag auch Hitler den
Wilhelminischen Imperialismus
übernommen haben, so doch zu
ganz anderen Zwecken, nämlich
zur Durchsetzung des Rassenwahns
und seiner eigenen Herrschaft durch
Gewalt in aller Welt. Davon ist
Naumanns Gedankenwelt nun wahrlich weit entfernt. Dem christlichen
Gebot der Nächstenliebe blieb er
ebenso verpflichtet wie dem demokratischen Ziel der Volksherr­schaft.
Sein großes Buch von 1900 über
„Demokratie und Kaisertum“ zeugt
dafür sowie die 1902 erschienene,
„Gotteshilfe“ betitelte Samm­lung
seiner Wochenandachten aus der
„Hilfe". Und was den seit den
1880er-Jahren wachsenden Anti­semi­
tismus angeht, so war dieser zwar
dem jungen, von dem christlichsozialen Adolf Stoecker beeinflussten
Naumann nicht gänzlich fremd, doch
trat er später demonstrativ aus dem
einst von ihm mitbegründeten „Verein
Deutscher Studenten“ aus, als sich
dieser der antijüdischen Bewegung
anschloss. Nein, einen Vorläufer der
Nazis kann und darf man ihn nicht
nennen.
13
Studenten in Leipzig 1880.
Studienbericht vom
27.05.1882 aus Erlangen an
die Brüder des Theologischen
Vereins in Leipzig. Naumann
übt Kritik an den Leipziger
Professoren und spricht
mit Begeisterung von dem
Erlanger Professor Frank.
14
LoremLeben,
Sein
ipsumsein
dorWerk,
sit amm
seine
dolor
Wirkung.
slor sit.
Antrittspredigt in Langenberg
am 2. Mai 1886.
Friedrich Naumann als junger
Pfarrer um 1886.
Kirche und vermutlich das
Pfarrhaus in Langenberg.
15
Die eigentliche Schwäche der politischen Vorstellungen Naumanns lag
woanders. Zum einen blieb, was er
mit seinem Nationalsozialen Verein
als Volksbewegung der Arbeiter und
Bürger erträumt hatte, im deutschen
Parteiensystem jämmerlich stecken.
Dessen Festigkeit hatte er gröblich
unterschätzt. Folgerichtig trat er in
dieses System ein. Auf das Verlangen
nach dem christlichen, dann dem
nationalen Sozialismus, beides in
deutlicher Gegnerschaft zum Mar­xis­
mus, ließ Naumann jetzt die For­de­
rung nach einem sozialen Libe­ra­lis­
mus folgen. Dem Grundsatz, nämlich
der Überwindung des Klassenkampfes
durch gleichberechtigte Partnerschaft
von Arbeitern und Bürgern, blieb er
aber treu. Gelernt hatte er jedoch im
ersten Jahrzehnt seiner öffentlichen
Tätigkeit, dass nicht der vom Sozialis­
mus erstrebte Vorrang der Gemein­
schaft, sondern der Vorrang der freien
Persönlichkeit das wichtigste Ziel sein
müsste. Freilich stand die Festigkeit
der Sozialstrukturen abermals gegen
seine Ideen: die Links­libe­ralen des
Kaiserreiches und die Demokraten der
Weimarer Republik erreichten so wie
der Nationalsoziale Verein nur Teile
des Bürgertums, nicht die Arbeiter­
schaft.
16
Zum anderen tat der Kaiser nicht, was
Naumann von ihm erwartete, sich
nämlich mit der Demokratie zu versöhnen. Nie lud Wilhelm II. den Autor
von „Demokratie und Kaisertum“
auch nur zum Gespräch. Stattdessen
versperrte der Monarch den Weg zur
längst überfälligen Verfassungs­re­form,
weil er starrsinnig an seiner Auf­fas­
sung vom gottbegnadeten Herrscher
als oberster Instanz der Macht
festhielt. Was nötig war, also die Herr­
schaft des Parlaments, fiel diesem
erst mit der Niederlage 1918 in den
Schoß. Da fiel der Kaiser mit.
LoremLeben,
Sein
ipsumsein
dorWerk,
sit amm
seine
dolor
Wirkung.
slor sit.
Reform des Liberalismus.
Seine ganze Hoffnung richtete
Nau­mann seit seiner Wendung zum
Libe­ralismus auf dessen Erneuerung.
„Neudeutsche Wirtschaftspolitik“ ist
der Titel seiner 1906 erschienenen
Programmschrift. Sie schildert in lebhafter, bilderreicher Sprache und mit
vielen Statistiken die technisch-indust­­
rielle Entwicklung „vom Holz zum
Eisen“, als ihre Folge die Entstehung
der Großbetriebe, Kartelle, Verbände –
und das durchaus optimistisch, wenn
auch nicht ohne Kritik an der Gefahr,
der Einzelne werde von den großen
Organisationen erstickt. Das Ende
des Staatssozialismus sei gekommen,
heißt es, nun müsse in den Fabriken
die Demokratie einziehen durch Mit­
wirkungsrechte von Arbeiter­aus­schüs­
sen. Da klingt die fünf Jahrzehnte
später im westlichen Deutschland
eingeführte betriebliche Mitbestim­
mung an. Kein Wunder, dass die
damaligen Sozialdemokraten sich
enttäuscht von Naumann abwandten
und selbst Lujo Brentano, der Mün­ch­
ner Doktorvater von Theodor Heuss
und geistige Kopf des National­sozia­
len Vereins, mit der „Neudeutschen
Wirtschaftspolitik“ nichts Rechtes
anzufangen wusste. Jedenfalls wurde
aber Naumanns Absicht klar, dem
staatlich geförderten Kapitalismus
der Zeit ein soziales Element einzufü­
gen, und zwar nicht nur durch Sozial­
leistungen an die Schwachen, sondern
darüber hinaus durch Beteiligung der
Besitzlosen an der industriellen und
über sie an der politischen Macht.
Die Machtfrage so zu stellen bedeutete, den klassischen Liberalismus
he­rauszufordern, seine besitzbürgerliche Verengung aufzubrechen und
ihn zu neuen, hoffentlich wählerträchtigen Ufern zu führen.
Abermals traf Naumann damit den
Nerv der Zeit, obgleich er sich doch
hier auf ein Gebiet gewagt hatte,
das dem gelernten Theologen und
Sozial­praktiker fremd sein musste.
Experte der Wirtschaftstheorie oder
der Wirtschaftspolitik war und wurde
er gewiss nie, erst recht kein Systema­
ti­ker oder gar ein Systemgläubiger.
Seine Stärke war vielmehr die Zu­sam­
menschau, der frische Blick, dem sich
bisher ungesehene Zusam­men­hänge
öffnen. Und was er erkannte, wusste
er als Redner wie als Schreiber so
auszudrücken, dass der Gebildete wie
der Mann auf der Straße es verstanden und davon Gewinn zogen. Der
glänzendste Redner im Deut­schen
Reichstag sei er zu seiner Zeit gewesen, berichten übereinstimmend die,
die ihn gehört haben. Wer Naumann
heute liest, bekommt davon immer
noch mehr als einen Abglanz mit.
Überdies war er fleißig. Als Parla­men­­
tarier stürzte er sich geradezu auf
die gesetzgeberische Detailarbeit,
nach seiner Wahl als Erstes an dem
für da­mals höchst fortschrittlichen
Reichs­gesetz über die Heimarbeit. Da
kam ihm die lebendige Erfahrung aus
Pfarr­­­amt und Diakonie zugute.
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18
LoremLeben,
Sein
ipsumsein
dorWerk,
sit amm
seine
dolor
Wirkung.
slor sit.
Verlobung Friedrich Naumanns mit Magdalene Zimmermann 1889 und Heirat im Dezember 1889.
Friedrich Naumann schickte seiner Tochter Elisabeth (Lise) von überall kurze Grüße und malte immer wieder
seine Tochter.
Tochter Lise 07.08.1903.
Karte an Lise aus Schöneberg-Berlin
vom 04.08.1902.
19
Weitere Begabungen.
Wirklich breite und tiefe Wirkung war
indessen nicht dem Parlamentarier,
vielmehr dem Schriftsteller beschieden. So sehr er sich in die politische
Arena begeben hatte, so wenig ließ
er sich dabei zum politischen Fach­
idioten machen. Als frommer, der
Amtskirche freilich recht entfernter
Christ publizierte er „Briefe über
Religion“ schon ein Jahr nach seinem
Andachtsbuch, 1911 eine Aufsatz­
sammlung über „Geist und Glauben“,
schließlich mitten im Weltkrieg zum
400. Jahrestag der Re­formation
einen eindrucksvollen Essay über die
Freiheit Luthers. Da schrieb er über
das Glaubenserlebnis des jungen
Mönchs, über dessen Bibel­über­
setzung, die Kirchwerdung seiner
Botschaft und vieles mehr, aber auch
dieses:
„Ob Luther ein Dichter war? Erst in
der zweiten Hälfte seines Lebens hat
er Gesänge aufgeschrieben, und diese
sind fast nur liedartige Wiedergaben
der Bekenntnisse seines Glaubens,
kirchlich gehobene Worte im Kleide
der Singbarkeit wie ‚Ein feste Burg‘
und ‚Vom Himmel hoch‘. Aber es
würden sich seine Bekenntnisse nicht
so ohne weiteres ins Lied hineingefügt haben, wenn sie nicht schon
vorher in greifbaren Bildern und gut
gegossenen Begriffen in ihm vorhanden waren. Es ist wunderbar, wie
leicht er schwere innerliche Probleme
zur Ver­ständlichkeit gestaltet, ohne
dabei flach zu werden. Alles, was
20
er schreibt, ist, als werde es Auge
in Auge ge­sprochen. Er verkehrt
nicht mit dem Papier, das vor ihm
liegt, sondern unmittelbar mit den
Menschen, an die er seine Bücher wie
Briefe aus­sendet. Mit seiner eigenen Größe wächst die Kraft seiner
Sprache, und in hohen Augenblicken
findet er die Ausdrücke der Freude
und des Zorns, als sei er selbst eine
der großen Orgeln mit zahlreichen
Registern.“
So kann nur schreiben, wer selbst
– fast – ein Dichter ist und sich – ein
wenig – selbst beschreibt.
Ein Künstler war Naumann allemal.
Er dilettierte beachtlich als Zeichner
und Aquarellist; eines seiner vielen
Aquarelle, die er Freunden schenkte,
ist mir ein kostbarer Besitz. Er hatte
das sichere Auge, um Form und Farbe
zu erkennen, und die rasche Hand,
das Gesehene in Linien und Worte zu
fassen. „Form und Farbe“ ist der Titel
einer Sammlung seiner Kunstbe­trach­
tungen, die zumeist in der „Hilfe“
erschienen und von Rembrandt bis zu
Naumanns Zeitgenossen Liebermann
und Böcklin reichen, meist über Male­­­
rei, wenig über Bildhauerei; einiges
über Architektur, aber auch darüber,
wie man Zeichnen lernt, und ganz
am Schluss über die Frage, ob man
durch schöne Eindrücke besser werde.
LoremLeben,
Sein
ipsumsein
dorWerk,
sit amm
seine
dolor
Wirkung.
slor sit.
Die Antwort ist typisch Naumann,
nämlich eine kleine Geschichte:
„Es fuhren vorhin in der Eisenbahn
zwei Soldaten, ein Postschaffner,
ein Kaufmann und noch jemand. Die
Gegend lag in rötlichem Abendlichte,
die Heidestriche auf den flachen Ber­
gen brannten wie phönizischer Purpur,
die Kiesgruben strahlten wie Gold­
lager, alte schwarze Bäume standen
wie Reste aus dem Götzenzeitalter
in der seraphischen Landschaft. Die
Na­tur brannte so stark, dass die
ganze Gesellschaft still wurde und
sagte: Das ist schön! Man musste
fühlen, dass hier fünf Seelen künstlerisch tätig waren. Der reine Barbar
hat solche Augenblicke nicht.“
Der reine Politiker auch nicht. Ein
solcher reiner Poli­tiker war Friedrich
Naumann eben nie. Zwar verdiente
er seit 1897 seinen Lebensunterhalt
als politischer Publi­zist, dazu seit
1907 als Parla­men­ta­rier. Aber die den
heute sogenannten Berufspolitikern
oft nachgesagte Ein­äugigkeit war
ihm fremd. So wie er öffentlich
über Glaubensfragen auch weiterhin
sprach und schrieb, so war ihm Kunst
Lebensbedürfnis. Klarheit des Stils
galt ihm viel, sowohl im Wort als
auch in künstlerischer Gestaltung.
Deshalb wandte er, der leidenschaftliche Zeitgenosse, sich früh und scharf
gegen den seine Zeit beherrschenden
künstlerischen Eklektizismus, zumal
in der Architektur. Den gerade neu
gebauten Berliner Dom nannte er im
Vergleich zu dem „wirklich majestätischen Bau“ des gegenüberliegenden
Schlüter-Schlosses „eine Art Dekora­
tions­möbel“. Seine Sympathie galt der
sich entwickelnden Opposition zur
wilhelminischen Eklektik, den Archi­
tekten und Gestaltern, die aus der
jeweiligen Funktion klare, einfache
Formen entwickelten. Sie gründeten
1907 in München den „Deutschen
Werkbund“ – Naumann, der unermüdliche Redner und Organisator, war
führend dabei. Einige Jahre später
übernahm sein Adlatus Theodor Heuss,
wie Naumann ein Augenmensch, die
Geschäftsführung des Werkbundes
für eine längere Periode. Nicht nur
der Bauhaus-Stil nahm von da seinen
Ausgang. Industrielle Formgebung,
das Design, ist bis heute ohne den
Werkbund nicht denkbar. Naumann
gehört darum, wie Theodor Heuss
schon in seiner Biografie ge­sagt
hat, „der deutschen Kunstge­schichte
an, wenn man diese nicht nur
als Sammlung und Deutung von
Künstler­persönlichkeiten und ihren
Werken sehen, sondern den geistigen
Hintergrund umfassen will, vor dem
schöpferische Arbeit steht“. Diesen
Hintergrund brachte er einem breiten
Publikum nahe, durchaus mit Erfolg.
21
Werbezettel
für die Erstausgabe von
„Demokratie und Kaisertum“
aus dem Jahr 1900.
Neujahrsgruß Naumanns
zum Jahre 1896.
Friedrich Naumann mit
der „Hilfe“ während des
Ersten Weltkrieges.
22
LoremLeben,
Sein
ipsumsein
dorWerk,
sit amm
seine
dolor
Wirkung.
slor sit.
„Die Zeit. Nationalsoziale
Wochenschrift“. Probenummer
vom September 1901.
Die künstlerischen Neigungen
Friedrich Naumanns
veran­lassten ihn, an der
Organisation des Werkbundes
und wohl auch an deren
Satzung mitzuarbeiten.
23
„Mitteleuropa“.
Nicht als Kunstfreund, sondern als
homo politicus feierte Friedrich Nau­
mann schließlich seinen größten und
anhaltendsten Bucherfolg, den im
Kaiserreich nur Bismarcks „Gedanken
und Erinnerungen“ übertrafen: „Mittel­
europa“, als Schrift über die deutschen
Kriegsziele 1915 erschienen. Bis heute
ist dieses Buch umstritten: Als ich vor
einiger Zeit in der Zeitschrift „liberal“
den Versuch einer gerechten, dabei
durchaus kritischen Würdigung un­ter­
nahm, folgte sogleich in den „Blättern
für deutsche und internationale
Poli­tik“ eine scharfe Replik, deren
Autor darauf bestand, hier habe sich
der Christ Naumann als Nationalist,
ja schlimmer noch als Imperialist
entlarvt.
Nun ist „Mitteleuropa“ freilich alles
andere als eine Aufforderung zum
Pazifismus. Bertha von Suttners Ruf
„Die Waffen nieder!“ blieb Naumanns,
an Max Webers Machtdenken
ge­schultem Denken zeitlebens fremd.
Das Buch ist zunächst einmal Produkt
der deutschen Lage nach einem
Kriegsjahr bei hin- und herwogendem
Kriegsglück. In dieser Lage hatte
sich eine heftige Diskussion über die
deutschen Kriegsziele entwickelt mit
weitreichenden Annexions­forde­run­gen
der führenden Militärs und ihrer politisch-publizistischen Helfer: Belgien
und Polen wurden da ganz selbstverständlich dem Deutschen Reich
einverleibt, und ebenso selbstverständlich sollten nicht nur die schon
ver­lorenen Kolonien wiedergewonnen,
sondern weite Gebiete Afrikas ihnen
zugeschlagen werden. Dagegen
24
erhoben sich Stimmen der Vernunft,
die einen Verständigungsfrieden ohne
größere Annexionen anstrebten –
die spätere „Friedensresolution“ des
Reichs­tages, für die sich 1917 die Links­
liberalen mit Zentrum und Sozial­de­
mo­kraten zusammenfanden, war ihr
politisches Werk. Ihnen gab Naumann
mit seinem Buch ein zukunftsorientiertes Konzept.
Es bestand im Wesentlichen darin,
dass das Deutsche Reich mit dem es
umgebenden Kranz kleiner Staaten,
vor allem aber mit Österreich-Ungarn
„Mitteleuropa“ bilden sollte. Kein
bloßes Militärbündnis sollte nach
Naumanns Vorstellung im Herzen des
Kontinents entstehen, und auch nicht
nur ein Staatenbund, sondern eine
feste Organisation, deren übernationales Dach für die gemeinsame Wirt­
schaftsordnung und eine gemeinsame
Verteidigung sorgen würde. Unschwer
können wir heute erkennen, dass
hier die Struktur und Zielsetzung der
westeuropäischen Integration unserer
Tage vorgedacht wurde, freilich
be­grenzt auf einen geografischen
Raum, in dem dem Deutschen Reich
eine Führungsrolle wie von selbst
zufallen würde. So muss das Urteil
über Naumanns Konzept nach zwei
Weltkriegen, in deren Mittel­punkt
Deutschland stand, zwiespältig ausfallen.
LoremLeben,
Sein
ipsumsein
dorWerk,
sit amm
seine
dolor
Wirkung.
slor sit.
In der DDP.
Auf der einen Seite steht positiv, dass
Naumann das Ende des souveränen
Nationalstaates und die Notwen­dig­
keit übernationaler Inte­gra­tion kommen sah. Doch machte er sich auf der
anderen Seite vom He­ge­moniean­spruch
des Deutschen Reiches in der Mitte
Europa nicht frei – da blieb er seiner
Zeit angehörig.
Der weitere Verlauf des Krieges
und endgültig dann die Niederlage
von 1918 machten aus Naumanns
Überlegungen Makulatur. Die
Sieger zerschlugen die Habsburger
Monarchie, zwangen das Deutsche
Reich zu Gebietsabtretungen und
sorgten dafür, dass seine kleineren
Nachbarn in misstrauischem
Abstand zur deutschen Politik blieben. Auch verhinderten sie den
Beitritt des schwer amputierten
Deutschösterreich, für den Naumann
gemeinsam mit allen demokratischen
Politikern in Berlin und Wien noch kurz
vor seinem Tod entschieden eintrat.
Wie kurzsichtig diese Siegerpolitik
war, wissen wir heute nur zu gut.
Naumann lehnte sich leidenschaftlich
gegen sie auf. Der Versailler Friedens­
vertragsentwurf sei Volksmord, rief er
aus, gegen den passiver Widerstand
des ganzen Volkes geleistet werden
müsse: „Wir zahlen nicht, wir unterschreiben nicht, bis man bereit ist,
uns als Menschen zu behandeln“,
schrieb er in der „Hilfe“. Doch schließ­
lich entschied sich der Reichstag
unter dem massiven Druck der sieg­
reichen Kriegsgegner mit Mehrheit
für die Unterzeichnung. Naumanns
und seiner Freunde „Nein“ konnte nur
noch pa­trio­tische Geste sein.
Als dies geschah, war Friedrich Nau­
mann schon tief erschöpft und krank,
körperlich wie seelisch. In die verfassungsgebende Nationalversammlung,
die nach dem Sturz der Hohen­zollern
in Weimar tagte, war er als ein
Hoffnungsträger gewählt worden.
Es galt, unter dem Druck der militärischen Niederlage und inmitten
gewal­t­samer Aufstände von links und
rechts die neue Republik zu bauen.
Diese Aufgabe erforderte die ganze
Kraft. Naumann weigerte sich darum
auch nicht, als die neu gegründete
Deut­sche Demokratische Partei, der
er sich als der Nachfolgerin der bisherigen linksliberalen Gruppen angeschlossen hatte, ihn bat, ihr Vorsit­zen­
der zu werden. Die Partei hatte bei
der Wahl zur Nationalversammlung
mit 18,5 Prozent der Stimmen
einen großen Erfolg errungen und
war als drittstärkste Fraktion nach
den So­zialdemokraten und dem
katholischen Zentrum in das erste
Nachkriegs­par­la­ment eingezogen.
Diese Stellung galt es zu halten,
womöglich zu verbessern. Naumann,
der Anwalt des Bünd­nisses zwischen
Bürgern und Arbei­tern, der glänzende
Redner und Schrift­stel­ler, der unermüdliche Organisator, war dafür die
beste Wahl. Mit Mehr­heit bestellte
ihn der Berliner Partei­tag der DDP am
21. Juli 1919 zum Parteivorsitzenden.
Es war Naumanns erstes großes
politisches Amt. Fünf Wochen später
ereilte ihn der Tod.
25
Im Archiv des Liberalismus (AdL) in Gummersbach befindet sich
eine Vielzahl der künstlerischen Werke Friedrich Naumanns.
Friedrich Naumanns künstlerische Begabung zeigte sich in vielen
Bleistift- und Tuschezeichnungen und Aquarellen, die in all den
Jahren entstanden sind.
Venedig, 1905. Tuschezeichnung.
26
LoremLeben,
Sein
ipsumsein
dorWerk,
sit amm
seine
dolor
Wirkung.
slor sit.
Cette, 07.04.1910. Aquarell.
Cette, 07.04.1910. Aquarell.
27
Vermächtnisse.
Drei politische Initiativen hinterließ
er als sein unmittelbares Ver­mächt­
nis. Die erste wirkt bis heute unmit­
tel­bar nach, nämlich sein großer,
vielleicht entscheidender Anteil an
der Neuregelung des Verhältnisses
zwischen Staat und Kirche in der
Weimarer Reichsverfassung. Sie war
notwendig geworden, vor allem für
die evangelischen Kirchen, durch den
Sturz der deutschen Monarchien, der
zugleich das Ende der bischöflichen
Stellung der Landesfürsten bedeutete.
Die Kirchen wurden damit vom Staat
unabhängig – aber welche Rechts­
form sollten sie nun haben?
Naumann überzeugte die traditionell
kirchenferne Sozialdemokratie davon,
dass die Kirchen am besten Körper­
schaften des öffentlichen Rechts
würden. So geschah es und ist bis
heute geltendes Verfassungsrecht,
seit dem Einigungsvertrag und dem
Beitritt der DDR zum Grundgesetz
auch in den östlichen Bundesländern.
Das zweite Vermächtnis wurde zwar
nicht Teil der Weimarer Verfassung,
bleibt indes gleichwohl bemerkenswert: Friedrich Naumanns „Versuch
volksverständlicher Grundrechte“. Er
legte diesen Text dem Verfassungs­
ausschuss der in Weimar tagenden
Nationalversammlung Ende März
1919 als Antrag vor. Dass die Ver­fas­
sung einen Katalog der Grundrechte
des Bürgers enthalten sollte wie schon
die Paulskirchenverfassung von 1849,
war unstrittig. Naumann wollte,
dass sie in Inhalt und Stil bürgernah
seien. So übernahm er zwar einige
28
traditionelle Formeln wie den Satz:
„Alle Deutschen sind vor dem Gesetz
gleich.“ Aber er formulierte zum
Beispiel auch: „Jeder Deutsche ist ein
Wertgegen­stand der Nation, solange
er seines Volkes würdig bleibt.“ Oder:
„Das Vaterland steht über der Partei.“
Und auch: „Ordnung und Freiheit
sind Geschwister.“ Dann ganz aktuell:
„Schulden zu bezahlen ist öffentliche
und private Pflicht.“ Ebenso aktuell:
„Lohnfragen sind Daseinsfragen.“ Ja
sogar: „Wer nicht arbeiten will, der
soll auch nicht essen!“
Mit solchen Sätzen konnten die
ge­lehrten Verfassungsjuristen freilich
wenig anfangen. Der Antrag Nau­
manns wurde nicht Gesetz. Beden­
kenswert bleibt der Versuch doch mit
seiner Absicht, den Individualrechten,
jenem unverzichtbaren Erbe des klassischen Liberalismus, Individual­pflich­
ten beizugesellen. Denn, so Naumanns
Begründung, je höher das Recht des
einzelnen Staatsbürgers wachse, desto
höher werde auch das, was der Staat
von ihm verlangen könne. Da klingt
durch, was auch uns heute Stoff zum
Nachdenken sein sollte.
Wichtigstes Vermächtnis aus Nau­
manns letzten Lebensjahren ist indes­
sen, was er seiner Zeit und auch uns
zur politischen Erziehung sagte. Stets
hatte er sich selbst nicht als bloßen
Machtmenschen, sondern vielmehr
als Volkserzieher verstanden, der in
Rede und Schrift die Mitbürger, jung
und alt, zur Mündigkeit hinzuführen
suchte. Nun entwickelte er im letzten
Kriegsjahr, angesichts der vorherseh-
LoremLeben,
Sein
ipsumsein
dorWerk,
sit amm
seine
dolor
Wirkung.
slor sit.
baren Niederlage, in vier „Briefen an
junge Freunde“ den Plan einer „freien
deutschen Hochschule für Politik“,
die als Staatsbürgerschule der Erzie­
hung zur Demokratie dienen sollte.
Wohl wusste er, dass Politik nur
be­grenzt lernbar sei; in der Politik, so
schrieb er den jungen Freunden, „sind
alle Kenntnisse nur Hilfsmittel und
Werkzeuge, die nicht fehlen dürfen
und deren Handhabung gelernt sein
will, von denen allein aber keine
schöpferische Kraft und nicht einmal
eine klare Entschiedenheit ausgeht.
Politik ist nie ohne gelernte Bildung,
aber sie selbst ist kein Wissen, sondern
ein Können und Wollen, das weit
tiefer in der menschlichen Natur
be­grün­det sein muss als nur durch
Unter­richtsstunden.“ Ja, Politik sei
eine Kunst, geboren, nicht anerzogen,
aber durch Erziehung arbeitsfähig
ge­macht. Erziehung zur Politik ist
also nötig, damit die Bürger ihre
Fähigkeit zur Politik in tätiges
Handeln umsetzen können.
Aus solcher in der eigenen Erfahrung
gewonnenen Erkenntnis zog Friedrich
Naumann sogleich die praktische
Konsequenz: noch im gleichen Jahr
begannen in Berlin, gestützt auf eine
Spende seines Freundes und Förde­rers
Robert Bosch, Staatsbürgerkurse für
junge Menschen. Nicht Parteischule
sollten sie sein, sondern Stätte
des offenen Dialogs zum Nutzen
der jun­gen Demokratie. Aus ihnen
ging nach Naumanns Tod 1920 die
Deut­sche Hochschule für Politik
hervor, an der Theodor Heuss lehrte,
bis sie 1933 von den Gefolgsleuten
Hitlers übernommen und ihres Sinns
beraubt wurde. Dass die Weimarer
Republik scheiterte, weil es zu wenig
Demo­kra­­ten gab, zeigte freilich,
dass politische Bildung eine langfris­
tige Aufgabe ist. Nach der großen
Katastrophe wiedergegründet, hat die
Berliner Hoch­schule denn auch einer
erklecklichen Zahl damals junger
Menschen, da­runter vielen politischen Flüchtlingen aus Sowjetzone
und DDR, den Weg zu politischer
Verantwortung geöffnet; mein Freund
Karl-Hermann Flach gehörte zu
ihnen. Sie ging schließlich als OttoSuhr-Institut in der Freien Universität
Berlin auf, nicht zum Vorteil ihrer
ursprünglichen Aufgabe. Doch das ist
eine andere Geschichte.
Das Schicksal, das die Zeitläufe der
Staatsbürgerschule Friedrich Nau­
manns bereiteten, steht geradezu
symbolhaft für die Nachwirkung
seines ganzen Lebenswerks. Schon zu
seinen Lebzeiten standen Erfolg und
Scheitern stets nahe beieinander. In
gleicher Weise endete die Republik,
die er mitbegründet, und die Partei,
der er vorgesessen hatte, nach ersten
Erfolgen schmählich in den Strudeln
der großen Krise.
29
Reichstagswahl 1903, nach der Wahlniederlage.
30
LoremLeben,
Sein
ipsumsein
dorWerk,
sit amm
seine
dolor
Wirkung.
slor sit.
Mitglieder des Nationalsozialen Vereins 1896.
Adolf Damaschke (ganz rechts unten),
Hellmuth von Gerlach (2. v. l. unten),
Friedrich Naumann (Mitte oben),
Adolf Pohlmann, Wilhelm Ruprecht,
Martin Wenck (2. v. l. oben).
Gruppenfoto mit den Mit­gliedern des
Nationalsozialen Vereins auf den Stufen
des Ausflugslokals Lüderitz in Werder
um 1900.
31
Das Nachleben.
Und doch wirkten Leben und Werk
Naumanns vielfach nach, vor allem in
den vielen Menschen, die er nachhaltig
prägte. Da ist an erster Stelle Theodor
Heuss zu nennen.
Die öffentliche Erinnerung an Frie­d­
rich Naumann, seinen verehrten, ja
geliebten politischen und menschlichen Mentor, hat Heuss zeitlebens
gepflegt. Das begann unmittelbar
nach Naumanns Tod, als Theodor
Heuss unter dem Titel „Gestalten
und Gestalter“ eine Sammlung von
„lebens­geschichtlichen Bildern“, also
historisch-biografischen Skizzen,
aus Naumanns Feder herausgab. Im
Vorwort evoziert Heuss die sprachliche Ausdruckskraft dieser Texte
und ihre Besonderheit im Werk Nau­
manns, weil sie nämlich nicht von
Sachen handeln, sondern von Men­
schen. Theodor Heuss: „Indem Nau­
mann ihnen ins Auge blickt und mit
ihnen redet, leuchtet der Adel seines
eigenen Wesens: die starke Ehrfurcht
vor Größe und historischer Leistung,
die auch fremder Welt gerecht wird,
der warme Sinn für bürgerliche Tüch­
tigkeit, die liebenswürdige Lau­ne, die
gerne und mit Anmut dankbar ist.“
32
Da wird schon sichtbar, dass Theodor
Heuss an den ganzen Naumann zu
erinnern gedachte, nicht bloß an
den Politiker. Solche Absicht prägte
erst recht die große NaumannBiografie, die Heuss im Jahre 1937
veröffentlichte. Unter welch großen
Schwie­rig­keiten diese Publikation
zustande kam, hat Werner Stephan,
erster Ge­schäftsführer der FriedrichNaumann-Stiftung, als beteiligter
Zeitzeuge in einem einleitenden
Aufsatz zur 1968 erschienenen
Taschenbuchausgabe der NaumannBiografie lebhaft geschildert. Heuss
sah das Gelingen dieses Werkes, wie
er in seinen Erinnerungen schreibt,
als eine der Beglückungen seines
Lebens: „Die Pflicht meines Seins
schien mir mit dieser Leistung
erfüllt.“
Den ganzen Mann in seiner Zeit, das
ganze Werk wollte Heuss schildern.
Freilich war seine Perspektive auf
den Politiker Naumann auch von
der da­maligen Zeit geprägt, vom
Zusam­men­bruch der von Naumann
mitbegründeten Weimarer Republik
und vom Sieg Hitlers und seiner
Be­we­gung. Nicht der anscheinend
ge­schei­terte Politiker steht also im
Vorder­grund. Naumanns „geschichtliche Mächtigkeit“, resümiert
Heuss am Schluss, „ist geistiger
LoremLeben,
Sein
ipsumsein
dorWerk,
sit amm
seine
dolor
Wirkung.
slor sit.
und moralischer Art“, als solche
indes, wie der aufmerksame Leser
schon damals un­schwer erkennen
konnte, erst recht ein Gegenbild zur
nationalsozialistischen Gegenwart.
Naumann habe, so Heuss weiter,
„seinen Auftrag erfüllt, indem er das
schlichte Beispiel der Hingabe und
der Wahrhaftigkeit hinterließ ... Die
letzte Rangordnung, die ihm gemäße,
ist die sittliche. Vor ihr schweigt die
Ehrfurcht.“ Bemer­kenswerter Schluss
einer 1937 in Deutschland publizierten Biografie!
Daran war nach der großen Katas­tro­
phe von Krieg und totaler Niederlage
ohne Bruch anzuknüpfen. Und so
er­innerte der frisch gewählte Bundes­
präsident der gerade erst gegründeten
Bundesrepublik Deutschland nach
seiner Wahl, in seiner ersten Anspra­
che am 12. September 1949, bewusst
an zwei Männer, die ihn, sein Denken
und Wirken geformt hatten: an seinen
Vater, der die demokratische Tradition
von 1848 verkörperte, und an Frie­d­
rich Naumann, „der das wachsende
Leben gestaltet hat und ohne den
ich nicht wäre, was ich bin“. Ihm
verdankte er „das Wissen, dass die
Nation nur leben kann, wenn sie
von der Liebe der Massen des Volkes
getragen wird“. Und er zitierte einen
der be­kannten Kernsätze Naumanns:
„Das Bekenntnis zur Nationalität und
zur Menschwerdung der Masse sind
für uns nur die zwei Seiten einer und
derselben Sache.“
Ein solcher Satz käme heute wohl
nur schwer über Politikerlippen. Man
muss erinnern, in welche Situation
er hineingesprochen wurde: zerstörte
Fabriken und Städte, entwurzelte
Menschen, Massenarmut und Massen­
arbeitslosigkeit, heftige soziale
Span­nungen, vollzogene Teilung
Deut­sch­lands. Die Furcht vor großen
Unruhen, gar vor Krieg war bei den
meisten größer als die Hoffnung auf
friedli­chen Aufbau. Dagegen nun
Heuss nach seiner Wahl: „Wir haben
die Aufgabe im politischen Raum,
uns zum Maß, zum Gemäßen zurückzufinden und in ihm unsere Würde
neu zu bilden, die wir im Innern der
Seele nie verloren.“ Nur auf dieser
Meta-Ebene, jenseits des zaghaft
wieder wachsenden Wohlstandes,
würde, davon war Heuss überzeugt,
die Ge­sundung der Deutschen gelingen. Friedrich Naumann, der vom
christlichen Glauben geprägte Realist,
der vom Ethos des Mitleidens erfüllte
Arbeitspfarrer, der um die Versöh­nung
der Klassen kämpfende Reformer, der
auf menschliche Bereitschaft zur Bes­
serung bauende Volkserzieher sollte
dazu hilfreich sein.
33
Mit dieser Hoffnung, überhaupt mit
dem Rückgriff auf den Reformer
Naumann stand Heuss nicht allein.
Die erste Naumann-Renaissance fand
schon sehr bald nach dem Ende von
Krieg und Diktatur in der sowjetischen
Besatzungszone Deutschlands statt.
Die zum Entsetzen der deutschen
Kommunisten und der Besatzungs­
macht überaus erfolgreiche Liberal­
demokratische Partei erkor ihn zu
einem ihrer Vorväter. Hatte nicht
Nau­mann das Soziale in den deutschen
Liberalismus wieder eingeführt? Ihn
zu zitieren hieß, sich zum modernen
Liberalismus zu bekennen, sich aber
zugleich von der kapitalistischen Ent­
artung liberaler Auffassungen abzusetzen und damit den Besatzern ein
Stück weit entgegenzukommen.
Was der Ost-CDU ihr „christlicher
Sozialismus“, das war der LDP ihr
Bekenntnis zur Sozialreform à la
Naumann und zur Bodenreform
seines Mitstreiters Damaschke.
Un­zäh­li­ge nach Naumann benannte
Straßen in vielen Städten der DDR
zeugen davon. Sie wurden allerdings
später, im Zeichen des „entwickelten
Sozialis­mus“ und der vollzogenen
Block-Inte­gration der LDP, zumeist
wieder umbenannt.
34
Der Sozialreformer Naumann als
Zeuge für einen „dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus
– das gab es auch im deutschen
Wes­ten. Zwei führende Protestanten
bekannten sich in diesem Sinn während der 50er- und 60er-Jahre zu
seinem Erbe: Eugen Gerstenmaier und
Erhard Eppler. Der eine unternahm
1958 in einer programmatischen
Rede auf dem Kieler Bundesparteitag
der CDU den Versuch, durch den
Rückgriff auf Naumann die christlich-soziale Position seiner Partei zu
legitimieren. Der andere publizierte
1961, nachdem er der SPD beigetreten war, eine Auseinandersetzung
mit dem Erbe Naumanns unter dem
kenn­zeichnenden Titel „Liberale und
soziale Demokratie“. Beiden lag, so
verschieden sie sich parteipolitisch
orientierten, das soziale Engagement
am Herzen, begründet in der evangelisch-sozialen Tradition, zu der
Naumann ganz gewiss gehört, vor
allem in der ersten Phase seiner
öffentlichen Wirkung. Von Naumanns
späterer Hinwendung zu liberaler
Politik ist darum bei beiden weniger
die Rede.
LoremLeben,
Sein
ipsumsein
dorWerk,
sit amm
seine
dolor
Wirkung.
slor sit.
Bundespräsident
Theodor Heuss im Jahre 1950.
Theodor Heuss im
Parlamentarischen Rat 1948
und mit Bundeskanzler
Konrad Adenauer.
35
Die Stiftung.
In den Rang eines der sozusagen
kanonisierten Vorväter der neuen
Republik wurde Friedrich Naumann
indessen durch Theodor Heuss erhoben, und zwar durch die Gründung
der Friedrich-Naumann-Stiftung im
Jahre 1958. Die Geschichte dieser
Gründung, überhaupt der Stiftung,
muss zwar erst noch geschrieben
werden (ein dringendes Desiderat!).
Doch kann ich dazu als ein Zeitzeuge
schon jetzt einiges beitragen.
Im Jahr zuvor, am 15. September 1957,
hatten die Bürger der Bundesrepublik,
als sie den dritten deutschen Bundes­
tag wählten, Konrad Adenauers
christlich-demokratisches Parteien­
bündnis mit einer absoluten Mehrheit
der Stimmen und Sitze ausgestattet,
die oppositionelle FDP dagegen durch
deutliche Stimmverluste gestraft. Die
liberale Partei war im Frühjahr 1956,
übrigens gegen Heuss’ Willen, aus der
Regierung ausgeschieden, hatte sich
darüber gespalten und sah nun, mit
7,7 Prozent der Stimmen, einer fortdauernden Existenzkrise entgegen.
Wie sie überwinden? Wie vor allem
die junge Generation wiedergewinnen? Einige Nachdenkliche, unter
ihnen der FDP-Bundesgeschäftsführer
Werner Stephan und sein potenzieller Nachfolger Karl-Hermann
Flach, antworteten: durch politische
Bildungs­arbeit und durch programmatisches Nachdenken. Darunter
war zweierlei zu verstehen. Einmal
sollte der jungen Generation politisches Wissen vermittelt werden,
um sie zum politischen Engagement
fähig zu machen. Zugleich wollte
36
man eine umfassende Debatte über
die geistigen Grund­la­gen und die
politischen Ziele liberaler Politik ins
Werk setzen. Das eine sollte das
andere befruchten. Systema­ti­sche
Bildungsarbeit und Bestimmung
langfristiger Ziele hatte es bis dahin
im nach 1945 mühsam wiedererstandenen liberalen Umfeld nicht gegeben. Das „Berliner Programm“ der
FDP von 1957, ihr erstes umfassendes
Programm überhaupt, war kaum mehr
als eine Zusammenfassung schon
vorhandener Positionen. Schulungs­
seminare gab es nur in Ansätzen,
begrenzt auf die Vorbereitung von
Wahlkämpfen. Beides, Bildungs- und
Programmarbeit, war mithin neu zu
begründen. Beides aber sollte von
den Zwängen der Parteidisziplin
frei sein, vielmehr offen und darum
attraktiv auch für Menschen, die
keiner Partei angehören.
Diese Unabhängigkeit war, so sahen
es die Gründer, am besten zu sichern,
wenn die beiden Aufgaben einer Stif­
tung übertragen würden. Die FriedrichEbert-Stiftung war das Vorbild, wenn
diese sich auch inzwischen als eingetragener Verein organisiert hatte.
Theodor Heuss, von Werner Stephan
aufgrund ihrer jahrzehntelangen
Verbindung darauf angesprochen,
reagierte zu­stimmend. Ihm war nicht
gleichgültig, was aus dem politisch
organisierten Liberalismus werden
LoremLeben,
Sein
ipsumsein
dorWerk,
sit amm
seine
dolor
Wirkung.
slor sit.
würde, obgleich ihn sein Präsidenten­
amt zur öffentlichen Neutralität
verpflichtete. Er nutzte seine vielfältigen Verbin­dun­gen zum geistigen,
wissenschaftlichen und politischen
Leben, um einen Kreis angesehener
Persönlichkeiten als Gründungs­
kuratorium, Vorstand und Beirat
der Stiftung zu versammeln. Liberal
sollten sie sein, mit oder ohne
Parteibuch. Die Liste der Gründer
reicht denn auch von den Professoren
Walter Erbe und Paul Luchtenberg,
den führenden Kulturpolitikern der
FDP, über den Historiker Hermann
Heimpel und Bischof Hermann Kunst
bis zu Richard von Weizsäcker, damals
noch parteilos.
Heuss war es auch, der der Stif­tung
ihren Namen gab. Er selbst wollte
nicht ihr Namenspatron sein; erst
nach seinem Ausscheiden aus dem
Präsidentenamt stimmte er zu, der
ersten, nach seinem Tod 1967 eröffneten Bildungsstätte der Stiftung
seinen Namen zu geben. Er wies auf
Friedrich Naumann hin und vor allem
auf die von diesem kurz vor seinem
frühen Tod begründete „Staats­bür­
ger­schule“, aus der die Berliner
Hochschule für Politik hervorgegangen war. Heuss hatte an ihr gewirkt,
bis ihn die Nazis 1933 aus dem
Lehramt entfernten. Karl-Hermann
Flach hatte an der wiederbegründeten Hochschule als Flüchtling aus der
Sowjetzone seine ideell-politische
Formung erfahren, angeleitet durch
Hans Reif, der nun zum Gründerkreis
der Stiftung gehörte. So bedeutete
die Namensgebung auch einen
be­wussten Akt der Kontinuität.
Zudem war die Aufgabenstellung
nach 1945 so verschieden nicht von
dem, was Naumann 1918 seiner –
von Robert Bosch finanzierten –
Gründung mit auf den Weg gegeben
hatte. Beide Male fiel die Demokratie
den Deutschen nach einem verlorenen Krieg zu. Was in anderen
Ländern lange Tradition oder ein
revolutionärer Aufbruch bewirkt
hatte, nämlich die Verankerung
der liberalen Demokratie im Volke,
muss­te bei uns durch eine wahre
Volks­er­ziehung nachgeholt werden.
„Erziehung zur Politik“ lautete
darum die Überschrift zu Naumanns
letzter Schrift, mit der er seiner
Staatsbürgerschule die Ziele setzte.
In vier Reden an junge Freunde legte
Naumann dort dar, wie die Politik
nach dem Krieg aussehen müsse.
Schon früher, 1914, hatte er, der als
Redner so erfolgreich war wie als
Publizist, sich in nicht weniger als
hundert Punkten über die Kunst der
Rede verbreitet, weniger über ihre
Theorie als vielmehr über ihre Praxis.
Das ist noch heute lesenswert.
37
„Wir können ohne politische Generalideen nicht
leben, obwohl wir den nur relativen Charakter
dieser Ideen er­kannt haben. Jede Zeit hat ihre
eigenen Generalideen, da aber jede Zeit gleichzeitig Vergangenheit, Gegen­wart und Zukunft in
sich trägt, so hat sie auch gleichzeitig Ideen, die
erst noch Illusio­nen, die eben Wahrheit geworden
und die schon wieder verblaßt sind. Ein gewisses
Stadium in der erst werdenden Idee heißt Utopie.“
Aus: Friedrich Naumann,
Die Illusion in der Politik (1904).
„Und wenn wir klagen, daß der Fortschritt der Freiheit im deutschen Volke kein eilender ist, so zwingt uns diese Beobachtung, bis
in den Untergrund der Seelen hineinzuschauen und zu erwägen,
wieviele arme Nützlich­keits­seelen vorhanden sind, die zu jeder
Knechtschaft bereit sind, wenn man sie nur in Ruhe läßt. Man will
sich nicht kompromittieren, nicht anstoßen, nicht stören, nicht
unbequem werden. Das aber schadet alles der Freiheit im gan­zen.
Das erste darum, was wir tun können, um an der allgemeinen
Freiheit mitzuhelfen, ist, daß wir selber frei zu werden suchen,
soviel uns immer möglich ist.“
Aus: Friedrich Naumann,
Das Ideal der Freiheit (1905).
38
Sein Leben, sein Werk, seine Wirkung.
„Wie es kleine Ästhetiker gibt, so gibt es auch kleine Politiker. Der eine
strebt in Aus­stel­lun­gen und andere in Ministerien oder Kam­mern und
beide sind hohl, weil sie nicht überwältigt sind von der Größe ihrer
Auf­gabe, sondern nur sich selbst dienen mit allem Getue und Geplärre.
Diese Sorte kann einem jede Politik und Kunst verderben, und ein Teil
der Mißachtung der Politik in ästhetischen Kreisen kommt auf das
Konto der Unterwertigen von den politischen Berufs­vertretern. Aber
würde es recht sein, die Künste nach ihren Heloten zu beurteilen? Ist
es recht, die Politik mit solchem Maße zu messen? Jeder, der sie näher
kennt, weiß, wieviel reale Arbeit in sie hineingesteckt wird. Achtung
vor dieser volkserhaltenden, staatsbildenden Arbeit!“
Aus: Friedrich Naumann,
Der ästhetische Mensch und die
Politik (1908).
„Es glauben Leute, es gäbe nichts Höheres in der Natio­
nalität, als immer den Unter­drückten zu spielen und
nach jeder Richtung zu klagen, was die anderen für
Übeltaten an uns getan haben. Der ganze Katalog der
ewigen nationalistischen Klagen ist zugleich ein Kata­
log des Schwäche­gefühls; denn diejenigen, die ihres
Deutschtums sicher und frei sind, die auf ihren Staat
vertrauen und an seine Größe und Zukunft glauben, die
werden innere Freiheit und Geduld genug haben, um
auch den anderssprachigen Nationen neben uns und
wenn es sein muß, unter uns ihre eigene Freiheit und
Ent­wicklung zu gönnen und zu erleichtern.“
Aus: Friedrich Naumann,
Auf dem Weg zum Volksstaat
(1917).
39
Traditionspflege.
Als Theodor Heuss der am 19. Mai
1958 in seinem Amtssitz förmlich
gegründeten Friedrich-NaumannStiftung ein halbes Jahr später auf
ihrer ersten öffentlichen Tagung durch
einen Vortrag abermals sein Gewicht
lieh, konnte der Titel des Vortrags
nicht anders lauten als „Friedrich
Naumanns Erbe“. Er bot indessen alles
andere als Heiligenverehrung. Vor
den Zuhörern, unter denen sich Eugen
Gerstenmaier befand, zeichnete er
das Bild eines leidenschaftlichen
Zeit­genossen der wilhelminischen
Ära, eines Mannes, der sich im Laufe
seines öffentlichen Wirkens mehrfach
wandelte und dabei stets in der
un­aufhebbaren Spannung zwischen
dem christlichen Liebesgebot und
dem Machtanspruch jeglicher Staat­
lich­keit lebte. Heuss warnte davor,
Naumann „in einen Liberalen aus
dem deutschen Bilderbuch umzumalen“, und ebenso davor, dessen
politische Ideen, zum Beispiel über
Mitteleuropa, für noch verwendbar
zu halten. „Seine Werke“, fügte Heuss
hinzu, „geben kein Lo­sungs­büchlein
für gegenwärtige Ver­haltensform.“
Sein eigentliches Erbe sei vielmehr, „dass dieser Mann, der in so
großartiger Weise ein Lehrender
gewesen ist, immer ein Lernender
vor den Wirklichkeiten blieb, um sich
ihnen in der Freiheit einer sittlichen
Entscheidung zu stellen“.
40
Dies darf auch heute noch gelten,
unter seither gründlich veränderten
Umständen im Lande und in der Welt.
Dass Friedrich Naumann schon da­mals
und erst recht jetzt in den Dämmer
der Vergangenheit zurückgetreten
ist, hat natürlich nicht gehindert,
dass die Friedrich-Naumann-Stiftung
es als ihre Ehrenpflicht ansah, die
Werke ihres Namenspatrons neu
und ge­sammelt herauszugeben. Das
geschah freilich nur in einer Auswahl,
aber immerhin in sechs Bänden,
die ab 1964 beim Westdeutschen
Verlag erschienen, wissenschaftlich
von Heinz Ladendorf, Alfred Milatz,
Theodor Schieder und Walter Uhsadel
betreut. Das Geleit­wort aus der
Feder von Theodor Heuss ist auf
den November 1963 datiert, wenige
Wochen vor seinem Tod.
Er­gänzend veranlasste die Stiftung
eine dritte Auflage der Heuss’schen
Naumann-Biografie, 1968 mit einleitenden und erläuternden Texten von
Alfred Milatz und Werner Stephan in
der Reihe der Sieben­stern-Taschen­
bücher publiziert.
Nachwirkungen großer Persönlich­kei­
ten gehen manchmal seltsame Wege.
Im Falle Naumanns ist zu vermelden,
dass er in der öffentlichen politischen
Debatte der späten 60er- und frühen
70er-Jahre gern als ein Vorläufer der
sozialliberalen Koalition zitiert wurde.
Hatte er nicht unter dem Stichwort
„Von Bassermann bis Bebel“ einst
vor dem Ersten Weltkrieg für eine
solche Koalition gefochten? War er
nicht unter dem Stichwort „Fabrik­
LoremLeben,
Sein
ipsumsein
dorWerk,
sit amm
seine
dolor
Wirkung.
slor sit.
demokratie“ ein früher Verfechter der
betrieblichen Mitbestimmung? Aus
solcher Sicht musste das Freiburger
Programm der FDP von 1971 als
eine geradlinige Fortsetzung der von
Naumann betriebenen Reform des
deutschen Liberalismus erscheinen.
Ich bekenne, an dieser Sicht nicht
un­­schuldig zu sein. Doch ist hinzuzufügen, dass sie nicht den ganzen
Naumann in den Blick nimmt – nicht
den frühen Anhänger von Stöckers
christlich-sozialem Konservatismus,
nicht den späten Mitautor der „großen
Koalition“ von 1917 gegen Mili­tär­
herrschaft und für einen Verständi­
gungsfrieden, welche in die Weimarer
Koalition aller staatstragenden Par­
teien mündete. So ist es eben, wenn
große Namen zu politischen Zwecken
genutzt werden. Im Falle Naumanns
führte dieser Gebrauch dazu, dass der
große Mann nach der Koalitions­wen­de
von 1982 unter vielen Liberalen kaum
mehr zitierfähig war. Selbst die nach
ihm benannte Stiftung ließ zeitweise
durchblicken, man könne mit dem
Namenspatron nur noch wenig
an­fangen. Inzwischen hat sie sich zu
ihrem eigenen Vorteil eines Besseren
besonnen.
Aufgabe des Historikers unter solchen,
auch sonst wohl bekannten Um­stän­
den ist, wie Lichtenberg einst sagte,
die Fackel der ganzen Wahrheit ins
Ge­dränge zu halten, auch wenn der
eine oder andere Bart an ihr versengt
wird. Zwar ist damit die politische
Aus­beu­tung der Vergangenheit zu
gegenwärtigen politischen Zwecken
nicht zu verhindern. Aber der nötigen
his­torischen Fundierung der zweiten
deutschen Demokratie ist besser
ge­dient, wenn ihre Vorgänger, zu
denen Friedrich Naumann gehört, in
ihrer ganzen Vielgestaltigkeit zum
Nach­leben erweckt werden.
Friedrich Naumann gehört also ganz
gewiss auf einen Ehrenplatz in der
wechselvollen Geschichte der deutschen Demokratie, doch lässt sich
seine facettenreiche Gestalt nicht in
die Enge parteipolitischer Zuord­nun­
gen zwängen. Ebenso wenig eignet
sich seine vom Kulturprotestantismus
der Zeit geprägte, dazu sehr persönliche Frömmigkeit dazu, von dieser
oder jener Theologenschule vereinnahmt zu werden. Das Besondere an
ihm ist ja gerade, dass er nie zu einer
„Schule“ gehörte, sich nie einfach
als Gefolgs­mann eines Mächtigen
verstand und nie an Vorstellungen
festhielt, die er erprobt und als
nicht tragfähig er­kannt hatte. Er
hatte eben darum keine „Schüler“,
auch keine Gefolgs­leute, aber stets
die innere Freiheit zu erneutem
Nachdenken und öffentlicher
Neubestimmung seiner Posi­tion, wenn
es denn die Sache verlangte.
41
„Die Erziehung zum Liberalismus ist keineswegs etwa bloß eine
Erziehung der Abgeordneten, sie ist in viel höherem Grade eine
Erziehung der Bevölkerung zum liberalen Denken und Handeln.
Auch wenn man alle heutigen Abgeordneten in der Versenkung
verschwinden lassen könnte und an ihre Stelle andere Männer
setzte, so würde das Gesamtergebnis etwa das gleiche sein, denn
auch die neuen Männer würden Abbilder des Volkstums sein, zu
dessen Vertretung sie berufen sind. Man höre deshalb auf, immer
nur an einzelnen Männern herumzuschelten, als ob sie es in der
Hand hätten, morgen einen siegreichen deutschen Liberalismus
auf die Beine zu stellen, wenn sie nur eben wollten!
Ein Volk, das stark genug ist, sich eine neue Herrschafts­form
zu erzwingen, hat auch ganz von selbst schon die Männer, die
es dazu braucht, heute aber fehlt noch die breite allgemeine
Flutung liberaler Gedanken. Das ist der Grund des langsamen
Vorankommens.
Hier muß gearbeitet werden, nicht in gegenseitiger Verbitterung
und Zer­spaltung, sondern in derjenigen gegenseitigen Achtung,
ohne die schwere Erziehungs­aufgaben nicht durchgeführt werden können.“
Aus: Friedrich Naumann,
Deutscher Liberalismus (1909).
42
LoremLeben,
Sein
ipsumsein
dorWerk,
sit amm
seine
dolor
Wirkung.
slor sit.
Liberale Visionen.
Was aber machten dann seine Größe
und seine andauernde Nachwirkung
aus? Für die mit ihm Lebenden war
es vor allem die Strahlkraft seiner
Persön­­lichkeit, die die geistige Elite
seiner Zeit zu seinen Bewunderern
machte. Zugleich wirkte er durch die
Überzeugungskraft seiner Sprache,
des gesprochenen und geschriebenen
Wortes. Und nicht zuletzt verkörperte
er in dem, was er tat, die Sehnsucht
der besten Geister und breiter Volks­
schichten danach, den Klassenkampf
von oben wie von unten zu überwinden und den Staat mit seinen Bür­gern
zu versöhnen.
Das mag heute, unter vielfach verwandelten Verhältnissen, nur noch
historisch von Belang sein. Vom Klas­
senkampf ist unsere deutsche, euro­
päische Gesellschaft nun wahrlich
nicht mehr geprägt trotz aller Unter­
schiede und Spannungen zwischen
oben und unten, die vor allem in
Zei­ten wirtschaftlicher Rezession, so
in den letzten Jahren, deutlich genug
sichtbar werden. Die Auseinander­set­
zung mit der autoritären Monarchie
der Hohenzollern war schon vor Nau­
manns Tod mit der Flucht des letzten
Kaisers vor der Niederlage nach
Holland beendet. Sie ist wirklich nur
noch Geschichte. So auch die Debat­
te um Mitteleuropa – sie flackerte
zwar in den 80er-Jahren noch einmal
auf, betrieben von den ungarischen,
polnischen und tschechischen Intel­
lektuellen in ihrer Auseinander­set­zung
mit der östlichen Sowjetmacht und
ihren Statthaltern, doch ist sie durch
den Zusammenbruch des kommunis­
tischen Herrschaftssystems überholt
worden: nicht nach Mitteleuropa
streben unsere östlichen Nachbarn,
sondern in die NATO und die Euro­
päi­sche Union. Und auch die Wirt­
schafts­politik hat heute ganz andere
Pro­b­leme zu lösen als zu Beginn
unseres Jahrhunderts; von Naumanns
Begeis­terung für die Großbetriebe
und die großen Organisationen sind
wir heutigen Liberalen ohnehin weit
entfernt.
Was bleibt dann überhaupt von dem,
was Friedrich Naumann bewegte,
wo­für er stand und was er verkörperte? Der Liberalismus gilt nicht nur in
Deutschland wieder als überholt, so
wie schon zu Beginn des vorherigen
Jahrhunderts, als sich Naumann dem
fortschrittlichen Freisinn anschloss.
Naumanns Antwort hieß: „Es ist
wieder ein allgemeiner deutscher
Libera­lismus nötig, eine Volkspartei,
in der Demokratie und Nationalismus
beieinander wohnen, eine breite
schaffende Mehrheitspartei mit
neuen Ge­danken.“ Dem Geist der
freien Kraft, die vorwärts will, gelte
es die Türen zu öffnen; der Wille zur
Macht müsse in die drei Millionen
liberaler Wähler hineinfahren. Dazu
müsse sich der Liberalismus als
Partei besser organisieren, um dem
demokratischen Wett­­bewerb mit den
anderen Parteien, den Klerikalen und
den Sozialisten, ge­wachsen zu sein.
Dabei dürfte es aber immer nur um
das Wohl des Einzel­nen und seine
Freiheit gehen. „Libera­lis­mus“, sagte
Naumann, „baut sich da­rauf auf, daß
Einzelmenschen nicht nur selber selb43
ständig werden wollen, sondern daß
sie auch ihren Nächsten wünschen,
daß sie selbständig werden sollen.“
Und: „Freiheit ist eine ganz persönliche Angelegenheit. Wenn sie das
nicht ist, dann gibt es keine freien
Staaten und keine freien Kul­tu­ren.“
Naumann scheute nicht das Pathos
der Leidenschaft, wenn er von der
Freiheit, von der Vision einer Gesell­
schaft freier Bürger sprach. Er war
ein glaubwürdiger Zeuge dieser Frei­
heit, weil jederzeit zu spüren war, dass
er mit seiner ganzen Person dafür
einstand. Diese Glaubwürdigkeit fehlt
vielen Politikern heute allzu oft. Wir
sollten, ja wir müssen sie von ihnen
fordern. Es kommt dabei nicht darauf
an, ob sie Politik neben ihrem Beruf
oder als Beruf betreiben. Naumann
war selbst Berufspolitiker geworden
und wandte sich scharf gegen die
nicht mehr in der Gegenwart taugliche
Honoratiorentradition der liberalen
Parteien. Ebenso wenig hat diese
Glaubwürdigkeit mit seiner starren
Umwandelbarkeit zu tun. Naumann
wandelte seine Auffassungen im
Laufe seines Lebens häufig genug,
ob aus besserer Einsicht oder wegen
veränderter Sachlage. Wohl aber hat
sie viel zu tun mit der Bindung an
ethische Maßstäbe. Sie erwuchs bei
Naumann aus seinem christlichen
Glauben, doch kann sie gewiss auch
andere Fundamente haben. Nur eines
ist sicher: Politik ohne ethische Bin­
dung endet in völliger Beliebigkeit.
44
Sodann hatte Naumanns Glaub­wür­
dig­keit mit seiner Fähigkeit zu tun,
langfristige Visionen zu entwickeln,
ohne den Boden der Realität unter
den Füßen zu verlieren. Stets kam
es ihm darauf an, programmatische
Grundsätze voranzustellen, sie dann
aber an den Realitäten zu messen
– nicht um der vorfindlichen Wirk­
lich­keit anheimzufallen, sondern um
prak­tische Politik machen zu können.
Liberaler Politik heute steht es ebenso gut an, nicht bloß jeweils vier Jahre
im Voraus zu denken und von Monat
zu Monat oder gar von Schlagzeile zu
Schlagzeile zu agieren, sondern die
Vision der freien, der offenen Gesell­
schaft selbstständiger Bürger ernst
zu nehmen und von ihr her die Politik
der nächsten Jahre als eine Politik
des jetzt Möglichen zu entwickeln.
Das 1997 in Wiesbaden verabschiedete
Grundsatzprogramm der deutschen
Liberalen, das über die Frei­bur­ger
Thesen von 1971 und das Saar­­­brücker
„Liberale Manifest“ von 1985 zu neuen
Ufern vorstößt, kann dazu den Weg
öffnen.
Und schließlich bleibt dem politischen
Liberalismus die von Naumann formu­
lierte, bis heute ungelöste Aufgabe
gestellt, nämlich eine wirkliche Volks­
partei zu werden. Ich meine das nicht
in dem am Beispiel zunächst der CDU,
dann der SPD üblich gewordenen Sinn,
wonach eine Volkspartei nichts weiter
ist als ein Produkt des Tauziehens
zwischen den großen gesellschaftli­
LoremLeben,
Sein
ipsumsein
dorWerk,
sit amm
seine
dolor
Wirkung.
slor sit.
chen Kräften, ihr kleinster gemeinsamer Nenner. Volkspartei im Sinne
Naumanns – das bedeutet vielmehr,
dass sich hinter den leitenden Ideen,
zuvörderst also der Idee der Freiheit,
Menschen aus allen Schichten des
Volkes sammeln können und auch
tatsächlich sammeln. Davon ist der
deutsche politische Liberalismus noch
ein gutes Stück entfernt. Dass er sich
ernstlich vorgenommen hat, deren
Weg zu gehen, lässt hoffen. Die nach
Friedrich Naumann benannte Stif­tung
hat hier, an diesem Punkt, ihre erste
zent­­rale Aufgabe, nämlich im libe­
ralen Sinne vorzudenken. Die andere
ist, in der Tradition der Naumannschen
Staats­bür­ger­schu­le, möglichst viele
Menschen möglichst gut auf ihre
politische Verantwortung zuzurüsten.
Als Theodor Heuss die Stiftung ins
Leben rief, gab er ihr seinen Lehrer
als Vorbild, doch warnte er sie
zu­gleich davor, ihren Namenspatron
zum Säulenheiligen zu machen und
seine politischen Schriften zum wörtlich geltenden Katechismus. Friedrich
Naumann war mit allen Fasern seines
großen Herzens ein Kind seiner Zeit.
Deshalb gilt diese Mahnung auch
heute. Aber gültig bleibt, erst recht
in Zeiten wachsender Politikverdros­
sen­heit, was Max Weber unmittelbar
nach Friedrich Naumanns plötzlichem,
unerwarteten Tod seiner Witwe
schrieb: „Sie wissen, daß wir ihn
herz­lich liebten, ganz abgesehen, was
er uns allen als Politiker, als Kultur­
mensch, als deutscher Mensch be­deu­
tete. Die stolze Bescheidenheit seines
Wesens verbot es fast, ihm zu sagen,
was seine Ritterlichkeit, Gelassenheit,
Wärme und Erfülltheit uns rein
persönlich bot, wie adelnd er in den
Dis­kussionen und Kämpfen unseres
öffent­lichen Lebens wirkte, wie ungeheuer viel größer sein Sein war als
sein Wirken und sein Wirken wiederum als sein äußerlicher Erfolg ... Die
Größe seiner Erscheinung lag nicht
in dem, was er wollte, sondern wie
er es wollte und wie er seine Sache
führte. Das Beispiel, das er gab, hat
nicht sofort gewirkt, wie sein innerer
Wert es verdient hätte, aber verloren
war es deshalb nicht. Und unverloren
bleibt vor allem die Tatsache: daß
ein Mensch sich innerlich so selbst
behauptete in einer Zeit, die für ihn
nicht geschaffen war. Entweder er
kam zu früh oder zu spät. Einerlei:
Daß es ihn gegeben hat, ist etwas,
was uns allen ganz unverlierbar ist.“
45
Dr. Jürgen Frölich
100 Jahre
danach
oder
Naumanns Aktualität
in der Gegenwart.
46
Lorem
100
Jahre
ipsum
danach.
dor sit amm dolor slor sit.
Friedrich Naumann war ohne Zweifel ein „Wilhelminer“.
Denn zeitlich fällt sein politisches Wir­ken weit gehend
zusammen mit der Regent­schaft jenes letzten deutschen Monar­chen (1888–1918), der dem Zeitalter den
Namen gegeben hat. Aber auch in vielen Aspekten seines politischen Den­kens war Friedrich Naumann in der
Epoche Wilhelms II. verhaftet. 85 Jahre nach Naumanns
Tod ist nicht nur das Kaiserreich, sondern auch der
damit verbundene Staat, das „Deutsche Reich“, längst
verschwunden, und haben sich die gesellschaftlichen,
ökonomischen und politischen Ver­hält­nisse grundlegend
geändert. Was kann also Naumanns Wirken, das am Ende
des 19. Jahrhunderts be­gann und bereits im ersten Vier­
tel des 20. endete, dem Bürger des beginnenden 21. Jahr­
hunderts noch sagen, hat es überhaupt noch
eine Bedeu­tung für die Gegen­wart?
Aus liberaler Perspektive gibt es sicherlich vieles, was
Naumann uns Heutigen vermacht hat und wo er heute
noch durchaus relevant ist. Drei Beispiele, an denen sich
mehr als ein ganzes Jahr­hun­dert überbrückende Verbin­
dungs­linien ziehen lassen, seien hier vorgestellt.
47
Der Menschenfischer
48
Der Naumann-Kreis.
Martin Wenck
(1862–1927),
Chefredakteur,
Naumann-Biograf.
Friedrich Weinhausen
(1867–1925), sozialpolitischer Publizist,
M. d. R. (1910–1920).
Hellmuth von Gerlach
(1866–1935), Herausg.
Berliner „Welt am
Montag“ (1919–1933).
Gottfried Traub (1869–
1956), Pfarrer, freisinniger, dann deutschnationaler Abgeordneter.
Paul Rohrbach (1869–
1956), ev. Theologe
und politischer Publizist
„Der deutsche Gedanke“.
Eugen Katz
(1881–1937),
Schriftleiter der „Hilfe“.
Paul Göhre
(1864–1928),
Pfarrer, Abgeordneter der
SPD (1903–1930).
Wilhelm Heile
(1881–1969)
Redakteur „Hilfe“,
M. d. R. DDP (1919–1924).
Wilhelm Cohnstaedt
(1880–1937), bis 1933
politischer Redakteur
der Frankfurter Zeitung.
Lorem
Der
Naumann-Kreis.
ipsum dor sit amm dolor slor sit.
Familie Brentano,
Friedrich Naumann und Elly Knapp 1903.
Gemeint ist damit jenes Netzwerk um
Naumann, dessen Verflechtungen in
vollem Umfang erst jüngst bekannt
geworden sind. Naumann war der
Mittelpunkt eines umfangreichen
Gesinnungs- und Freundeskreises,
der sich sozial gesehen vom Großbür­
ger­tum über das Bildungs- und Klein­
bürgertum bis in die Arbeiterschaft
erstreckte. Dieses Netzwerk war
ursprünglich hervorgegangen aus den
Mitschülern Naumanns in St. Afra und
den sogenannten „jungen Wilden“ im
Evangelisch-Sozialen Kongress, die
wie Naumann nicht im konservativen
oder gar antisemitischen Fahrwasser
von Adolf Stoecker fahren wollten.
Der „Naumann-Kreis“ hat seine engs­
te organisatorische Ausprägung im
„Nationalsozialen Verein“ erfahren,
lebte aber auch nach dessen Ende
informell weiter fort. Zum „NaumannKreis“ gehörten damals und später
hochberühmte Zeitgenossen wie Max
Weber und Lujo Brentano, aufsteigende Geister wie Theodor Heuss und
Elly Knapp, aber auch einige, die
später – wie Gustav Stresemann –
politisch ganz andere Wege gehen
sollten.
Der Kreis hatte Fernwirkungen bis in
die Bundesrepublik, noch unter den
Gründern der Friedrich-NaumannStiftung waren 1958 einige aus
seinen Reihen. Insgesamt dürfte der
Nau­mann-Kreis bis zu 1 700 Personen
umfasst haben, die in unterschied­­
lich nahem oder weiter entferntem
Verhältnis zum Namens­geber standen. Dennoch war dies in einem
Zeitalter, das keine elektronischen
Kommunikationsmittel kannte,
eine für einen informellen Zu­sam­
49
Gustav Stresemann
(1878–1929).
Elly Heuss-Knapp
(1881–1952),
Lehrerin, Volkswirtin,
erste „First Lady“.
menschluss gewaltige Größe. Denn
Naumanns Charisma, das er zweifels­
ohne besaß, wirkte fast ausschließ­
lich über die persönliche Ansprache,
sei es bei Vorträgen und Reden, sei
es im kleineren Kreis. Die über das
ganze damalige Deutschland bis hin
Die Unterschrift der „Stifter“
auf der Gründungsurkunde
der Friedrich-Naumann-Stiftung
vom 19. Mai 1958.
50
Martin Rade
(1857–1940),
evangelischer Pfarrer
und Publizist.
Walter Goetz
(1867–1958),
Professor der
Geschichte.
nach Österreich verteilten NaumannFreundeskreise, aus denen sich häufig
das politische und publizistische
Personal des Linksliberalismus zwischen 1903 und 1933 rekrutierte,
bieten sehr viel Anschauungsmaterial
dafür, wie man den Liberalismus
Lorem
Der
Naumann-Kreis.
ipsum dor sit amm dolor slor sit.
unabhängig von allem politischen
Nützlichkeitsdenken gesellschaftlich
besser verankern und wie man eine
liberale Elite hervorbringen kann.
In verschiedener Form versucht der
organisierte Liberalismus heute an
diese große Tradition anzuknüpfen,
um liberal gesinnten Bürgern auch
jenseits einer formalen Parteimit­glied­
schaft eine politisch-organisatorische
Heimstatt zu geben. Gerade für
moderne, individualistisch orientierte
Zeitgenossen sind solche informellen
und lose organisierten Bindungen
viel wichtiger als das klassische
Partei­buch. Der „Naumann-Kreis“
kann mithin in vielfacher Hinsicht als
Vor­bild dienen, etwa für das „Liberale
Netzwerk“ im Umfeld der FDP, für
die Altstipendiaten-Organisation der
Friedrich-Naumann-Stiftung für die
Freiheit, für den „Verband liberaler
Akade­miker“ und für die „Gesellschaft
der Freunde und Förderer der
Friedrich-Naumann-Stiftung für die
Freiheit e. V.“. Alle diese Vereinigungen
liberaler Bürger liefern Beiträge
zur Fort­­ent­wicklung des liberalen
Ge­danken­gutes und unterstützen so,
zum Teil darüber hinaus wie beispielsweise die „Freunde und Förderer“,
auch noch mit materiellen Hilfen
die Arbeit der Friedrich-NaumannStiftung für die Freiheit und des organisierten Liberalismus.
Hier lebt in veränderter Form der
Naumann-Kreis heute noch fort.
51
Der Liberale
Erneuerung des Liberalismus.
DDP-Fraktion in der Deutschen Nationalversammlung, Juni 1919.
52
Lorem ipsumdes
Erneuerung
dorLiberalismus.
sit amm dolor slor sit.
Friedrich Naumann hatte sich seit der
Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert
die inhaltliche und organisatorische
Erneuerung des deutschen Libera­lis­
mus auf seine Fahnen geschrieben;
so veröffentlichte er unter dem Titel
„Die Erneuerung des Liberalismus“
1906 eine Artikelserie, die bald auch
in Broschürenform als „Ein politischer
Weckruf“ reißenden Absatz fand.
Wichtig ist aus heutiger – liberaler –
Sicht nicht so sehr, welche konkreten
programmatischen und taktischen
Ziele Naumann damals den Liberalen
vorgegeben hat.
Aktuell ist aber nach wie vor, welchen
gesellschaftlichen Stellenwert er dem
Liberalismus zugewiesen hat: Er wollte
ihn aus seiner besitz- und bil­dungs­­
Wahlkampf in Heilbronn 1907.
bürgerlichen Erstarrung herauslösen,
sensibel machen für die Nöte, Sorgen
und Wünsche der großen Mehrheit des
deutschen Volkes. Das mag manch
überzeugtem Wirt­schaftsliberalen
von heute zunächst befremdlich
anmuten. Aber man sollte dabei
Naumanns politischen Realitätssinn
berücksichtigen, der ihn hatte klar
erkennen lassen, dass sich liberale
Ziele nur dann erreichen lassen, wenn
sie genügend gesellschaftliche Unter­
stützung finden. Seine Überzeugung,
dass Prinzipien­treue immer gepaart
sein muss mit der Einsicht in poli­
tische Möglich­kei­ten und dass auch
der überzeugteste liberale Bürger ­
sich nicht scheuen darf, organisa­
torische Arbeit zu leis­ten, ist wohl
auch 100 Jahre später nicht überholt.
Flugblatt zum Frauenwahlrecht 1913.
53
Wahlrede 1907.
Friedrich Naumann vor dem
Reichstagsgebäude um 1919.
54
Lorem ipsumdes
Erneuerung
dorLiberalismus.
sit amm dolor slor sit.
Außerdem kann man am Beispiel
von Naumann lernen, dass politische
Programme häufig allein nicht ausreichen, um politischen Erfolg zu
haben. Fast genauso wichtig ist ein
strategisches Konzept dazu, wie man
möglichst viel von seinem Programm
umsetzen will. In dieser Hinsicht
war er allen liberalen Zeitgenossen
überlegen, denn mit dem Motto „Von
Bassermann bis Bebel“, also der Bildung eines großen Reformbündnisses
von Freisinnigen, Nationalliberalen
und „reformistischen“ Sozialdemokraten, hatte er für die politische
Konstellation seiner Zeit sowohl eine
griffige Formulierung als auch ein
zumindest perspektivenreiches Konzept dafür, wie die wilhelminische
Politik in seinem Sinne umgestaltet
werden konnte.
August Bebel, Werner Sombart und
Friedrich Naumann auf dem Weg zum
SPD-Parteitag in Breslau 1895.
Handschriftliche Notizen vom Reichstag.
55
Von daher ist es kein Wunder, dass
die Liberalen in der Bundes­re­publik,
immer dann, wenn sie daran gingen, sich im politischen System der
Bun­desrepublik neu oder besser zu
positionieren, direkt oder indirekt an
Naumann anknüpften. Ganz deutlich
wird dies bei den Diskussionen, die
schließlich zum Freiburger Pro­gramm
der FDP von 1971 führten.
Aber auch die innerparteilichen
De­batten und Beschlüsse der FDP in
der jüngsten Vergangenheit stehen
zu­mindest methodisch durchaus in
Naumanns Tradition. Denn mit ihren
„Wiesbadener Grundsätzen“ von
1997 hat die FDP genau das getan,
was Friedrich Naumann als Aufgabe
bzw. Rezept jeder Generation vorausschauender Liberaler im Jahre 1906
ans Herz gelegt hat: „Die Idee des
Liberalismus muß erst (immer) wieder
neu erarbeitet werden.“
56
Foto: dpa, Martin Athenstädt.
Erneuerung
Lorem ipsumdes
dorLiberalismus.
sit amm dolor slor sit.
1990 Bundesparteitag der FDP in
Hannover: Es waren die Liberalen,
die sich zur ersten gesamtdeutschen
Partei zusammenschlossen.
Ähnliches gilt für die Anvisierung
von Wähleranteilen bzw. die
Festlegung auf Konzepte, beispielsweise in der Steuerpolitik, die auf
den ersten Blick wegen ihrer Höhe
und/oder Radikalität befremdlich
wirken könnten. Dabei geht es vor
allem um die Motivierung durch
hohe Zielsetzungen, die durchaus
in Naumannscher Tradition stehen
und heute innerparteilich genauso
leidenschaftlich wie damals diskutiert werden: Naumanns Projekt
einer „Koalition von Bassermann bis
Bebel“, so sehr wir es heute für den
richtigen Ausweg für das Kaiserreich
in seiner innenpolitischen Sackgasse
halten, war im liberalen Lager damals
alles anders als umstritten. Für viele
Liberale und andere klang dieses
Vorhaben seinerzeit ziemlich utopisch
und bedeutete doch mittelfristig
einen wichtigen Meilenstein für
die deutsche Innenpolitik. Ohne die
Setzung von Zielen werden auch
heute keine Perspektiven für die
dringend benötigten Reformen in
Deutschland eröffnet.
57
Der Volkserzieher
Politische Bildung.
Deutsche Hochschule für Politik, Berlin, Schinkelplatz 6, in der von
Karl Friedrich Schinkel erbauten „Alten Bauakademie“, zwischen
Universität und Schloss, am Werderschen Markt. Die erste Staats­
bürgerschule im Sinne Friedrich Naumanns.
58
Lorem ipsum
Politische
Bildung.
dor sit amm dolor slor sit.
Für die Friedrich-Naumann-Stiftung
für die Freiheit stehen schließlich
natürlich Naumanns Überlegungen
zur und sein Enga­ge­ment für die
politische Bildung im Zentrum ihrer
Arbeit und ihrer Tradi­tionspflege.
Naumann verstand sich zeitlebens
– wie Ralf Dahrendorf es einmal
ausgedrückt hat – als „politischer
Volkserzieher“.
Das ist wohl für einen Pfarrer nichts
Außergewöhnliches, wenn auch
sicherlich Naumann in seinem Enga­
gement für die kleinen Leute schon
unter seinen geistlichen Zeitgenossen
eine Ausnahme darstellte. Diese pä­da­
gogische Stoßrichtung hat er später
als Publizist und Politiker beibehalten;
seine Schriften sind fast immer sehr
allgemein verständlich gehalten, ohne
dass dies sich auf das Niveau der
Ge­dankenführung ausgewirkt und
ohne dass Naumann zu stark vereinfachenden Formeln gegriffen hätte:
Volks­tümlich wollte Naumann sein,
nicht populistisch.
Einbanddeckel der „Patria. Jahrbuch der Hilfe“.
Jg. 1, 1901.
59
Schon vergleichsweise früh machte
er sich aber auch Gedanken darüber, wie man mehr Menschen
auch zwischen den Wahlen am
politischen Diskussions- und Entschei­
dungs­pro­zess beteiligen könne: „Die
Nation, die man so oft wegen ihrer
Gründlichkeit gelobt hat, ist jetzt
nicht bereit, ihr eigenes Geschick mit
Eindringlichkeit zu prüfen.“ Ein Weg,
den Staats­bür­ger zu einem größeren
Engagement zu bringen, lag für ihn
in der „Erzie­hung zur Politik“, modern
Erstes Programmangebot der „Staatsbürgerschule“.
60
gesprochen, in der politischen
Bildung. Wie sehr ihn das beschäftigte, zeigt sich darin, dass Naumann
selbst in der schwierigen Zeit des
Ersten Welt­krieges daranging, seine
diesbezüglichen Überlegungen nicht
nur konzeptionell, sondern auch
ganz prak­tisch voranzutreiben: Mit
finanzieller Unterstützung von Robert
Bosch konnte im Sommer 1918 in
Berlin die „Staatsbürgerschule“ ihre
Pforten öffnen.
Lorem ipsum
Politische
Bildung.
dor sit amm dolor slor sit.
Deren Programm hat Naumann selbst
in vier „Reden an junge Freunde“
zuvor festgelegt. Er hat dabei Politik
als „Lebenskenntnis in Bezug auf den
Staat“ definiert, die einerseits sicherlich lehr- und lernbar, andererseits
aber auch eine Kunst sei, zu der man
„geboren“ sein müsse und zu der man
„nur durch Erziehung arbeitsfähig
gemacht“ werde. Naumann war sich
also durchaus bewusst, dass man
zwi­­schen aktivem Politik-Betreiben,
also dem Politiker, und der Teilnahme
an der Politik, d. h. dem Staatsbürger,
unterscheiden müsse. Die „Staats­
bürgerschule“ sollte sich vornehmlich
an diejenigen wenden, die zukünftig
Politik betreiben wollten, war also in
gewisser Weise eine Eliteninstitution;
in Naumanns Schriften spielte aber
der zweite, massenwirksame Aspekt
eine große Rolle. Von der Staats­
bürgerschule, die nach Naumanns
Tod in „Deutsche Hochschule für
Politik“ umbenannt wurde und die –
nach der Phase der politischen Gleich­
schaltung – nach 1945 in der Freien
Universität aufging, wo sie heute
noch als Otto-Suhr-Institut besteht,
zieht sich zumindest eine geistigkonzeptionelle Kontinuitätslinie
zur Arbeit der heutigen FriedrichNaumann-Stiftung für die Freiheit.
In deren politischer Bildung wird ja
auch breite politische Bildung mit der
Förderung des liberalen politischen
Nachwuchses verbunden: Als Eliten­
bildung kann man durchaus das seit
1973 bestehende Stipendienwerk für
den liberalorientierten akademischen
Nachwuchs verstehen; heute werden
rund 800 Stipendiaten gefördert.
Von Anfang an zu den zentralen Auf­
gaben der Stiftung hat die „politische
Bildung für jedermann“ gezählt; in
über 50 Jahren ist das Angebot immer
mehr verbreitert und sind die Metho­
den immer mehr verfeinert worden –
bis hin zu einem virtuellen Angebot
via Internet. Und seit 1967 hat die
Berliner „Staatsbürgerschule“ bzw.
„Deutsche Hochschule für Politik“
der Zwischen­kriegszeit in der
Gummersbacher „Theodor-HeussAkademie“ nicht nur äußerlich,
sondern auch in Geist und Klima eine
entsprechende Fort­set­zung erfahren.
61
Die „Deutsche Hochschule für Politik” ging nach dem Krieg als Otto-Suhr-Institut in der
Freien Universität Berlin auf.
62
Lorem ipsum
Politische
Bildung.
dor sit amm dolor slor sit.
Die Theodor-Heuss-Akademie in Gummersbach. Seit 1967 ist die Theodor-HeussAkademie das Zentrum politischer Bildung der Friedrich-Naumann-Stiftung für die
Freiheit.
63
Titelblatt der „Hilfe“, Nr. 15
vom 10. April 1919.
Vierteljahreshefte
für Politik und Kultur
In der Tradition der „Hilfe“ gibt
die Friedrich-Naumann-Stiftung
für die Freiheit seit 1959 „liberal“,
Vierteljahreshefte für Politik und
Kultur, heraus.
Die Macher der „Hilfe“ vor
und während des Ersten
Weltkrieges: Friedrich
Naumann, Theodor Heuss
und Gertrud Bäumer.
64
Lorem ipsum
Politische
Bildung.
dor sit amm dolor slor sit.
Aber auch in publizistischer Form wird
vonseiten der Friedrich-NaumannStiftung für die Freiheit an die
Naumannsche Tradi­tion politischer
Bildung angeknüpft: Die nunmehr
im 50. Jahrgang er­scheinende
Zeitschrift „liberal“, Vier­tel­jahreshefte
für Politik und Kultur, besitzt in
vielerlei Hinsicht Anklänge an die
von Naumann ins Leben gerufene
und später von Theodor Heuss und
Gertrud Bäumer herausgegebene
„Hilfe“ und versteht sich in gewisser
Weise als deren Fortsetzung.
Zusammenfassend kann man sagen:
Friedrich Naumann war natürlich
eine sehr zeitgebundene Erscheinung,
er war in vielerlei Hinsicht ein
typischer Repräsentant des Wilhelmi­
nis­mus. Aber sein Denken und Wirken
weist auch auf zahlreichen Feldern –
die hier nicht alle dargestellt werden
konnten – weit über seinen eigenen,
längst vergangenen Zeithorizont
hinaus. Faszinierend an ihm war
und ist nicht zuletzt, dass Naumann
immer offen war für Neues, dass er
bereit war dazuzulernen, bisherige
Prin­zi­pien zu überprüfen und ggf. zu
verändern.
Insofern wird man feststellen können,
dass es in der Friedrich-NaumannStiftung für die Freiheit und darüber
hinaus unter den bundesdeutschen
Liberalen nicht nur eine gewisse
romantische Remi­niszenz an die
Gedankenwelt ihres Stif­tungspatrons
gibt, sondern die Über­legungen und
Einsichten Friedrich Naumanns nicht
nur in Grundsatz­papieren, sondern
auch in der täglichen Arbeit durchaus
präsent sind.
Insofern verkörperte er selbst das
Ideal des weltoffenen Bürgers, ohne
dabei aber sein Fähnchen allzu sehr
nach dem Wind zu drehen. Gerade
die Mischung aus tief sitzenden
Überzeugungen und politisch-pragmatischer Flexibilität ist es, die
Naumanns Stärke ausmachte. Alles in
allem erscheint die Beschäftigung mit
ihm, seiner Politik, seiner Publizistik,
seinem gesamten Œuvre immer noch
mehr als lohnend.
65
25.03.1860
In Störmtal bei Leipzig
geboren.
1876–1879
Fürstenschule St. Afra in
Meißen.
Biografie Friedrich Naumanns.
1879–1883
Studium der evangelischen Theologie in Leipzig
und Erlangen.
66
1883–1885
Oberhelfer in Wicherns
„Rauhem Haus“ zu
Hamburg.
1886–1890
Pfarrer in Langenberg,
Sachsen.
1888
Erste Rede vor zentraler
Tagung: beim Kongress
Innere Mission in Kassel.
1890–1897
Geistlicher der Inneren
Mission in Frankfurt am
Main.
1895
Gründung der
Wochenzeitschrift
„Die Hilfe“.
1896
Gründung des
Nationalsozialen Vereins.
1897
Übersiedlung nach Berlin;
Ausscheiden aus dem
Pfarramt.
1903
Ehrendoktor der Theo­
logie der Universität
Heidelberg; Auflösung des
Nationalsozialen Vereins
nach Nieder­lagen bei
den Reichs­tagswahlen;
Übertritt des NaumannKreises in die Freisinnige
Vereinigung.
1907
Wahl in den Reichstag
als Abgeordneter von
Heilbronn.
1919
Wahl in die National­
versammlung als Abge­
ordneter von Berlin; Wahl
zum Vorsitzenden der neu
gegründeten Deutschen
Demokra­ti­schen Partei.
24.08.1919
Plötzlicher Tod in
Travemünde.
Lorem
Biografie.
ipsum dor sit amm dolor slor sit.
67
Friedrich Naumann:
Werke. 6 Bände,
Opladen 1964
Friedrich-Naumann-Bibliografie.
Eine Auswahl.
Lothar Albertin:
Liberalismus und Demokratie am
Anfang der Weimarer Republik.
Düsseldorf 1972
68
Ralf Dahrendorf:
Friedrich Naumann – der politische
Volkserzieher.
In: ders.: Liberale und andere.
Stuttgart 1994, S. 151–159
Dieter Düding:
Der Nationalsoziale Verein.
München 1972
Friedrich-Naumann-Stiftung
(Hrsg.):
Friedrich Naumann 1860–1919.
St. Augustin 1985
Walter Göggelmann:
Christliche Weltverantwortung
zwischen Sozialer Frage und
Nationalstaat. Zur Entwicklung
Friedrich Naumanns 1860–1903.
Baden-Baden 1987
Theodor Heuss:
Friedrich Naumann. Der Mann –
das Werk – die Zeit. 3. Aufl.
Gütersloh 1968
Lorem ipsum dor sit amm dolor slor sit.
Bibliografie.
Theodor Heuss:
Friedrich Naumanns Erbe.
Tübingen 1959
Karl Holl/Günther Trautmann/
Hans Vorländer (Hrsg.):
Sozialer Liberalismus.
Göttingen 1986
Gangolf Hübinger:
Kulturprotestantismus und Politik.
Zum Verhältnis von Liberalismus und
Protestantismus im wilhelminischen
Deutschland. Tübingen 1994
Jacques Le Rider:
Mitteleuropa. Auf den Spuren eines
Begriffes.
Wien 1994
Alfred Milatz:
Friedrich-Naumann-Bibliografie.
Düsseldorf 1957
Axel H. Nuber:
Friedrich Naumann. Katalog der
Gedächtnisausstellung in Heilbronn
anlässlich seines 100. Geburtstags.
Heilbronn 1962
Wilhelm Spael:
Friedrich Naumanns Verhältnis zu
Max Weber.
St. Augustin 1985
Werner Stephan:
Aufstieg und Verfall des
Linksliberalismus 1918–1933.
Geschichte der Deutschen
Demokratischen Partei.
Göttingen 1973
Peter Theiner:
Sozialer Liberalismus und deutsche
Weltpolitik. Friedrich Naumann im
wilhelminischen Deutschland
(1860–1919).
Baden-Baden 1983
Rüdiger vom Bruch (Hrsg.):
Friedrich Naumann in seiner Zeit.
Berlin 2000
Barthold C. Witte:
Nachdenken über Mitteleuropa.
In: Liberal 34 (1992), H. 1, S. 10–16
Archiv des Liberalismus
Theodor-Heuss-Straße 26
51645 Gummersbach
Telefon 0 22 61. 30 02-421
Telefax 0 22 61. 30 02-407
E-Mail: [email protected]
69
19.05.1958
Gründung der FriedrichNaumann-Stiftung im
Haus des Bundes­präsi­
denten Theodor Heuss.
Eine kurze Chronik der Stiftung.
14.11.1958
Erste Sitzung des Kura­
to­riums: Wahl des Vor­
standes (Vorsitzender
Walter Erbe).
70
14.11.1958
Erste Großveranstal­tung in
Bad Godesberg,
Rede Theodor Heuss:
„Naumanns Erbe in
dieser Zeit“.
09.04.1959
Das Kuratorium wählt
seinen Vorsit­zen­den:
Paul Meyle.
April 1959
Die Geschäfts­stel­le
be­ginnt ihre Arbeit in
Bonn (Geschäftsführer
Werner Stephan).
Die Zeitschrift „liberal“
erscheint.
09.04.–11.04.1959
Erste Arbeitstagung in
Bad Kreuznach: „Die
geistige und politische
Freiheit in der Massendemokratie“.
25.03.1960
Konstituierung des Bei­
rats (Vorsitzender Walter
Bauer). Er­schei­nen der
Erste Schriftenreihe der
Stiftung „Schriftenreihe
zur Politik und Zeit­ge­
schichte“.
Januar 1961
Gründung des Vereins
„Freunde der FriedrichNaumann-Stiftung“.
Januar 1962
Geschäftsstelle wird nach
Bad Godesberg verlegt.
24.05.1963
Vorstandsbeschluss
zur Errichtung einer
Be­gegnungsstätte in
Gummersbach.
Juli 1963
Bildung einer Aus­lands­
abteilung: Betreuung der
„School for Freedom“,
Gründung eines Bil­dungs­
zentrums in Tunesien –
Fortbil­dung mittlerer
und gehobener Führungs­
kräfte aus Wirtschaft,
Gewerk­schaft, Journa­
lis­ten – Publi­kation:
u. a. „Menschen­würdige
Gesellschaft“, Edition der
Werke Naumanns.
1964
Gründung einer Kom­mis­
sion zur Beratung der
Programme der
Arbeitstagungen:
„Pro­gramm-Ausschuss“.
Grün­dung einer „Arbeits­­
gemeinschaft für
Wirt­schafts- und
Sozial­forschung in den
Entwicklungsländern“.
Aufbau des Instituts Ali
Bach-Hamba in Tunis.
Lorem
Chronik.
ipsum dor sit amm dolor slor sit.
08.07.1965
Grundsteinlegung der
Theodor-Heuss-Akademie
(THA).
03.12.1966
Kuratorium beschließt
Berufung eines Haus­
haltsausschusses.
Schwerpunkte der
Auslandsarbeit: Ausund Fortbildung von
Führungskräften.
Erste Verleihung des
Wolf-Erich-KellnerGedächtnispreises.
26.05.1967
Eröffnung der THA (Leiter
Horst Dahlhaus).
01.01.1968
Erwerb des Archivs der
FDP-Bundespartei.
April 1969
Errichtung von Landesund Regionalbüros.
November 1973
Beginn des Stipendien­
programms zum Winter­
semester 1973/74
(17 Stipen­diaten).
1974
Landesbüro Berlin wird
zu einer „Europäischen
Begegnungsstätte Berlin“.
Eröffnung eines „Liberalen
Clubs“ in Oldenburg.
August 1975
Gründung eines Dach­­­
verbandes der liberalen
Bildungs­­ein­richtungen
„Verei­ni­gung liberaler Bil­
dungs­ein­rich­tungen e. V.“.
Süd­europa wird in die
Auslandsarbeit einbe­
zogen.
Oktober 1977
Zusammenführung
der Aufgaben von Pro­
grammausschuss und
Beirat.
Einrichtung eines Referats
Europa (ab 1978 „Gruppe
Europa“).
Februar 1978
Herausgabe der ersten
„Doku­men­ta­tio­nen“ zu
aktuellen politischen
Sachfragen.
17.10.1979
Aus Anlass des
50. Geburtstages von
Karl-Hermann Flach
wird erstmals der nach
ihm benannte Preis für
Journalisten an Rolf
Zundel verliehen.
1980
Gründung von Landes­
stiftungen, die in den
Bundesländern die
Aufgaben der Landesund Regionalbüros
übernehmen.
31.01.1984
Eröffnung des neu errichteten Archivs des
Deutschen Liberalismus in
Gummersbach.
05.05.1984
Eröffnung des Marga­
rethenhofs, der Galerie
und des Politischen Clubs
in Königswinter.
05.10.1984
Beschluss des Vorstan­
des über eine veränderte
Organisations­struktur
der Friedrich-NaumannStiftung.
05.03.1985
Mit einer Rede von Prof.
Dr. Lord Ralf Dahrendorf
und in An­wesenheit von
Bundes­präsident Prof. Dr.
Richard von Weizsäcker
erinnert die Stiftung an
den 125. Ge­burtstag von
Friedrich Naumann.
01.01.1987
Gründung des For­
schungsinstituts.
Er­rich­tung der Europäischen Begegnungs­­stätte
Saar in Saarbrücken.
1988
Gründung der Inter­‑
­na­tionalen Akademie für
Entwicklung in Freiheit,
Sintra.
Erster Rastatter Tag zur
Geschichte des Deutschen
Liberalismus.
71
Chronik.
31.08.1989
Kuratorium beruft einen
Ausschuss zur Struktur­
reform der Stiftung.
November: Erster Band
des „Jahrbuchs zur
Liberalismus-For­schung“.
21.11.1989
Bildungsstätte Wald­haus
Jakob in Konstanz nimmt
die Arbeit auf.
01.07.1990
Einrichtung des Büros
Berlin zum Aufbau der
Bildungsarbeit in den fünf
neuen Bundes­­ländern.
Beginn der Stif­tungs­arbeit
in Mittel-, Südost- und
Osteuropa.
29.09.1991
Aus Anlass des
70. Ge­burtstages ihres
Vor­sitzenden Wolfgang
Mischnick besucht
Bun­deskanzler Dr. Helmut
Kohl die Stiftung auf
dem Margarethenhof in
Königswinter.
12.09.1992
Offizielle Eröffnung
der Bildungsstätte
Zündholzfabrik in
Lauenburg an der Elbe.
15.01.1991
Das Kuratorium er­wei­tert
sich um Mitglieder aus
den neuen Bundes­ländern.
Februar 1993
Start der Kampagne
„Toleranz zeigt sich im
Handeln“.
25.02.1991
Das Kuratorium
be­schließt die neue
Sat­zung.
01.01.1995
Die Theodor-HeussAkademie in Gum­
mersbach übernimmt
das Dialogprogramm
für internationale
Führungskräfte (IAF).
15.03.1991
Der Vorstand wird erstmals
nach der neuen Satzung
gewählt.
09.05.1991
Die Stiftung erhält eine
neue dezentrale Struk­
tur; im Ausland wird die
Arbeit von Regio­nal­­büros
koordiniert.
72
02.09.1991
Das Kuratorium richtet
einen Programm- und
einen Finanzausschuss
ein.
26.04.1995
Neuer Vorstand:
Dr. Otto Graf Lambsdorff
(Vorsitzender), Dr. Rolf
Berndt (Geschäfts­
führendes Vorstands­
mitglied).
Juni 1995
Gründung des Liberalen
Instituts der FriedrichNaumann-Stiftung.
09.02.1996
Prof. Dr. Jürgen Morlok
wird zum neuen
Kuratoriums­­vorsitzenden
gewählt.
24.05.1996
Die Stiftungs­kam­pagne
„Umdenken: Anstiftung
zur Freiheit“ wird von Dr. Otto Graf Lambsdorff
der Öffentlichkeit vorgestellt.
07.12.1996
Eröffnung der WolfgangNatonek-Akademie
im „Haus am Ahorn“
im vogtländischen
Kottenheide.
06.05.1998
Festveranstaltung
„150 Jahre liberale
Re­volution in Europa“
in der Paulskirche zu
Frankfurt am Main.
01.07.1998
40 Jahre FriedrichNaumann-Stiftung:
Feier im Marga­re­then­
hof, Geschäfts­stelle der
Stiftung in Königs­winter,
in Anwesenheit von
Bunde­s­präsident Prof. Dr.
Roman Herzog.
Lorem
Chronik.
ipsum dor sit amm dolor slor sit.
Oktober 1998
Vorstandsbeschluss zum
neuen Sitz der Ge­schäfts­­
stelle im Truman-Haus,
Karl-Marx-Straße 2 in
Potsdam-Ba­bels­berg.
Januar 1999
Die von der Stiftung
produzierte CD-ROM
„Im Namen der Freiheit“
wird mit dem Come­niusGütesiegel ausgezeichnet.
Dezember 1999
Aufgabe der bisherigen
Geschäftsstelle, des
Margarethenhofs in
Königswinter.
01.01.2000
Vorübergehender Ein­
zug der Geschäftsstelle
in den Weberpark, Alt
Nowawes 67 in PotsdamBabelsberg.
16.06.2000
Verabschiedung der
Erklärung „Die Rechte
von Minderheiten“ auf
der zweiten Minder­
heitenkonferenz der
Stiftung in Berlin.
11.10. – 26.11.2000
Ausstellung „Friedrich
Naumann – Von Sachsen
zur liberalen Weltpolitik“
im Mu­se­um Lichtenstein/
Sachsen.
31.12.2000
Schließung der Bil­
dungsstätten in Lauen­
burg und Kottenheide.
2001
Neuorientierung der politischen Bildungs­arbeit in
Deutschland: Einrichtung
von Regio­nalbüros in
Halle, Hannover, Lübeck
und Wiesbaden. Aufbau
eines virtuellen Bildungs­
angebotes via Internet.
01.04.2001
Umzug der Geschäftsstelle
der Friedrich-NaumannStiftung ins Truman-Haus
in Potsdam-Babelsberg.
01.09.2001
Beginn der Kampagne
„Neustart – eine Initiative
für eine liberale So­zial­
politik“.
18.07.2003
Dr. Otto Graf Lambsdorff
ehrt die First Lady von
Taiwan, Wu Shu-Chen, für
ihr Lebenswerk.
18.10.2003
„Freiheit leben – Frieden
sichern“
Vortrag des Dalai-Lama in
Berlin, im Anschluss findet die 4. Internationale
Konferenz der TibetUnterstützungsgruppen in
Prag statt.
10.11.2003
Kolloquium zur Zukunft
liberaler Programmatik
mit Prof. Werner
Maihofer.
01.03.2004
Dr. Hans D. Barbier wird
neuer Herausgeber
der Zeitschrift „liberal”.
14.09.2001
Eröffnung des neuen
Stiftungs­sitzes in
Potsdam-Babelsberg.
April 2004
Europäische
Frauenkonferenz in
Frankfurt am Main.
Januar 2002
Die Virtuelle Akademie
und das Regionalbüro
Stuttgart nehmen ihre
Arbeiten auf.
01.05.2004
Eröffnung des
Regionalbüros München.
16.03.2002
Kongress „Das vereinte
Deutschland auf dem
Weg in das geeinte Europa“ in Halle
mit Dr. Hans-Dietrich
Genscher und ehemaligen
Amtskollegen.
November 2004
Das Büro Hamburg nimmt
seine Arbeit auf.
73
Chronik.
14.02.2005
Die Virtuelle Akademie
gewinnt den Europäischen
E-Learning-Award
„eureleA”.
25.04.2007
Die Stiftung führt
den Namen FriedrichNaumann-Stiftung für
die Freiheit.
15.06.2005
Start der Stiftungs­
initiative „pro kopf
– Bessere Bildung
durch Freiheit und
Wettbewerb”.
1. Berliner Rede zur
Freiheit mit Verfassungs­
richter Prof. Dr. Udo Di
Fabio.
16.06.2005
Der Dalai-Lama verleiht an
Dr. Otto Graf Lambsdorff
und die FriedrichNaumann-Stiftung für die
Freiheit den „Light of
Truth Award”.
16.06.2005
„60 Jahre liberaler
Neubeginn“:
Dr. Hans-Dietrich
Genscher und Dr. Guido
Westerwelle würdigen das
Eintreten der Liberalen
der ersten Stunde für ein
freies und demokratisches
Deutschland.
07.04.2006
Dr. Wolfgang Gerhardt
wird zum Vorsitzenden des
Vorstandes gewählt.
25.11.2006
Verleihung des
Freiheitspreises an
Dr. Hans-Dietrich
Genscher in der
Paulskirche in Frankfurt
am Main.
74
02.06.2007
Festveranstaltung zum
40-jährigen Bestehen der
THA in Gummersbach.
13.10.2007
1. Freiheitskongress „Die
Zukunft der Freiheit in
Deutschland“ in Berlin.
23.11.2007
Rede zur Freiheit mit
Freya Klier in Jena.
09.03.2008
Die e-Academy for
Leadership wird auf der
CeBIT in Hannover mit
dem Europäischen
E-Learning Award
„eureleA“ ausgezeichnet.
23.04.2008
2. Berliner Rede zur
Freiheit mit dem Historiker
Prof. Dr. Heinrich August
Winkler.
19.05.2008
50-jähriges Bestehen
der Friedrich-NaumannStiftung für die Freiheit.
Festakt in Bonn in
Anwesenheit von
Bundespräsident Prof. Dr.
Horst Köhler.
08.09.2008
Rede zur Freiheit mit dem
Präsidenten des Bundes­
verfassungsgerichts
Prof. Dr. Dres. h. c.
Hans-Jürgen Papier in
Nürnberg.
08.11.2008
Verleihung des
Freiheitspreises an Mario
Vargas Llosa in der
Paulskirche in Frankfurt
am Main.
21.01.2009
2. Freiheitskongress „Freiheit – ein bürgerlicher
Luxus?“ in Berlin.
21.04.2009
3. Berliner Rede zur
Freiheit mit dem ehemaligen Leiter der
Stasiunterlagenbehörde
Dr. h. c. Joachim Gauck.
Lorem ipsum dor sit amm dolor slor sit.
Gremienvorsitzende.
Vorsitzende des Vorstandes
Dr. Walter Erbe (1958–1961)
Prof. Dr. Paul Luchtenberg (1961–1970)
Wolfgang Rubin
(1970–1982)
Wolfgang Mischnick
(1987–1995)
Dr. Otto Graf Lambsdorff
(1995–2006)
Dr. Wolfgang Gerhardt
(seit 2006)
Prof. Dr. Lord Ralf Dahrendorf
(1982–1987)
1.
2.
3.
4.
5.
6.
Paul Meyle
Hans Lenz
Dr. Clara von Simson
Dr. Otto Graf Lambsdorff
Walter Scheel
Dr. Martin Bangemann
1959–1965
1965–1969
1969–1977
1977–1979
1979–1990
1990–1996
Prof. Dr. Jürgen Morlok
(seit 1996)
Stand: Mai 2009
Vorsitzende des Kuratoriums
75
Die politischen Grundsätze
der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.
76
„Die Idee des Liberalismus muß erst
wieder neu erarbeitet werden. Sie hat
im Laufe der Zeit soviel an Klarheit,
Schärfe und Magnetis­mus verloren, daß sie erst wieder wie neues
Tageslicht vor der Bevölkerung aufsteigen muß.“
Friedrich Naumann (1906)
Politische Grundsätze.
Die politischen Grundsätze wurden
vom Vorstand beschlossen und vom
Kuratorium am 24. September 1993
genehmigt.
Präambel.
Die politischen Grundsätze beschreiben,
was die Friedrich-Naumann-Stiftung
für die Freiheit unter der Satzungs­be­
stim­mung „Die Stiftung ist auf der
Grundlage des Liberalismus tätig“
(§2, Abs. 1) versteht. Die poli­tischen
Grundsätze dienen den ehren- und
haupt­amt­lichen Mitarbeitern als
Orientierung bei der Auswahl von
Personen, der Definition von Zielen
für die politische Bildung, die Politik­
beratung, die Begabten­förderung und
die Herausgabe von Publikationen.
Lorem ipsum
Politische
Grundsätze.
dor sit amm dolor slor sit.
Politische Grundsätze der FriedrichNaumann-Stiftung für die Freiheit
für ihre Arbeit im In- und Ausland.
Die Friedrich-Naumann-Stiftung
für die Freiheit ist die Stiftung für
liberale Politik in der Bundesrepublik
Deutschland. Sie will dazu beitragen, dem Prinzip Freiheit in
Menschenwürde in allen Bereichen
der Gesellschaft Geltung zu verschaffen – im vereinigten Deutschland wie
auch zusammen mit den Partnern im
Ausland.
Es ist das Ziel liberaler Politik, dass
alle Bürger ihr Zusammenleben in
einer offenen Gesellschaft, der Bür­ger­
gesellschaft, frei gestalten können.
Ohne Freiheit können andere menschliche Werte nicht verwirklicht werden.
Jeder Mensch braucht Freiheit, um
seine Anlagen und Fähigkeiten entfalten und sich verwirklichen zu
können. Ohne Freiheit ermüdet der
menschliche Geist, verfallen Kultur
und Wissenschaften, stagniert die
Wirtschaft. Geistiges Leben braucht
Freiheit genauso wie der Körper die
Luft zum Atmen.
Jeder Mensch ist ein Individuum mit
ihm eigenen Ideen und Wünschen.
Er ist aber auch ein soziales Wesen,
auf andere Menschen angewiesen
und ihnen verpflichtet. Freiheit und
Ver­antwortung sind untrennbar. Sie
bestimmen das Verhältnis zwischen
dem Einzelnen und der Gemeinschaft.
Liberale setzen in zwischenmenschlichen Beziehungen auf Freiwilligkeit
– also auf Austausch von Gedanken
und Gütern, freien Handel, Einsicht,
Mitleid und Verantwortung – und
nicht auf Zwang. Freiwillige Zusam­
menschlüsse fördern das gegenseitige
Vertrauen. Sie führen zur Aner­ken­
nung der Werte und Ziele der jeweils
anderen und verdienen Respekt.
77
Liberale Politik und der Einzelne:
Liberale Politik will die Achtung der
Rechte des Einzelnen, der Bürger­
rechte. Der Einzelne ist auf diese
Rechte angewiesen, wenn er sein
eigenes Leben frei gestalten will. So
ist die Freiheit der Meinung nicht nur
ein zwingendes moralisches Gebot
der Toleranz und der Rechts­staat­
lichkeit. Sie ist auch der Weg zum
Fortschritt des menschlichen Geistes,
der nur im Wettbewerb der freien
Ideen und des Wissens zu finden ist.
Zu den Bürgerrechten gehört auch
das Recht auf Privateigentum. Ohne
die Achtung des Eigentums können
viele andere Rechte nicht ver­wirklicht
werden.
Liberale Politik ist für Chancen­gleich­
heit beim Start, für Wettbewerb und
Pluralismus. Sie will daher den freien
Zugang aller zu allen Märkten – zum
Bildungs-, Informations-, Arbeits-,
Waren- und Kapitalmarkt.
Liberale Politik will den Einzelnen
vom Zwang des Staates und anonymer Institutionen befreien, damit
er seine Verantwortung in Freiheit
wahrnimmt. Deshalb gehört zu den
Bürgerrechten die Freiheit des Einzel­
nen. Freiheit verlangt Übernahme von
Verantwortung für die Gemeinschaft.
78
Liberale Politik und die
Bürgergesellschaft:
Liberale Politik will in allen Bereichen
des Lebens die Freiräume der Bürger
erweitern und die Rolle des Staates
auf das Notwendige zurückdrängen.
Dazu gehört die Anerkennung der
Fähigkeit der Bürger, sich selbst zu
organisieren.
Viele Aufgaben können die Bürger in
Gemeinden, Stadtteilen, Vereinen,
lnteressenorganisationen, anderen
privaten Institutionen und Initiativen
selbst übernehmen, und sie wollen
dies auch.
Liberale Politik und der Staat:
Liberale Politik sieht die Aufgabe
des Staates im Schutz der individuellen Freiheit, in der Bewahrung
seiner Bürger vor Gewalt von innen
und außen und in der Einhaltung
des Ordnungsrahmens Verfassung.
Liberale Politik will Regeln festlegen,
die für alle gelten, dem Einzelnen
aber die freie Entscheidung lassen.
Sie will nicht ein bestimmtes Ergeb­
nis von vornherein fixieren: Sie will
also Regelgerechtigkeit, weil es
Ergebnisgerechtigkeit nicht geben
kann.
Lorem ipsum
Politische
Grundsätze.
dor sit amm dolor slor sit.
Liberale Politik will Demokratie.
Dies ermöglicht zwar Auswahl und
Wechsel, garantiert aber allein keine
Freiheit. Daher sind für Liberale strikte Gewal­tenteilung sowie Kontrolle
und Be­grenzung der Macht – der
staatlichen wie der privaten – unverzichtbar.
Liberale Politik will den an das Recht
gebundenen und die Freiheit respektierenden Staat. Er hat die Aufgabe,
Rechtssicherheit für jedermann zu
gewährleisten. Der liberale Rechts­
staat erkennt die Gruppeninteressen
an. Deshalb gibt er ihnen Freiheit in
Verantwortung, aber keine politische
Macht. Liberale Politik will keine
wirtschaftliche Betätigung des
Staates. Sie will nicht, dass der Staat
durch eigene wirtschaftliche Unter­
nehmen in Konkurrenz zu privaten
wirtschaftlichen Unter­nehmen tätig
wird.
Liberale Politik will die Entschei­
dungs­freiheit der Menschen in
allen Bereichen der Politik auch in
Zukunft erhalten. Sie lehnt daher die
Lösung heutiger Probleme zulasten
künftiger Generationen, zulasten
der Staats­finanzen, bei den sozialen
Sicherungs­systemen und vor allem
auch zu­lasten einer lebenswerten
Natur, ab.
Liberale Politik und internationale
Zusammenarbeit:
Liberale Politik will die offene Welt­
kultur und den freien Weltmarkt. Für
Liberale sind die Gemein­samkeiten
von Menschen wichtiger als die
Einteilung in In- und Aus­länder. Denn
die Vision des Libera­lismus ist eine
Weltgesellschaft, in der Austausch,
Kooperation und Wettbewerb der
verschiedenen Völker, Staaten, Staa­
ten­ge­mein­schaften und Kulturen in
Freiheit stattfinden.
Liberale Politik will die Entwick­lungs­
zusammenarbeit durch den freien
Welthandel und durch die Hilfe zur
Errichtung von freien und selbstverantwortlichen Bürgergesellschaften
in Entwicklungsländern.
Liberale Politik will die weltweite
Liberalisierung der Informations-,
Technologie-, Waren- und Dienst­
leis­tungs- sowie Währungs- und
Kapi­tal­märkte. Liberale Politik will
eine Einigung Europas und andere
regionale Zusammenschlüsse, die
nicht auf Kosten der Vielfalt nach
innen und der Offenheit nach außen
erkauft werden.
Liberale Politik will die Durchsetzung
der Menschen- und Bürgerrechte
weltweit.
79
Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit
aktuell.
80
Die Friedrich-Naumann-Stiftung
für die Freiheit ist die Stiftung für
liberale Politik in der Bundesrepublik
Deutschland. Sie will dazu beitragen, dem Prinzip Freiheit in
Menschenwürde in allen Bereichen
der Gesellschaft Geltung zu
verschaffen – im Inland wie im
Ausland. Mit der Wahrnehmung
ihrer satzungsmä­ßigen Aufgaben
(politische Bildung und Politikdialog,
Begabtenförderung, Forschung und
politische Beratung, Archiv) will die
Friedrich-Naumann-Stiftung für die
Freiheit zur Gestaltung der Zukunft
beitragen. Zur Erfüllung ihrer im
öffentlichen Interesse liegenden Auf­
gaben erhält die Stiftung öffentliche
Zuwendungen.
Dank der Förderung der Stiftungs­
tätigkeit mit derzeit 38,5 Mio.  aus
Mitteln des Bundes und der Län­der
ist die Stiftung außer in Deutsch­land
heute in mehr als 60 Ländern aktiv.
Im Inland bietet die Stiftung vor
allem jungen Nachwuchskräften
vielfältige Foren: für den Austausch
von Informationen und Erfahrungen
in lebendigen Zusammenhängen und
Formen. Es geht darum, Politik besser
zu verstehen und die Bürger zur
Beteiligung am politischen Prozess
zu bewegen, dies geschieht in der
Theodor-Heuss-Akademie in Gummers­
bach als dem Zentrum für den Dialog
auch mit Gästen aus aller Welt, die
an den Seminaren der Internationalen
Akademie für Füh­rungskräfte
Lorem
Die Friedrich-Naumann-Stiftung
ipsum dor sit amm dolor slor
aktuell.
sit.
teil­nehmen. Die Pro­gram­me der
Regionalbüros der Stiftung im Inland
– Berlin-Brandenburg, Gummersbach,
Halle, Hamburg, Hannover,
Lübeck, München, Stuttgart und
Wiesbaden – bieten Chancen für
das eigenverantwortliche Lernen
über individuelle Möglichkeiten der
Ge­staltung von Politik. Die Stiftung
arbeitet dabei mit einer Vielzahl von
Kooperationspartnern zusammen. Die
virtuelle Form der politischen Bildung
ergänzt und vertieft das bisherige
klassische Bildungsprogramm.
In klar definierten Perioden bearbeitet
die Stiftung bestimmte Themen­
schwer­punkte. Für den Zeitraum
2008–2011 sind dies:
❚
Freiheit und Eigentum
❚ Freiheit und Bürgergesellschaft/
Zivilgesellschaft
❚Freiheit und Rechtsstaat
Mit ihren Themenschwerpunkten hat
sich die Stiftung auch im Ausland
positioniert. Die Förderung von Men­
schenrechten, Rechtsstaatlichkeit und
Demokratie ist der Kern der Arbeit
der Regionalbüros in Europa, Afrika,
Asien und Lateinamerika, ergänzt
durch die Programme des internationalen und transatlantischen Dialogs.
Die Stiftung unterstützt lokale,
regionale und nationale Initiativen
zur Verwirklichung der Rechte von
Min­derheiten, zur demokratischen
Kon­t­rolle von Sicherheitskräften und
zur Stärkung von internationalen
Koa­li­tionen für die Menschenrechte.
Des Weiteren unterstützt die Stiftung
mit der Förderung von liberalen
Parteien und Gruppierungen den
Aufbau demokratischer und rechtsstaatlicher Struk­tu­ren. In Osteuropa
fördert die Stiftung erfolgreich
den Transformations­pro­zess der
ehemals kommunistischen Staaten,
und auf dem Balkan engagiert sie
sich im Rahmen des europäischen
Stabilitätspaktes. Ein dichtes Netz
von Zusammenschlüssen demokratischer Parteien, von Menschen­
rechtsorganisationen und wissenschaftlichen Einrichtungen ist das
Fundament der Stiftungstätigkeit
im Ausland. Der Kerngedanke der
Stif­tung im In- und Ausland ist die
Verwirklichung von Freiheit und
Verantwortung.
81
Politik ist Können und Wollen,
un­mittelbares Erleben. Die Stiftung
bewahrt sich den Optimismus ihrer
Gründer, dass es ihr auch in Zukunft
gelingt, einen wirksamen Beitrag
zu leisten, damit Politik für Freiheit
in Menschenwürde auch im dynamischen Zeitalter der Globalisierung
sozial und ökologisch verantwortlich
bleibt. Damit dies gelingt, ist sie
auf die Mitarbeit vieler Menschen
angewiesen. Die Stiftung bietet auf
vielen Politikfeldern Wissen und Erfah­
run­gen an. Aus leidvoller Erfahrung
mit Auf­stieg und Fall von Demokratie
in Deutschland, der Rückkehr von
Krieg im südöstlichen Europa und
dem immer noch krassen Wohlstands­
ge­fälle in vielen Entwicklungs- und
Transitionsländern erwächst die Ver­
pflichtung, die von Friedrich Nau­mann
initiierte Arbeit fortzusetzen.
Mit ihren 152 Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern in Deutschland,
ihren 29 Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern und ca. 175 Orts­kräf­ten
im Ausland, rund 800 Stipendiaten
und Stipendiatinnen, ihrem großen
Kreis an Altstipendiaten, Freunden
und Förderern verfügt die Stiftung
über Wissen und Erfahrungen für die
Heraus­for­de­run­gen der Gegen­wart
und Zukunft. Die Umsetzung der
82
Ideen von Theodor Heuss – Völker­
verständigung in Europa zum Beispiel
– erfordert auch heute gut überlegte
Konzepte, und zu deren Umsetzung
bedarf es der institutionellen
Stabilität. Eine wichtige Grundlage
dafür ist die institutionelle Förderung
aus dem Bundeshaushalt.
Vorstand und Kuratorium der Stiftung
legen die Vorgaben für die Gesamt­
tätigkeit der Stiftung fest, die von
der Geschäftsstelle in PotsdamBabelsberg gesteuert, koordiniert,
evaluiert und verwaltet wird.
Es gehört zum liberalen Selbst­ver­
ständ­­nis der Friedrich-NaumannStiftung für die Freiheit, ihre
Ressourcen mit größt­möglichem
Nutzen einzusetzen.
Da­rüber öffentlich Rechenschaft
ab­zulegen und die Öffentlichkeit über
ihre Tätigkeit und die Verwendung
ihrer Mittel zu informieren, ist selbstverständliche Pflicht. Sie stärkt das
öffentliche Vertrauen in die Seriosität
ihrer Arbeit und trägt zu der Aner­
ken­nung bei, die die Stiftung und
vor allem ihre ausländischen Partner
immer wieder erfahren. Frei nach
dem Motto: „Wenn man es nur versucht, so geht’s.“
Lorem
Die
Friedrich-Naumann-Stiftung
ipsum dor sit amm dolor slor
aktuell.
sit.
Max Weber schrieb damals an
Naumanns Witwe: „Mit der größten
Erschütterung erfuhr ich durch die
Zeitungen den Tod Ihres Mannes. Auf
die unabsehbare große Bedeutung
seiner politischen Persönlichkeit
hoffe ich in nächster Zeit öffentlich
sprechen zu können. Aber der Verlust
ist ja nicht nur ein politischer. Immer
wieder hat man sich menschlich
daran aufgerichtet, daß er da war,
daß jemand existierte, den die Politik
nicht menschlich erstarrt, mechanisiert, brutal oder raffiniert gemacht
hatte – und Sie wissen, daß wir ihn
herzlich liebten, ganz abgesehen,
was er uns allen als Politiker, als
Kulturmensch, als deutscher Mensch
bedeutete. Die stolze Bescheidenheit
seines Wesens verbot es fast, ihm
zu sagen, was seine Ritterlichkeit,
Gelassenheit, Wärme und Erfülltheit
uns rein persönlich bot, wie adelnd
er in den Diskussionen und Kämpfen
unseres öffentlichen Lebens wirkte,
wie ungeheuer viel größer sein Sein
war als sein Wirken und sein Wirken
wiederum als sein äußerlicher Erfolg.
Viele Jahre eigenen Lebens und
Hoffens gehen mit ihm dahin – Jahre,
die gelebt zu haben man doch nicht
missen möchte, mag auch heute alles
verloren scheinen. Die Größe seiner
Erscheinung lag nicht in dem, was er
wollte und wie er seine Sache führte.
Das Beispiel, das er gab, hat nicht
sofort gewirkt, wie sein innerer Wert
es verdient hätte, aber verloren war
es deshalb nicht. Und unverloren
bleibt vor allem die Tatsache: daß
ein Mensch sich innerlich so selbst
behauptete in einer Zeit, die für ihn
nicht geschaffen war. Entweder er
kam zu früh oder zu spät. Einerlei:
daß es ihn gegeben hat, ist etwas,
was uns allen ganz unverlierbar ist.“
Aus: Friedrich-Naumann,
der Mann, das Werk, die Zeit
von Theodor Heuss
83
Rede des Bundespräsidenten Prof. Dr. Horst Köhler anlässlich des Festaktes
„50 Jahre Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit“
am 19. Mai 2008 im ehemaligen Plenarsaal
des Deutschen Bundestages Bonn.
„Demokratie ist
keine Glücksversicherung,
sondern das Ergebnis
politischer Bildung
und demokratischer
Gesinnung.“
84
Lorem
50
Jahre
ipsum
für die
dor Freiheit.
sit amm dolor slor sit.
„Demokratie ist keine Glücksversicherung, sondern das Ergebnis politischer
Bildung und demokratischer Gesinnung.” So sah es Theodor Heuss. Also
machte er sich an die Arbeit und versammelte auf den Tag genau vor
50 Jahren einen Kreis liberaler Mitstreiter in der Villa Hammerschmidt, um
eine Stiftung zu gründen, deren vornehmliches Ziel bis heute die politische
Bildung ist. Ihr Name: Friedrich-Naumann-Stiftung.
Heuss wählte also seinen politischen Ziehvater zum Namenspatron. Friedrich
Naumann: ein Mann, der niemals einer Regierung angehört hatte, aber
ein Mann, der schon begeisterter und begeisternder Parlamentarier war,
bevor überhaupt die parlamentarische Demokratie in Deutschland ihre
erste Chance bekam. Sächsischer Pastor, Sozialreformer, ein Mann, der eine
Generation führender Denker und Politiker mitgeprägt hat, die den Aufbau
der Bundesrepublik gestaltet haben. Ein Mann der Ideen, des Wortes, ein
mitreißender Redner.
Und auch ein Mann der Tat. Naumann hatte erkannt: Die Demokratie
braucht „tätige Staatsbürger”, um zu gedeihen. Seine Schlussfolgerung:
„Der guten Jugend wollen wir helfen, dass sie über uns hinauswächst.” Dazu
entwickelte er das Konzept einer „Staatsbürgerschule”, Jahrzehnte später
verwirklicht im Otto-Suhr-Institut an der Freien Universität Berlin.
Alfred Döblin hat einmal geschrieben, dass die erste deutsche Demokratie
scheiterte, weil sie eine „Republik ohne Gebrauchsanweisung” war. Jungen
Menschen durch politische Bildung eine taugliche Gebrauchsanweisung
mit auf den Weg zu geben – das war eine der Triebfedern, die vor 50 Jahren
zur Gründung der Friedrich-Naumann-Stiftung führten. Sie trägt wie die
anderen politischen Stiftungen seit nunmehr einem halben Jahrhundert auf
85
vielfältige Weise zu unserer politischen Kultur bei. Es ist tägliche, praktische, handfeste Arbeit an und für unsere Demokratie. Dafür danke ich allen
Mitarbeitern ganz herzlich.
Schnell erkannte die Friedrich-Naumann-Stiftung die große Bedeutung des
Themas „Entwicklungszusammenarbeit” in unserer einen Welt. Dass der
erste Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit Walter Scheel hieß und
einer Partei angehörte, die der Naumann-Stiftung nahesteht, war für die
Auslandsarbeit der Stiftung kein Schaden, und ebenso wenig die Übernahme
des Außenministeriums durch ihn und andere liberale Politiker. „Hilfe zur
Selbsthilfe” – das war die unter Walter Scheel konkretisierte Formel der
Entwicklungszusammenarbeit. Sie ist bis heute zielführend und sollte noch
viel stärker beherzigt werden.
Die politischen Stiftungen sind ein Aushängeschild unseres Landes, haben
viel zu Deutschlands gutem Ruf im Ausland beigetragen und ergänzen
die Arbeit der diplomatischen Vertretungen. Und umgekehrt tragen die
Mitarbeiter der Auslandsbüros ihre Erfahrungen zurück nach Deutschland.
Die Auslandsarbeit der politischen Stiftungen ist ein wechselseitiger
Lernprozess zum allseitigen Nutzen. Und ein Erfahrungsschatz, der immer
wieder verfügbar gemacht werden muss für die politische Arbeit – bei uns in
Deutschland und international.
Eine Stiftung, die den Zusatz „für die Freiheit” im Namen trägt, ist besonders gefordert bei der Frage, wie unser Gemeinwesen im Spannungsfeld
zwischen Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit gestaltet werden soll. Ganz
im Sinne Friedrich Naumanns, wonach Freiheit eben nicht als Lizenz zur
Unverbindlichkeit missverstanden werden darf, sondern sich aus freiem
Willen und eigener Erkenntnis bindet in Verantwortung.
Wer wollte bestreiten, dass dies Themen sind, die uns jeden Tag begegnen, dass wir mittendrin sind in einer Zeitenwende, in der wir die Balance
zwischen Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit neu austarieren müssen?
Vielleicht lohnt es sich in dem Zusammenhang auch, beim Sozialreformer
Naumann mit seinen Erfahrungen
des Strukturwandels vor 100 Jahren
nachzulesen?
Im Zentrum liberalen Denkens
steht ein Menschenbild, das jedem
Menschen etwas zutraut – und
deshalb etwas von ihm erwartet. Wir sind gefangen in unserer
Unzulänglichkeit, sagt dieses
Menschenbild, aber wir sind zur
Freiheit begabt. Jeder hat Ideen
Dr. Wolfgang Gerhardt MdB
und Talente, und die Einzigartigkeit
86
Lorem
50
Jahre
ipsum
für die
dor Freiheit.
sit amm dolor slor sit.
eines jeden von uns verlangt danach, Berücksichtigung zu erfahren. Deshalb
bedeutet Freiheit zwangsläufig immer auch Ungleichheit. Ungleichheit
kann die Quelle von Anstrengung, Kreativität und Dynamik sein. Nur wenn
Ungleichheit unüberwindbar ist, dann wirkt sie lähmend und fügt dem
Zusammenhalt einer Gesellschaft Schaden zu.
Es ist ein Gebot der Gerechtigkeit, allen die Chance zu geben, ihre Talente
zu entwickeln und durch Leistung sozialen Aufstieg zu erreichen. Das ist
zugleich eine der wichtigsten Antriebskräfte für die Leistungsfähigkeit
unseres ganzen Landes. Wer also glaubwürdig für Freiheit in einer offenen
Gesellschaft werben will, der muss für Durchlässigkeit der Gesellschaft sorgen. Beweglichkeit von unten nach oben: Auch daran macht sich der Wert
der Freiheit für den Einzelnen fest. Da haben wir bei uns noch ein bisschen
Nachholbedarf.
Deshalb lautet meine Empfehlung an alle, die sich dem Freiheitsgedanken
verpflichtet fühlen: Ringen Sie um Gerechtigkeit in der Freiheit. Tragen
Sie Sorge dafür, dass Freiheit nicht zur Verteidigung von Privilegien missbraucht werden kann. Arbeiten Sie mit daran, dass gerade diejenigen, die
sich heute als chancenlos empfinden, dazu ertüchtigt werden, in eigener
Leistung und Selbstbestimmung ihr Leben zu gestalten und zu meistern.
Dafür bleibt das A und O Bildung – nicht verkürzt auf einen Set berufsqualifizierender Abschlüsse und „Kompetenzen”, sondern verstanden als
glückliche Verbindung von Kenntnissen, Können und Verantwortungsbe­
reitschaft. Gleiche Bildungschancen – das ist die wichtigste Form sozialer
Gerechtigkeit.
Die Friedrich-Naumann-Stiftung hat in 50 Jahren viel Gutes
auf den Weg gebracht. Sie leistet im In- und Ausland
einen wertvollen Beitrag dazu, die Demokratie zu verstehen,
wertzuschätzen und hochzuhalten.
Wer Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit unter einen Hut bekommen will,
der nimmt sich einiges vor. Ich wünsche mir, dass die Stimme der FriedrichNaumann-Stiftung auch weiterhin deutlich vernehmbar bleibt – beratend,
wenn nötig, mahnend. Ich wünsche uns allen, dass die Stiftung weiterhin
Menschen in Deutschland und in aller Welt prägt und rüstet dafür, demokratische Verantwortung zu übernehmen und ihre Mitbürger zu begeistern
für Freiheit und Gerechtigkeit und Verantwortung. Und ich wünsche unserer
Demokratie einen großen Reichtum an Demokraten, wie Friedrich Naumann
einer war.
87
Rede von Prof. Dr. Lord Ralf Dahrendorf anlässlich des Festaktes
„50 Jahre Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit“
am 19. Mai 2008 im ehemaligen Plenarsaal
des Deutschen Bundestages Bonn.
„Wer die Freiheit
nicht nur zuerst,
sondern auch ganz ohne
ein »und« einen zweiten,
angeblich gleichrangigen
Wert will, muss Auskunft
darüber geben,
wie er sich die lebenswerte Welt vorstellt.“
88
Lorem
50
Jahre
ipsum
für die
dor Freiheit.
sit amm dolor slor sit.
Die Glückwünsche zum 50. Geburtstag der Friedrich-Naumann-Stiftung,
die zu entbieten die Einladung zu dieser Festrede mich ermutigt, kommen
von einem Liberalen besonderer Prägung. Als Kind und Teenager wuchs ich
in einer Familie auf, die mit „den Lebers” – der Familie des bedeutenden
Widerstandsmannes Julius Leber – befreundet war. Mein Vater nahm mich
aber auch mit, um (es war schon während des Krieges) in einer Berliner
Kunsthandlung den früheren Reichstagskollegen der anderen, liberalen
Fraktion, Theodor Heuss, zu treffen. Leber, vom Volksgerichtshof nach dem
20. Juli im selben Prozess wie mein Vater verurteilt, wurde hingerichtet.
Mein Vater kam aus dem Zuchthaus Brandenburg zurück in das zerstörte
Berlin. Wir wohnten damals in Zehlendorf, nicht weit von Annedore
Leber. In beiden Häusern war Lebers Lübecker „Ziehsohn” Willy Brandt,
noch in norwegischer Uniform, mehrfach zu Gast. Mein Vater, Arbeiterkind
und Sozialdemokrat, fand sich bald erneut im Kampf um die Freiheit. Er
war im Vorstand der ostzonalen SPD und stimmte in der entscheidenden Abstimmung im Februar 1946 gegen die Zwangsvereinigung von
Sozialdemokraten und Kommunisten zur SED.
Es hat etwas leicht Peinliches, viele Jahre später die politische Haltung des
längst verstorbenen Vaters zu interpretieren; aber ich glaube, niemanden in
die Irre zu führen, wenn ich sage, dass Gustav Dahrendorf ein liberaler
Sozialdemokrat war. Jedenfalls war er unbequem. Von der Befürwortung des
relativen Mehrheitswahlrechts bis zur Unterstützung der von der damaligen
SPD mit Skepsis, ja Ablehnung, begleiteten ersten Schritte zur europäischen
Einigung vertrat er eine eigene Meinung, und er sprach immer wieder vom
Menschen als Maß aller Dinge, vor allem aber von der Freiheit, die er zwei89
mal in seinem Leben – 1933 und 1946 – vor allen anderen Interessen und
Werten unter persönlichen Opfern verteidigt hatte. Dass er seinem Sohn die
Freiheit ließ, eigene politische Wege zu gehen, war da fast schon selbstverständlich.
So fand ich mich anderthalb Jahrzehnte nach der dramatischen Berliner
Entscheidung im eher idyllischen Tübingen, als die Bundesrepublik
Deutschland mit der Spiegel-Affäre ihre erste große Krise erlebte. Der junge
Professor verteilte nicht nur Flugblätter auf der Eberhardsbrücke, sondern
beschloss auch, politisch aktiv zu bleiben. Bei den Gemeinderatswahlen von
1963 ließen sich mehrere Kollegen wie ich von Parteien zu Kandidaturen
bewegen. Mein juristischer Kollege Jürgen Baumann kandidierte für die CDU,
der Naturwissenschaftler Georg Melchers für SPD und ich für die FDP. Wir
hatten allesamt aussichtsreiche Listenplätze, abgesehen von der Tatsache,
dass auf den Wahlzetteln unsere Berufsbezeichnung „Universitätsprofessor”
hinter dem Namen stand. Dies veranlasste die damals noch traditionsbewussteren „Gogen”, die Tübinger Urbürger, von den Möglichkeiten des
Kumulierens und Panaschierens, viel mehr vor allem des Nichtkumulierens
Gebrauch zu machen. Baumann auf seiner und ich auf meiner Liste
wurden so oft gestrichen, dass wir es nicht in den Gemeinderat schafften;
Melchers erging es etwas besser, er wurde nur von Platz eins auf Platz zehn
oder so heruntergestrichen, und das reichte gerade noch zur Wahl.
Als derlei geschah, gab es die Naumann-Stiftung schon; zu ihren Gründern,
deren Namen sich auf der Stiftungsurkunde finden, gehörte mein
Fakultätskollege Walter Erbe. Seine politische Haltung hatte seine aka-
Dr. Otto Graf Lambsdorff
90
Lorem
50
Jahre
ipsum
für die
dor Freiheit.
sit amm dolor slor sit.
demische Karriere in Berlin nicht
gefördert. Nach dem Krieg indes
fand der Berliner Privatdozent sich
auf einem Tübinger Lehrstuhl. Mehr
noch, er wurde bald zum Rektor
gewählt. Nach dem erfolgreichen
Rektorat kandidierte er in Stuttgart
für den Landtag, in dem er 15 Jahre
lang eine bedeutende Rolle spielte.
Sein unzeitig früher Tod 1967 hatte
(wenn Sie mir eine letzte autobiografische Bemerkung nachsehen)
zur Folge, dass die FDP/DVP mir seinen Stuttgarter Wahlkreis antrug,
in dem ich im Frühjahr 1968 in den
baden-württembergischen Landtag
gewählt wurde.
Walter Erbe war – wie auch Theodor Heuss – ein Kulturliberaler. Sein literatenhaftes Äußeres täuschte nicht; mein Vater hätte ihn vielleicht einen
Bohemien genannt und dabei leichten Neid mit sanftem Zweifel verknüpft.
Nicht nur galt Erbes Hauptinteresse der Kulturpolitik, sondern alles, was er
öffentlich sagte, verriet seine Heimat in der deutschen Bildungswelt. Man
könnte ihn auch einen Humboldt-Liberalen nennen. Von dieser Art gab es in
der Naumann-Stiftung manche. Ich denke an Rolf Schroers, aber auch an
Barthold Witte. Rings um die Zeitschrift „liberal”, oft auch an der TheodorHeuss-Akademie in Gummersbach, versammelten sich die Kulturliberalen
und prägten auf ihre Weise ein Stück deutsche Nachkriegsgeschichte.
Die Naumann-Stiftung ging dann aber, im Gleichklang mit den anderen
sogenannten „politischen” Stiftungen, auch andere Wege. Dafür war nicht
zuletzt ein junger Entwicklungshilfeminister im letzten Kabinett Adenauer
verantwortlich, nämlich Walter Scheel. Er hatte die durchaus liberale
Idee, dass die Förderung der Entwicklung anderer Länder nicht, jedenfalls
nicht materiell, von Staats wegen betrieben werden sollte. Daher suchte er
Wege, um Entwicklungshilfe auf Armeslänge zu betreiben, also mithilfe von
Nichtregierungsorganisationen, die die öffentlichen Mittel vor Ort für
von ihnen begleitete Projekte verwenden. Das war eine jener scheinbar formalen Entscheidungen mit weitreichenden materialen Folgen und hat neben
dem Hauptzweck die Stiftungen enorm gestärkt. Es kann nicht beabsichtigt
sein, die Wirkungsgeschichte der Stiftung, deren Jubiläum wir heute feiern,
im Einzelnen nachzuzeichnen.
Zur Entwicklungsarbeit kam die politische Bildung im eigenen Land, dann
die – vor allem mit dem Namen Otto Graf Lambsdorff verbundene – inter­
Prof. Dr.
Horst Köhler
91
nationale politische Zusammenarbeit, auch die Schaffung einer Art
Thinktank mit originellen Beiträgen zur Debatte liberaler Politik. Dem etwas
ferner Stehenden – der mittlerweile auf den „cross benches”, den Bänken
der Unabhängigen im britischen Oberhaus, seinen Platz hat – ist nicht entgangen, dass auf den Briefbögen der Stiftung der Name Friedrich Naumanns
jetzt ein bisschen kleiner gedruckt wird. Dafür kommt deutlich die Absicht
des gegenwärtigen Vorsitzenden Wolfgang Gerhardt heraus: Stiftung für die
Freiheit. Das ist ein Signal. Es ist ein willkommenes, aber auch ein antizyklisches Signal.
Von der Freiheit ohne Wenn und Aber
reden heute nur wenige.
In gewisser Weise ist die Freiheit ein Minderheitsideal geworden. Die
Mehrheit redet eher von Gerechtigkeit. Zwei Drittel aller Deutschen sind laut
Auskunft der Meinungsforscher überzeugt, dass es in Deutschland ungerecht
zugeht. Also wollen viele Freiheit und Gerechtigkeit, oft sogar Gerechtigkeit
vor allem. Wer die Freiheit nicht nur zuerst, sondern auch ganz ohne ein
„und” einen zweiten, angeblich gleichrangigen Wert will, muss Auskunft
darüber geben, wie er sich die lebenswerte Welt vorstellt.
Das ist keine einfache Aufgabe. Es ist ja eine historische Erfahrung, dass
Zeiten, in denen neue Produktivkräfte sich Bahn brechen, manche sehr
reich und viele arm machen. Das war beispielsweise in der großen Zeit
Plenarsaal des ehemaligen Bundestages in Bonn
92
Lorem
50
Jahre
ipsum
für die
dor Freiheit.
sit amm dolor slor sit.
Dr. Hildegard Hamm-Brücher, Dr. Hermann Otto Solms MdB (v. r. n. l.)
des Eisenbahnbaus, also der Rockefellers und Carnegies, der Fall, und es
ist sicher der Fall in dieser Zeit der Informationsrevolution seit dem Ende
des Kalten Krieges. Die Schere zwischen Arm und Reich hat sich weit
geöffnet. Innerhalb eines Jahrzehnts ist die Zahl der Dollarmilliardäre von
einer Handvoll zu vielen Hundert, ja mehreren Tausend angestiegen. Diese
Superreichen haben eine nicht unbeträchtliche Zahl nachgezogen, vielleicht
sogar 10 Prozent oder sogar mehr, deren Einkommen sich in den letzten
anderthalb Jahrzehnten vermehrfacht hat. Zugleich fand das untere Zehntel
sich mit nicht stagnierenden, sondern sinkenden Einkommen in der neuen
Welt der Globalisierung wieder. Man braucht keine scheinsubtilen, statistischen Maße – 60 Prozent des Durchschnittseinkommens etwa –, um eine
neue Armut zu konstatieren, Kinderarmut, Altersarmut, ganz gewöhnliche
Armut in den großen Städten und nicht nur da.
Der Versuchung, von Armut inmitten des Reichtums zu sprechen, muss
man zudem widerstehen, denn der neue Reichtum ist nur bedingt zu
sehen. Es wäre von Interesse, Untersuchungen darüber anzustellen, was
die Superreichen mit ihren Millionen machen. Die berüchtigten Bezieher
hoher Managementgehälter legen das Geld ja nicht in 500-Euro-Noten in
ihre Safes. Sie beschäftigen vielmehr Menschen, Sicherheitsexperten und
Hausgehilfen, Yachtmannschaften in Mittelmeerhäfen und Piloten für die
6 000 privaten Gulfstream-Jets, die heute den Himmel bevölkern, und natürlich die Bauarbeiter für die Mauern rings um die „gated communities”, in
denen sie ihre Luxusgettos geschaffen haben.
93
Die Superreichen als Arbeitgeber –
das ist ein unausgeschöpftes soziales Thema.
Dabei wird dann bald etwas deutlich, was zum Kern dieser Überlegung
zum Thema Freiheit und Gerechtigkeit führt. In den globalisierenden
Gesellschaften haben bestimmte Gruppen gleichsam abgehoben von den
Unternehmen, die die Quelle ihres Reichtums sind. Es ist eine eigene Welt
jener Bezieher von Spitzeneinkommen entstanden, in der die entscheidenden Signale nicht mehr von denen ausgehen, für die diese Superreichen
verantwortlich sind, sondern von den anderen Superreichen. „Es sieht nicht
gut aus, wenn unser CEO so viel weniger kriegt als der der Konkurrenz”,
sagt der Vorsitzende des Aufsichtsrates, und die Mitglieder des zuständigen
Ausschusses nicken. Da verliert es jeden Sinn zu sagen, der CEO verdiene
das 20-Fache – oder auch 200-Fache – des Durchschnittseinkommens
seiner Beschäftigten. Diese sind vielmehr nicht mehr relevant für die
Spitzeneinkommen, sind vielleicht überhaupt entbehrlich. Dann ist es nicht
mehr weit zum Nokia-Phänomen, also Massenentlassungen bei hohen
Gewinnen, ein Phänomen übrigens, für das viele andere eindringlichere
Beispiele liefern als gerade Nokia.
Ist das alles gerecht? Finden hier nicht Entwicklungen statt, die verständlicherweise das Gerechtigkeitsempfinden der Mehrheit beunruhigen? Kann
man nicht verstehen, dass viele angesichts solcher Entwicklungen zunächst
Gerechtigkeit und dann erst Freiheit wollen? Wer auf die von John Rawls
entwickelte „Theorie der Gerechtigkeit” schwört, also eine Gesellschaft will,
in der die am niedrigsten Entlohnten dennoch Einkommen haben, die in
anderen denkbaren Gesellschaften auch nicht höher wären, mag zu diesem
Schluss kommen. Rawls ist indes zwar der Säulenheilige des in allen Parteien
verbreiteten sozialdemokratischen Denkens, aber nicht der Einzige, an den
man sich in der gegenwärtigen Lage halten kann.
Da ist zunächst an zwei heute eher selten zitierte Autoren zu denken, für
die Gerechtigkeit eine sinnlose Phrase, ihre Forderung daher ein ideologischer Irrweg ist. Mindestens einer der Namen mag überraschen: es ist die
Rede von Karl Marx und Friedrich von Hayek. Meine Dissertation über den
„Begriff des Gerechten im Denken von Karl Marx” (die insoweit auch nach
56 Jahren noch gültig ist) begann mit der Beobachtung, dass „Gerechtigkeit”
bei Marx sozusagen nicht vorkommt. Gelegentlich verwendet er das Wort
in Anführungsstrichen, um es als Feigenblatt bourgeoisen Selbstlobs zu
geißeln. Die kommunistische Endgesellschaft aber beschreibt er nicht als
gerecht, sondern vor allem als ein „Reich der Freiheit”, in dem „die freie
Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller” ist.
Der Weg dahin wird zudem nicht von moralischen Prinzipien bestimmt. Die
Arbeiterklasse „hat keine Ideale zu verwirklichen; sie hat nur die Elemente
94
Lorem
50
Jahre
ipsum
für die
dor Freiheit.
sit amm dolor slor sit.
der neuen Gesellschaft in Freiheit zu setzen, die sich bereits im Schoß der
zusammenbrechenden Bourgeoisiegesellschaft entwickelt haben.”
Das klingt merkwürdig ähnlich bei Friedrich von Hayek, der nicht nur
Gerechtigkeit nicht als Ideal akzeptiert, sondern sich über dessen häufige
Verwendung mokiert. Gerechtigkeit ist für ihn „sinnlos”. Sie bedeutet, dass
gewisse allgemeine Regeln als für alle gültig behauptet werden. „Das lässt
sich nicht anwenden auf die Art und Weise, in der der unpersönliche Prozess
des Marktes Kontrolle über Güter und Dienstleistungen bestimmten Personen
zuschreibt. Diese kann weder gerecht noch ungerecht sein, denn die
Resultate sind weder beabsichtigt noch vorhersehbar und hängen von einer
Vielzahl von Umständen ab, die in ihrer Gänze niemand kennen kann.”
Marx und Hayek sehen beide unpersönliche Kräfte am Werk – der eine den
vom Kopf auf die Füße gestellten Weltgeist, der andere den allmächtigen
Markt –, die es erübrigen, moralische Grundsätze oder auch nur politische
Programme ins Feld zu führen. Beide brauchen daher die Gerechtigkeit nicht
und können sich auf ihre je eigenen Konzeptionen der Freiheit konzentrieren.
Sie sind dennoch nicht die Art von Anhängern der Freiheit, denen ich hier das
Wort rede. Beider Dogmatismus widerspricht dem ersten Grundsatz liberalen
Denkens, nämlich der Offenheit für neue Wege. Trial and error, Versuch und
Irrtum, bedeuten, dass wir nie aufhören dürfen, neue Wege zu versuchen,
und übrigens, dass der dazu notwendige Mut zur Reform nicht selbstverständlich ist. Er muss wachgehalten werden, und er verlangt ein Verständnis
von Regeln, das auch den Markt nicht ungeschoren lässt von Recht und
Moral.
Es gibt eine gedankliche und politische Position, die den Fundamentalismus,
sei es von Marx, sei es von Hayek, ebenso vermeidet wie den naiven
Moralismus der Gerechtigkeitsapostel à la Rawls. Sie wird von Autoren
vertreten, die zu meinen bevorzugten Liberalen gehören. Der langjährige Kolumnist der „Financial Times”, Sir Samuel Brittan, spricht von RML,
nämlich von Redistributive Market Liberals, zu denen er sich zählt. Adaer
Turner, der Autor des Buches mit dem bezeichnenden Titel „Just Capital”,
hat den Begriff für sich aufgenommen. Ich habe stets bedauert, dass dabei
der Begriff der Umverteilung verwendet wird, denn diese mechanische
Vorstellung, wonach den Reichen genommen und den Armen gegeben
wird, ist weder praktikabel noch hilfreich. Statt von UmverteilungsMarktliberalismus spreche ich lieber von einem Grundstatus-Markt­
liberalismus.
95
Die Gesellschaft der Freiheit, die ich suche,
kennt also einen Fußboden, auf dem alle stehen,
eine rechtliche und sozialökonomische Grundposition,
die niemandem verwehrt, ja die für alle geschaffen wird.
Man kann diesen Grundsatz mit dem Begriff der Bürgerrechte kennzeichnen, mit citizenship im Sinne von T. H. Marshalls wichtigem Buch
„Citizenship and Social Class”. Dass Gleichheit vor dem Gesetz und politische
Teilnahmechancen für alle dazugehören, ist allgemein anerkannt (wenngleich leider nicht allgemein verwirklicht). Auch in einem weiteren Sinn
gehört Chancengleichheit zu dem Grundstatus. Dass Bildung Bürgerrecht
ist, gilt heute wie vor 40 Jahren, als Hildegard Hamm-Brücher und andere
Liberale dafür kämpften und ich ein Büchlein unter diesem Titel schrieb.
Indes gehören zum Grundstatus aller Bürger noch andere, kontroverse
Themen. Das sind einmal zugängliche und erschwingliche öffentliche
Dienste. Was zu diesen gehört und wie sie „zugänglich und erschwinglich”
werden, ist ein Schlüsselthema liberaler Politik.
Noch umstrittener dürfte eine weitere Forderung sein, nämlich ein garantiertes Grundeinkommen für alle. Nicht von Mindestlohn ist die Rede, sondern von einem marktunabhängigen Existenzgeld, auf das alle Anspruch
haben und das ein Minimum an (Über-)Lebenschancen garantiert. Das ist
ein mittlerweile viel diskutiertes Thema – auch eines, gegen das sich man-
Prof. Dr. Horst Köhler, Walter Scheel (v. l. n. r.)
96
Lorem
50
Jahre
ipsum
für die
dor Freiheit.
sit amm dolor slor sit.
che Argumente und Erfahrungen ins Feld führen lassen, aber es ist auch ein
Thema, das auf der Tagesordnung einer Politik der Freiheit bleiben muss.
Nun wird mancher sagen: Ein Grundstatus ist ja schön und gut, aber wie
steht es mit den Gulfstream-Eignern in ihren Sozialgettos? Was also sagt
der Grundstatus-Marktliberale zu den Superreichen? Wie steht es mit der
Ungleichheit überhaupt? Die Antwort, die ich hier vorschlage, ist kontrovers; sie scheidet auch die Freiheitsfreunde von den Gerechtigkeitssuchern.
Wenn der Grundstatus garantiert ist, wenn also Existenzsicherung
und Chancengleichheit erreicht sind, gibt es prinzipiell keinen Grund,
Unterschiede einzuebnen. Mehr noch, die Ungleichheit der Einkommen und
Lebenslagen kann dann zum Stimulus einer offenen, wandlungsfähigen, freien Gesellschaft werden. In diesem Bereich sind Freiheit und Gleichheit nicht
komplementäre, sondern widersprüchliche Ziele.
Kann das wirklich so stehen bleiben als letztes Wort zum Thema? Sicher
nicht. Ein Punkt zumindest bedarf besonderer Aufmerksamkeit.
Wenn der Status von Menschen diese in die Lage versetzt,
die Bürgerrechte anderer zu beschränken,
dann ist das in einer freien Gesellschaft nicht akzeptabel.
Das war einmal das Thema der Standesgesellschaft, in der die
Rittergutsbesitzer „dafür sorgten”, dass die ihnen Anvertrauten „richtig” wählen. (Die modernen Rittergutsbesitzer sind eher Staats- und
Parteifunktionäre.)
Es kann indes auch vorkommen, dass ungewöhnlich hohe Einkommen missbraucht werden, um politische Unterstützung zu kaufen. Diese Gefahr mag
bei Multimillionären unter Fußballspielern oder Opernsängern gering sein.
Sie ist bei Medienunternehmern weit größer und bei den Gewinnern
der versteckten Auktion zur Privatisierung von Staatsunternehmen sehr
groß. Dort also, wo Status in Macht übersetzbar wird, ist nicht nur äußerste
Aufmerksamkeit, sondern auch der regelnde Eingriff am Platze, der indes
nicht der Höhe etwa des Einkommens gelten sollte, sondern seiner Qualität,
also dem, was mit einem Spitzenstatus getan wird.
97
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