Friedrich Naumann „Daß wir selber frei zu werden suchen, soviel uns immer möglich ist.“ (Friedrich Naumann, 1905) Leben und Werk Friedrich Naumanns 1860–1919. Chronik der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit 1958–2010. Diese Publikation wurde gefördert durch die Gesellschaft der Freunde und Förderer der Friedrich-NaumannStiftung für die Freiheit e. V. „Daß wir selber frei zu werden suchen, soviel uns immer möglich ist.“ Friedrich Naumann. Das Ideal der Freiheit (1905). Inhalt. Geleitwort. Dr. Wolfgang Gerhardt 4-7 Sein Leben, sein Werk, seine Wirkung. Dr. Barthold C. Witte 8-45 100 Jahre danach. Dr. Jürgen Frölich 46-65 Biografie Friedrich Naumanns. 66-67 Friedrich-Naumann-Bibliografie. 68-69 Chronik der Stiftung. 70-74 Gremienvorsitzende der Stiftung. 73 75 Politische Grundsätze der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. 74–77 76-79 Die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit aktuell. 78–81 80-83 50 Jahre für die Freiheit. 84-97 Bundespräsident Prof. Dr. Horst Köhler 85 84 Prof. Dr. Lord Ralf Dahrendorf 88 Dr. Wolfgang Gerhardt, Vorsitzender des Vorstandes der Friedrich-NaumannStiftung für die Freiheit (seit 2006) Friedrich Naumann scheint uns weit weg: Seine Geburt liegt rund anderthalb Jahrhunderte zurück, der Tod ereilte ihn vor neun Jahrzehnten. Viele der sozialen und politischen Rahmenbedingungen, die sein Leben und Wirken prägten, sind verschwunden: das deutsche Kaiserreich, das preußische Junkertum, Europas weltpolitischer Führungsanspruch, deutsche Kolonien in Übersee, das System der europäischen Großmächte etc. Persönliche Erinnerung an ihn gibt es, anders als vor 50 Jahren bei der Gründung unserer Stiftung, auch nicht mehr. Ist es da noch sinnvoll, wenn sich die Arbeit einer politischen Stiftung des 21. Jahrhunderts auf einen Protagonisten der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert beruft? Auf den ersten Blick nicht. Denn manches oder gar vieles von dem, was Naumann politischstrategisch propagierte, ist nicht mehr aktuell bzw. längst überholt: Es gibt kein ungleiches Wahlrecht mehr wie in Preußen, das deutsche Parlament ist eindeutig das von der Verfassung eingesetzte politische Entscheidungszentrum, die Zersplitterung des deutschen Liberalismus ist seit Gründung der FDP vor 60 Jahren und spätestens seit der Fusion mit den ostdeutschen Liberalen überwunden, die betriebliche Mitbestimmung ist seit Langem gesichert. Was bleibt da heute noch von der politischen und gesellschaftlichen Gedankenwelt des sächsischen Pfarrersohns? Ich behaupte, in anderer Weise ist Friedrich Naumann immer noch sehr modern. Ich meine damit Lorem ipsum dor sit amm dolor slor sit. Geleitwort. nicht in erster Linie seine optimistische Weltsicht, seinen Glauben an die stetige Weiterentwicklung der Gattung Mensch und seine Überzeugung von der schöpferischen Kraft der Freiheit. Dies sollte Gemeingut aller Liberalgesinnten sein. Die Modernität und Aktualität von Friedrich Naumann liegt für mich vor allem darin, wie er die Problemlagen seiner Zeit analysiert hat und wie er damit umgegangen ist. So erkannte Naumann sehr früh, dass man damals wie heute in einem Zeitalter der Globalisierung lebte, deren Auswirkungen sich auf nationaler Ebene wenig oder gar nicht einschränken ließen. Naumann wollte dies auch gar nicht: „Wir haben nur die Wahl, ein kleines Volk am Rande der Weltgeschichte zu sein oder zum Freihandel überzugehen.“ Als Naumann dies 1906 schrieb, war für ihn klar, wie die Wahl ausfallen müsste, denn im Freihandel sah er die „denkbar größte Garantie der menschlichen Wohlfahrt“ und deshalb rief er in seiner „Neudeutschen Wirtschaftspolitik“ dazu auf: „Macht Luft, macht alle Häfen frei, lasst uns ein Werkhaus der Völker werden und ein Stapelplatz der Erzeugnisse aller Zonen.“ Wir sollten uns vom damaligen Optimismus Friedrich Naumanns anstecken lassen und die zweite Welle der Globalisierung ebenfalls vor allem als Chance ansehen. Friedrich Naumann hat aber auch die Probleme des Liberalismus seiner Zeit nicht verkannt. Er hat für ihn neue Strategien und Aktionsformen gesucht, zum Teil selbst – wie bei seinem fulminanten Wahlerfolg in Heilbronn 1907 – erprobt. Vor allem hat er versucht, dem besitz- und bildungsbürgerlich erstarrten Liberalismus neue gesellschaftliche Gruppen zu erschließen. Eine eher kleine Gruppe waren Intellektuelle und Künstler. Naumann hat sich nicht damit begnügt, diese nur gelegentlich anzu sprechen, er wollte ihnen dauerhafte Foren bieten, u. a. in seinen Publikationsorganen wie der „Hilfe“, der von ihm 1895 ins Leben gerufenen politisch-kulturellen Zeitschrift. In diesen Kontext gehört auch der „Deutsche Werkbund“, dessen 100. Geburtstages im Jahre 2007 vielerorts gedacht wurde. Aus heutiger Sicht ist weniger wichtig, welche konkreten Ziele Naumann mit dem „Werkbund“ verfolgte, interessant und beispielhaft ist vielmehr, wie es ihm und seinen Mitstreitern, darunter der junge Theodor Heuss, gelang, ein Netzwerk von intellektuellen Vordenkern, schaffenden Künstlern und innovativen Unternehmern aufzubauen, das bis heute trotz aller zeithistorischen Stürme überlebt hat. Der ursprüngliche „Werkbund“ ist sicherlich auch heute noch ein Modell, wie man liberales Gedankengut in scheinbar unpolitische gesellschaftliche Kreise hineintragen kann. Eine zweite, weit größere Zielgruppe als die, welche der „Werkbund” bedienen sollte, hatte Friedrich Naumann in den Frauen erkannt. Diese waren damals noch weitgehend vom politischen Leben ausgeschlossen; erste Verbesserungen wurden vor genau 100 Jahren mit dem Reichsvereinsgesetz erreicht, für das sich Naumann sehr stark gemacht hatte. Naumann hatte große Sympathien für die Frauenbewegung, in der er eine Art Freiheitsbewegung ausgemacht hatte und die er für den Liberalismus gewinnen wollte. Das ist ihm teilweise auch gelungen, man denke nur an Helene Lange, Gertrud Bäumer und Marie-Elisabeth Lüders. Friedrich Naumann war überzeugt davon, dass Liberalismus keine Sache der sozialen Herkunft sei, sondern auch Menschen jenseits des klassischen Bürgertums von ihm profitieren würden. Andererseits sollten die Liberalen sich auch direkt an diese wenden. Nochmals sei die „Neudeutsche Wirtschaft“ zitiert: „Der Liberalismus muß um seiner eigenen Selbsterhaltung willen für die Industrieverfassung sein, für freie Koalition, für Tarifverträge, für Lorem ipsum dor sit amm dolor slor sit. Geleitwort. Arbeiterschutz, für alles, was den Wert der einzelnen Persönlichkeit in der Menge der Angestellten und Arbeiter erhöht.“ Dieses Zitat belegt, Naumann ging es immer auch um den Ausbau der Freiheit. Sie war für ihn, unabhängig davon, wie weit er sich in Detailfragen vom „klassischen Liberalismus“ absetzte oder diesen kritisierte, das zentrale Element moderner Gesellschaften. Und die Freiheit ging jeden einzelnen etwas an: „Freiheit ist eine ganz persönliche Angelegenheit, und wenn sie das nicht ist, dann gibt es keine freien Staaten und keine freien Kulturen.“ Dieser Satz aus dem 1905 erschienenen „Ideal der Freiheit“ steht auch 100 Jahre später noch im Mittelpunkt der Bildungsarbeit unserer Stiftung. Von daher gesehen, meine ich, war es nur folgerichtig, dass wir den altehrwürdigen Namen unserer Stiftung um den Begriff „Freiheit“ ergänzt haben. Friedrich Naumann hätte dagegen sicherlich keine Einwände gehabt. Denn an seiner grundsätzlichen Bedeutung für die Stiftungsarbeit ändert dies nichts. Potsdam, im August 2009 Dr. Wolfgang Gerhardt Dr. Barthold C. Witte Friedrich Naumann: Sein Leben, sein Werk, seine Wirkung. Überarbeiteter Text einer Rede, gehalten am 3. September 1994 in Gummersbach, zum 75. Todestag Friedrich Naumanns. LoremLeben, Sein ipsumsein dorWerk, sit amm seine dolor Wirkung. slor sit. Friedrich Naumann um 1911. Am 24. August 1919 starb in Trave münde an der Ostsee Friedrich Nau mann, Vorsitzender der ein knappes Jahr zuvor gegründeten Deutschen Demokratischen Partei, Abgeordneter der verfassungsgebenden National versammlung in Weimar, Herausgeber der Zeitschrift „Die Hilfe“ und erfolgreicher Autor politischer Sachbücher. Er wurde nur 59 Jahre alt. In Berlin liegt er begraben, dort, wo er zwei Jahrzehnte lang politisch und publizistisch gewirkt hatte. Was eigentlich hebt Friedrich Nau mann aus der großen Zahl der zumeist längst vergessenen Politiker heraus, die während des deutschen Kaiserreiches wirkten? An der politischen Macht hatte er, auch als Reichstagsabgeordneter, kaum Anteil. Kein großes Gesetzgebungswerk trägt seinen Namen. Der von ihm mitbegründeten linksliberalen Partei stand er gerade einen Monat vor, und überdies hielt ihr anfänglicher Wahlerfolg am Beginn der Weimarer Republik nicht an, sondern ging bald in Niedergang, schließlich schon vor Hitlers Machtergreifung in Agonie über. Wer nur in Kategorien der Macht denkt, für den ist Friedrich Naumann bestenfalls ein glänzender Redner und erfolgreicher Bücherschreiber aus einer längst vergessenen Zeit. Wenn wir heute seiner gedenken, und dies unter dem Dach der Stiftung, die seinen Namen trägt, so muss das andere Gründe haben. Wir wollen ihnen nachgehen, Person und Lebenswerk uns vergegenwärtigen und schließlich fragen, was Friedrich Naumann uns heute für morgen zu sagen hat. Der junge Theologe. Wie der Dichter Lessing, wie der Phi losoph Nietzsche, stammte Friedrich Naumann aus einem sächsischen Pfarrhaus. In Störmthal bei Leipzig, einem wohlhabend gewesenen und in unserer Zeit beinahe von Braunkohle aufgefressenen Dorf, steht noch heute das Haus, in dem er am 23. März 1860 geboren wurde. Vater und Großvater Theologen – was Wunder, dass sich auch ihr Spross der Gotteswissenschaft zuwandte, freilich nach inneren Kämpfen und Bedenken. Zu beidem, Bedenken und Entschluss, trug gewiss die Fürstenschule St. Afra zu Meißen bei, in die der junge Friedrich als Obersekundaner eintrat. Kirche in Störmthal, Geburtsort von Friedrich Naumann. 10 Er hatte es dort nicht leicht, nicht bloß der strengen Ordnung wegen, die er in späterer Rückschau sogar lobte als Teil des „erziehenden Gesamtgeists“ von St. Afra, der frei von pädagogischen Sentimentalitäten gewesen sei, vielmehr „herb und derb und voll Kämpfen und allerlei Romantik“. Aber er war kein guter Turner, ein schlechter Sänger und in den Sprachen gerade mittelmäßig. Auch dauerte es seine Zeit, bis die Kameraden den Spätkömmling akzeptiert hatten. Und doch liebte er seine Schule lebenslang so sehr, dass er meinte, wenn er einen Sohn hätte, der gesund und stark wäre, so müsse er dieselbe Schule durchmachen. Mathematik war sein Lieblingsfach, das er zunächst studieren wollte, bis dann die von Elternhaus und Schule herkommende Ergriffenheit von den Glaubensfragen doch obsiegte. Wenn der spätere Politiker am liebsten mit historischen Bezügen und statistischen Vergleichen operierte, so blieb das die dauerhafte Frucht von St. Afra. Darum konnte Friedrichs Bruder Johannes, auch er Afraner, nach Naumanns Tod zu Recht sagen, St. Afra habe einen ihrer treuen Söhne verloren, „der an seinem Volke gelohnt hat, was sie ihm für das Leben mitgab“. Dieses Leben war bunt genug. Nach dem Theologiestudium in Leipzig und Erlangen diente er zwei Jahre lang als Oberhelfer im Hamburger Rauhen Haus, der berühmten Gründung des evangelischen Sozialethikers und Sozialpraktikers Johann Hinrich Wichern. LoremLeben, Sein ipsumsein dorWerk, sit amm seine dolor Wirkung. slor sit. Öffentliches Wirken. Dieser Einführung in die Gegenwarts probleme des Industriezeitalters folgten vier Jahre Pfarramt im sächsischen Langenberg, einem Arbeiterdorf, und erste Schriften, beginnend mit einem Arbeiterkatechismus – sodann die Rückkehr zur Inneren Mission, der Gründung Wicherns, als geistlicher Betreuer sozialer Einrichtungen in Frankfurt am Main. In diese Zeit fiel der Beginn von Naumanns politischer Tätigkeit in der damaligen christlich-sozialen Bewegung und intensiver publizistischer Tätigkeit in deren Sinn als einer ihrer Sprecher. Aber bald wagte der junge Pfarrer den Sprung auf die eigenen Füße: 1895 gründete er, mit wenig Geld und viel Mut, seine eigene Wochenschrift „Die Hilfe“. Schon im Jahr darauf kam das zweite, noch größere Wagnis, nämlich die Gründung des Nationalsozialen Vereins als politische Partei, beides gefolgt von dem Ausscheiden aus dem Pfarramt und der Übersiedlung in das politische Zentrum Berlins. Seither bis zu seinem Tod blieb Friedrich Naumann Publizist und Politiker von Beruf und aus Berufung, freilich mit Erfolgen und Niederlagen gleichermaßen. Seine Zeitschrift war bald einflussreich, doch scheiterte eine Zeitungsgründung. Seine politischen Bücher waren allesamt Bestseller, allen voran die Programm schrift „Mitteleuropa“ von 1915, indessen blieb der Nationalsoziale Verein in zwei Reichstagswahlen ganz erfolglos. Nach dessen Auflösung und dem Übertritt Naumanns mit der Mehrzahl seiner Gesinnungsgenossen zur linksliberalen Freisinnigen Vereini gung im Jahre 1903 schaffte er 1907 die Wahl in den Reichstag – nicht zuletzt übrigens dank seines jungen Wahlkampfleiters Theodor Heuss, in dessen Heimatstadt Heilbronn er kandidierte. Aber im Parlament blieb er Außenseiter, und erst 1919 gelang mit der Wahl zum ersten Vorsitzenden der Deutschen Demokratischen Partei der Sprung zur politischen Spitze. Da ereilte den durch Kriegshunger Geschwächten ein plötzlicher und einsamer Tod. Grabstätte von Friedrich Naumann in Berlin-Schöneberg. 11 So blieb ihm die wirklich große politische Wirkung versagt. Und doch war er als Redner und Schriftsteller einer der wirkungsmächtigsten Männer des öffentlichen Lebens seiner Zeit. In diesem Leben erregte er erste Aufmerksamkeit als Redner auf einem Kongress für Innere Mission in Kassel anno 1888, gerade 28 Jahre alt. Das war also im Dreikaiserjahr, als der uralte erste Kaiser Wilhelm starb, sein todkranker Sohn Friedrich, die Hoffnung der Liberalen, nur 100 Tage regierte und diesem sein ehrgeiziger, intelligenter und unsteter Sohn Wilhelm II. nachfolgte. Wichtigstes Problem deutscher Innenpolitik war die Arbeiterfrage, und ihr wandte sich der junge Kaiser entschieden zu. Wer wie der junge Naumann sich als einer der Matadore der christlichsozialen Bewegung dann versuchte, Christentum und Sozialismus, Arbeiter und Kirche miteinander zu versöhnen und so Karl Marx und die „glaubenslose Sozialdemokratie“ zu besiegen, der war der Mann der Stun de. So schien es jedenfalls, indessen nur für wenige Jahre, bis Wilhelm II. auf konservativen Gegenkurs ging und die evangelische Kirche ihm gehorsam folgte. Naumann musste erkennen, dass für den von ihm erstrebten „christlichen Sozialismus“ kein Raum war. Eines blieb: Der junge Rebell hatte die Öffentlichkeit auf sich und seine Botschaft aufmerksam gemacht. Sein Buch „Jesus als Volks mann“, 1894 erschienen, erreichte viele Tausend Leser. 12 Nicht nur aus diesen äußeren, auch aus inneren Gründen brach nun aber Naumann mit dem christlich-sozialen Versuch. Als gewichtiger Mitstreiter im Kampf um soziale Reformen waren ihm auf den Tagungen des von ihm in diesen Jahren mitbegründeten Evan gelisch-sozialen Kongresses Rudolf Sohm und Max Weber begegnet, Staatsrechtler der eine, Nationalöko nom der andere. Sohm vermittelte ihm die schmerzhafte Erkenntnis, dass aus dem Christentum, zum Beispiel der Bergpredigt, keine politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Tages rezepte zu gewinnen seien. Eine spezifisch christliche Politik konnte es also nicht geben. Max Weber wiederum, auch eine junge Berühmtheit, lehrte Naumann die Macht erkennen und schätzen. Das war für ihn das Ende der Ideenpolitik. Macht verkörpert sich im Staat, für Naumann und seine Zeitgenossen also im Deutschen Reich. Dem Staat Bismarcks hatte Max Weber in seiner rasch berühmt und später berüchtigt gewordenen Freiburger Rede von 1895 bescheinigt, seine Gründung sei bloß ein kostspieliger Jugendstreich der alten deutschen Nation, „wenn sie der Abschluss und nicht der Ausgangspunkt einer deutschen Welt machtpolitik sein sollte“. LoremLeben, Sein ipsumsein dorWerk, sit amm seine dolor Wirkung. slor sit. So sprach der Imperialismus der Zeit, nicht bloß in Deutschland; wir hören heute solche Sätze mit Schrecken. Naumann und viele andere folgten indes diesem Geist der Zeit. Kolonialund Flottenpolitik, Wettbewerb mit England, Krieg gegen das fast wehrlose China, ja selbst gegen die Hotten totten – das galt ihnen als legitime Weltpolitik. Diese nach innen abzustützen wurde nun der Sinn der sozialen Reform, und umgekehrt galt die deutsche Weltmacht als Voraus setzung allen sozialen Fortschritts. In Naumanns Programmschriften für seinen Nationalsozialen Verein kann man das im Einzelnen unter der Überschrift „Nationaler Sozialismus“ nachlesen. Daran heute heftige Kritik zu üben ist leicht. Manche Kritiker haben Friedrich Naumann gar in die Nähe Hitlers gerückt, ihn einen Vorläufer der Nazis genannt. In der gewesenen DDR gab es dazu ein ziemlich umfäng liches Buch. Das haben die Nazis selbst indessen ganz anders gesehen: Theodor Heuss durfte seine schöne, bis heute gültige Biografie Friedrich Naumanns 1937 nur veröffentlichen, nachdem er zugesichert hatte, sein Held werde keinesfalls in die Nähe der Nationalsozialisten gerückt. Er gab diese Versicherung natürlich nur zu gern, und glaubhaft ist sie auch. Denn mag auch Hitler den Wilhelminischen Imperialismus übernommen haben, so doch zu ganz anderen Zwecken, nämlich zur Durchsetzung des Rassenwahns und seiner eigenen Herrschaft durch Gewalt in aller Welt. Davon ist Naumanns Gedankenwelt nun wahrlich weit entfernt. Dem christlichen Gebot der Nächstenliebe blieb er ebenso verpflichtet wie dem demokratischen Ziel der Volksherrschaft. Sein großes Buch von 1900 über „Demokratie und Kaisertum“ zeugt dafür sowie die 1902 erschienene, „Gotteshilfe“ betitelte Sammlung seiner Wochenandachten aus der „Hilfe". Und was den seit den 1880er-Jahren wachsenden Antisemi tismus angeht, so war dieser zwar dem jungen, von dem christlichsozialen Adolf Stoecker beeinflussten Naumann nicht gänzlich fremd, doch trat er später demonstrativ aus dem einst von ihm mitbegründeten „Verein Deutscher Studenten“ aus, als sich dieser der antijüdischen Bewegung anschloss. Nein, einen Vorläufer der Nazis kann und darf man ihn nicht nennen. 13 Studenten in Leipzig 1880. Studienbericht vom 27.05.1882 aus Erlangen an die Brüder des Theologischen Vereins in Leipzig. Naumann übt Kritik an den Leipziger Professoren und spricht mit Begeisterung von dem Erlanger Professor Frank. 14 LoremLeben, Sein ipsumsein dorWerk, sit amm seine dolor Wirkung. slor sit. Antrittspredigt in Langenberg am 2. Mai 1886. Friedrich Naumann als junger Pfarrer um 1886. Kirche und vermutlich das Pfarrhaus in Langenberg. 15 Die eigentliche Schwäche der politischen Vorstellungen Naumanns lag woanders. Zum einen blieb, was er mit seinem Nationalsozialen Verein als Volksbewegung der Arbeiter und Bürger erträumt hatte, im deutschen Parteiensystem jämmerlich stecken. Dessen Festigkeit hatte er gröblich unterschätzt. Folgerichtig trat er in dieses System ein. Auf das Verlangen nach dem christlichen, dann dem nationalen Sozialismus, beides in deutlicher Gegnerschaft zum Marxis mus, ließ Naumann jetzt die Forde rung nach einem sozialen Liberalis mus folgen. Dem Grundsatz, nämlich der Überwindung des Klassenkampfes durch gleichberechtigte Partnerschaft von Arbeitern und Bürgern, blieb er aber treu. Gelernt hatte er jedoch im ersten Jahrzehnt seiner öffentlichen Tätigkeit, dass nicht der vom Sozialis mus erstrebte Vorrang der Gemein schaft, sondern der Vorrang der freien Persönlichkeit das wichtigste Ziel sein müsste. Freilich stand die Festigkeit der Sozialstrukturen abermals gegen seine Ideen: die Linksliberalen des Kaiserreiches und die Demokraten der Weimarer Republik erreichten so wie der Nationalsoziale Verein nur Teile des Bürgertums, nicht die Arbeiter schaft. 16 Zum anderen tat der Kaiser nicht, was Naumann von ihm erwartete, sich nämlich mit der Demokratie zu versöhnen. Nie lud Wilhelm II. den Autor von „Demokratie und Kaisertum“ auch nur zum Gespräch. Stattdessen versperrte der Monarch den Weg zur längst überfälligen Verfassungsreform, weil er starrsinnig an seiner Auffas sung vom gottbegnadeten Herrscher als oberster Instanz der Macht festhielt. Was nötig war, also die Herr schaft des Parlaments, fiel diesem erst mit der Niederlage 1918 in den Schoß. Da fiel der Kaiser mit. LoremLeben, Sein ipsumsein dorWerk, sit amm seine dolor Wirkung. slor sit. Reform des Liberalismus. Seine ganze Hoffnung richtete Naumann seit seiner Wendung zum Liberalismus auf dessen Erneuerung. „Neudeutsche Wirtschaftspolitik“ ist der Titel seiner 1906 erschienenen Programmschrift. Sie schildert in lebhafter, bilderreicher Sprache und mit vielen Statistiken die technisch-indust rielle Entwicklung „vom Holz zum Eisen“, als ihre Folge die Entstehung der Großbetriebe, Kartelle, Verbände – und das durchaus optimistisch, wenn auch nicht ohne Kritik an der Gefahr, der Einzelne werde von den großen Organisationen erstickt. Das Ende des Staatssozialismus sei gekommen, heißt es, nun müsse in den Fabriken die Demokratie einziehen durch Mit wirkungsrechte von Arbeiterausschüs sen. Da klingt die fünf Jahrzehnte später im westlichen Deutschland eingeführte betriebliche Mitbestim mung an. Kein Wunder, dass die damaligen Sozialdemokraten sich enttäuscht von Naumann abwandten und selbst Lujo Brentano, der Münch ner Doktorvater von Theodor Heuss und geistige Kopf des Nationalsozia len Vereins, mit der „Neudeutschen Wirtschaftspolitik“ nichts Rechtes anzufangen wusste. Jedenfalls wurde aber Naumanns Absicht klar, dem staatlich geförderten Kapitalismus der Zeit ein soziales Element einzufü gen, und zwar nicht nur durch Sozial leistungen an die Schwachen, sondern darüber hinaus durch Beteiligung der Besitzlosen an der industriellen und über sie an der politischen Macht. Die Machtfrage so zu stellen bedeutete, den klassischen Liberalismus herauszufordern, seine besitzbürgerliche Verengung aufzubrechen und ihn zu neuen, hoffentlich wählerträchtigen Ufern zu führen. Abermals traf Naumann damit den Nerv der Zeit, obgleich er sich doch hier auf ein Gebiet gewagt hatte, das dem gelernten Theologen und Sozialpraktiker fremd sein musste. Experte der Wirtschaftstheorie oder der Wirtschaftspolitik war und wurde er gewiss nie, erst recht kein Systema tiker oder gar ein Systemgläubiger. Seine Stärke war vielmehr die Zusam menschau, der frische Blick, dem sich bisher ungesehene Zusammenhänge öffnen. Und was er erkannte, wusste er als Redner wie als Schreiber so auszudrücken, dass der Gebildete wie der Mann auf der Straße es verstanden und davon Gewinn zogen. Der glänzendste Redner im Deutschen Reichstag sei er zu seiner Zeit gewesen, berichten übereinstimmend die, die ihn gehört haben. Wer Naumann heute liest, bekommt davon immer noch mehr als einen Abglanz mit. Überdies war er fleißig. Als Parlamen tarier stürzte er sich geradezu auf die gesetzgeberische Detailarbeit, nach seiner Wahl als Erstes an dem für damals höchst fortschrittlichen Reichsgesetz über die Heimarbeit. Da kam ihm die lebendige Erfahrung aus Pfarramt und Diakonie zugute. 17 18 LoremLeben, Sein ipsumsein dorWerk, sit amm seine dolor Wirkung. slor sit. Verlobung Friedrich Naumanns mit Magdalene Zimmermann 1889 und Heirat im Dezember 1889. Friedrich Naumann schickte seiner Tochter Elisabeth (Lise) von überall kurze Grüße und malte immer wieder seine Tochter. Tochter Lise 07.08.1903. Karte an Lise aus Schöneberg-Berlin vom 04.08.1902. 19 Weitere Begabungen. Wirklich breite und tiefe Wirkung war indessen nicht dem Parlamentarier, vielmehr dem Schriftsteller beschieden. So sehr er sich in die politische Arena begeben hatte, so wenig ließ er sich dabei zum politischen Fach idioten machen. Als frommer, der Amtskirche freilich recht entfernter Christ publizierte er „Briefe über Religion“ schon ein Jahr nach seinem Andachtsbuch, 1911 eine Aufsatz sammlung über „Geist und Glauben“, schließlich mitten im Weltkrieg zum 400. Jahrestag der Reformation einen eindrucksvollen Essay über die Freiheit Luthers. Da schrieb er über das Glaubenserlebnis des jungen Mönchs, über dessen Bibelüber setzung, die Kirchwerdung seiner Botschaft und vieles mehr, aber auch dieses: „Ob Luther ein Dichter war? Erst in der zweiten Hälfte seines Lebens hat er Gesänge aufgeschrieben, und diese sind fast nur liedartige Wiedergaben der Bekenntnisse seines Glaubens, kirchlich gehobene Worte im Kleide der Singbarkeit wie ‚Ein feste Burg‘ und ‚Vom Himmel hoch‘. Aber es würden sich seine Bekenntnisse nicht so ohne weiteres ins Lied hineingefügt haben, wenn sie nicht schon vorher in greifbaren Bildern und gut gegossenen Begriffen in ihm vorhanden waren. Es ist wunderbar, wie leicht er schwere innerliche Probleme zur Verständlichkeit gestaltet, ohne dabei flach zu werden. Alles, was 20 er schreibt, ist, als werde es Auge in Auge gesprochen. Er verkehrt nicht mit dem Papier, das vor ihm liegt, sondern unmittelbar mit den Menschen, an die er seine Bücher wie Briefe aussendet. Mit seiner eigenen Größe wächst die Kraft seiner Sprache, und in hohen Augenblicken findet er die Ausdrücke der Freude und des Zorns, als sei er selbst eine der großen Orgeln mit zahlreichen Registern.“ So kann nur schreiben, wer selbst – fast – ein Dichter ist und sich – ein wenig – selbst beschreibt. Ein Künstler war Naumann allemal. Er dilettierte beachtlich als Zeichner und Aquarellist; eines seiner vielen Aquarelle, die er Freunden schenkte, ist mir ein kostbarer Besitz. Er hatte das sichere Auge, um Form und Farbe zu erkennen, und die rasche Hand, das Gesehene in Linien und Worte zu fassen. „Form und Farbe“ ist der Titel einer Sammlung seiner Kunstbetrach tungen, die zumeist in der „Hilfe“ erschienen und von Rembrandt bis zu Naumanns Zeitgenossen Liebermann und Böcklin reichen, meist über Male rei, wenig über Bildhauerei; einiges über Architektur, aber auch darüber, wie man Zeichnen lernt, und ganz am Schluss über die Frage, ob man durch schöne Eindrücke besser werde. LoremLeben, Sein ipsumsein dorWerk, sit amm seine dolor Wirkung. slor sit. Die Antwort ist typisch Naumann, nämlich eine kleine Geschichte: „Es fuhren vorhin in der Eisenbahn zwei Soldaten, ein Postschaffner, ein Kaufmann und noch jemand. Die Gegend lag in rötlichem Abendlichte, die Heidestriche auf den flachen Ber gen brannten wie phönizischer Purpur, die Kiesgruben strahlten wie Gold lager, alte schwarze Bäume standen wie Reste aus dem Götzenzeitalter in der seraphischen Landschaft. Die Natur brannte so stark, dass die ganze Gesellschaft still wurde und sagte: Das ist schön! Man musste fühlen, dass hier fünf Seelen künstlerisch tätig waren. Der reine Barbar hat solche Augenblicke nicht.“ Der reine Politiker auch nicht. Ein solcher reiner Politiker war Friedrich Naumann eben nie. Zwar verdiente er seit 1897 seinen Lebensunterhalt als politischer Publizist, dazu seit 1907 als Parlamentarier. Aber die den heute sogenannten Berufspolitikern oft nachgesagte Einäugigkeit war ihm fremd. So wie er öffentlich über Glaubensfragen auch weiterhin sprach und schrieb, so war ihm Kunst Lebensbedürfnis. Klarheit des Stils galt ihm viel, sowohl im Wort als auch in künstlerischer Gestaltung. Deshalb wandte er, der leidenschaftliche Zeitgenosse, sich früh und scharf gegen den seine Zeit beherrschenden künstlerischen Eklektizismus, zumal in der Architektur. Den gerade neu gebauten Berliner Dom nannte er im Vergleich zu dem „wirklich majestätischen Bau“ des gegenüberliegenden Schlüter-Schlosses „eine Art Dekora tionsmöbel“. Seine Sympathie galt der sich entwickelnden Opposition zur wilhelminischen Eklektik, den Archi tekten und Gestaltern, die aus der jeweiligen Funktion klare, einfache Formen entwickelten. Sie gründeten 1907 in München den „Deutschen Werkbund“ – Naumann, der unermüdliche Redner und Organisator, war führend dabei. Einige Jahre später übernahm sein Adlatus Theodor Heuss, wie Naumann ein Augenmensch, die Geschäftsführung des Werkbundes für eine längere Periode. Nicht nur der Bauhaus-Stil nahm von da seinen Ausgang. Industrielle Formgebung, das Design, ist bis heute ohne den Werkbund nicht denkbar. Naumann gehört darum, wie Theodor Heuss schon in seiner Biografie gesagt hat, „der deutschen Kunstgeschichte an, wenn man diese nicht nur als Sammlung und Deutung von Künstlerpersönlichkeiten und ihren Werken sehen, sondern den geistigen Hintergrund umfassen will, vor dem schöpferische Arbeit steht“. Diesen Hintergrund brachte er einem breiten Publikum nahe, durchaus mit Erfolg. 21 Werbezettel für die Erstausgabe von „Demokratie und Kaisertum“ aus dem Jahr 1900. Neujahrsgruß Naumanns zum Jahre 1896. Friedrich Naumann mit der „Hilfe“ während des Ersten Weltkrieges. 22 LoremLeben, Sein ipsumsein dorWerk, sit amm seine dolor Wirkung. slor sit. „Die Zeit. Nationalsoziale Wochenschrift“. Probenummer vom September 1901. Die künstlerischen Neigungen Friedrich Naumanns veranlassten ihn, an der Organisation des Werkbundes und wohl auch an deren Satzung mitzuarbeiten. 23 „Mitteleuropa“. Nicht als Kunstfreund, sondern als homo politicus feierte Friedrich Nau mann schließlich seinen größten und anhaltendsten Bucherfolg, den im Kaiserreich nur Bismarcks „Gedanken und Erinnerungen“ übertrafen: „Mittel europa“, als Schrift über die deutschen Kriegsziele 1915 erschienen. Bis heute ist dieses Buch umstritten: Als ich vor einiger Zeit in der Zeitschrift „liberal“ den Versuch einer gerechten, dabei durchaus kritischen Würdigung unter nahm, folgte sogleich in den „Blättern für deutsche und internationale Politik“ eine scharfe Replik, deren Autor darauf bestand, hier habe sich der Christ Naumann als Nationalist, ja schlimmer noch als Imperialist entlarvt. Nun ist „Mitteleuropa“ freilich alles andere als eine Aufforderung zum Pazifismus. Bertha von Suttners Ruf „Die Waffen nieder!“ blieb Naumanns, an Max Webers Machtdenken geschultem Denken zeitlebens fremd. Das Buch ist zunächst einmal Produkt der deutschen Lage nach einem Kriegsjahr bei hin- und herwogendem Kriegsglück. In dieser Lage hatte sich eine heftige Diskussion über die deutschen Kriegsziele entwickelt mit weitreichenden Annexionsforderungen der führenden Militärs und ihrer politisch-publizistischen Helfer: Belgien und Polen wurden da ganz selbstverständlich dem Deutschen Reich einverleibt, und ebenso selbstverständlich sollten nicht nur die schon verlorenen Kolonien wiedergewonnen, sondern weite Gebiete Afrikas ihnen zugeschlagen werden. Dagegen 24 erhoben sich Stimmen der Vernunft, die einen Verständigungsfrieden ohne größere Annexionen anstrebten – die spätere „Friedensresolution“ des Reichstages, für die sich 1917 die Links liberalen mit Zentrum und Sozialde mokraten zusammenfanden, war ihr politisches Werk. Ihnen gab Naumann mit seinem Buch ein zukunftsorientiertes Konzept. Es bestand im Wesentlichen darin, dass das Deutsche Reich mit dem es umgebenden Kranz kleiner Staaten, vor allem aber mit Österreich-Ungarn „Mitteleuropa“ bilden sollte. Kein bloßes Militärbündnis sollte nach Naumanns Vorstellung im Herzen des Kontinents entstehen, und auch nicht nur ein Staatenbund, sondern eine feste Organisation, deren übernationales Dach für die gemeinsame Wirt schaftsordnung und eine gemeinsame Verteidigung sorgen würde. Unschwer können wir heute erkennen, dass hier die Struktur und Zielsetzung der westeuropäischen Integration unserer Tage vorgedacht wurde, freilich begrenzt auf einen geografischen Raum, in dem dem Deutschen Reich eine Führungsrolle wie von selbst zufallen würde. So muss das Urteil über Naumanns Konzept nach zwei Weltkriegen, in deren Mittelpunkt Deutschland stand, zwiespältig ausfallen. LoremLeben, Sein ipsumsein dorWerk, sit amm seine dolor Wirkung. slor sit. In der DDP. Auf der einen Seite steht positiv, dass Naumann das Ende des souveränen Nationalstaates und die Notwendig keit übernationaler Integration kommen sah. Doch machte er sich auf der anderen Seite vom Hegemonieanspruch des Deutschen Reiches in der Mitte Europa nicht frei – da blieb er seiner Zeit angehörig. Der weitere Verlauf des Krieges und endgültig dann die Niederlage von 1918 machten aus Naumanns Überlegungen Makulatur. Die Sieger zerschlugen die Habsburger Monarchie, zwangen das Deutsche Reich zu Gebietsabtretungen und sorgten dafür, dass seine kleineren Nachbarn in misstrauischem Abstand zur deutschen Politik blieben. Auch verhinderten sie den Beitritt des schwer amputierten Deutschösterreich, für den Naumann gemeinsam mit allen demokratischen Politikern in Berlin und Wien noch kurz vor seinem Tod entschieden eintrat. Wie kurzsichtig diese Siegerpolitik war, wissen wir heute nur zu gut. Naumann lehnte sich leidenschaftlich gegen sie auf. Der Versailler Friedens vertragsentwurf sei Volksmord, rief er aus, gegen den passiver Widerstand des ganzen Volkes geleistet werden müsse: „Wir zahlen nicht, wir unterschreiben nicht, bis man bereit ist, uns als Menschen zu behandeln“, schrieb er in der „Hilfe“. Doch schließ lich entschied sich der Reichstag unter dem massiven Druck der sieg reichen Kriegsgegner mit Mehrheit für die Unterzeichnung. Naumanns und seiner Freunde „Nein“ konnte nur noch patriotische Geste sein. Als dies geschah, war Friedrich Nau mann schon tief erschöpft und krank, körperlich wie seelisch. In die verfassungsgebende Nationalversammlung, die nach dem Sturz der Hohenzollern in Weimar tagte, war er als ein Hoffnungsträger gewählt worden. Es galt, unter dem Druck der militärischen Niederlage und inmitten gewaltsamer Aufstände von links und rechts die neue Republik zu bauen. Diese Aufgabe erforderte die ganze Kraft. Naumann weigerte sich darum auch nicht, als die neu gegründete Deutsche Demokratische Partei, der er sich als der Nachfolgerin der bisherigen linksliberalen Gruppen angeschlossen hatte, ihn bat, ihr Vorsitzen der zu werden. Die Partei hatte bei der Wahl zur Nationalversammlung mit 18,5 Prozent der Stimmen einen großen Erfolg errungen und war als drittstärkste Fraktion nach den Sozialdemokraten und dem katholischen Zentrum in das erste Nachkriegsparlament eingezogen. Diese Stellung galt es zu halten, womöglich zu verbessern. Naumann, der Anwalt des Bündnisses zwischen Bürgern und Arbeitern, der glänzende Redner und Schriftsteller, der unermüdliche Organisator, war dafür die beste Wahl. Mit Mehrheit bestellte ihn der Berliner Parteitag der DDP am 21. Juli 1919 zum Parteivorsitzenden. Es war Naumanns erstes großes politisches Amt. Fünf Wochen später ereilte ihn der Tod. 25 Im Archiv des Liberalismus (AdL) in Gummersbach befindet sich eine Vielzahl der künstlerischen Werke Friedrich Naumanns. Friedrich Naumanns künstlerische Begabung zeigte sich in vielen Bleistift- und Tuschezeichnungen und Aquarellen, die in all den Jahren entstanden sind. Venedig, 1905. Tuschezeichnung. 26 LoremLeben, Sein ipsumsein dorWerk, sit amm seine dolor Wirkung. slor sit. Cette, 07.04.1910. Aquarell. Cette, 07.04.1910. Aquarell. 27 Vermächtnisse. Drei politische Initiativen hinterließ er als sein unmittelbares Vermächt nis. Die erste wirkt bis heute unmit telbar nach, nämlich sein großer, vielleicht entscheidender Anteil an der Neuregelung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche in der Weimarer Reichsverfassung. Sie war notwendig geworden, vor allem für die evangelischen Kirchen, durch den Sturz der deutschen Monarchien, der zugleich das Ende der bischöflichen Stellung der Landesfürsten bedeutete. Die Kirchen wurden damit vom Staat unabhängig – aber welche Rechts form sollten sie nun haben? Naumann überzeugte die traditionell kirchenferne Sozialdemokratie davon, dass die Kirchen am besten Körper schaften des öffentlichen Rechts würden. So geschah es und ist bis heute geltendes Verfassungsrecht, seit dem Einigungsvertrag und dem Beitritt der DDR zum Grundgesetz auch in den östlichen Bundesländern. Das zweite Vermächtnis wurde zwar nicht Teil der Weimarer Verfassung, bleibt indes gleichwohl bemerkenswert: Friedrich Naumanns „Versuch volksverständlicher Grundrechte“. Er legte diesen Text dem Verfassungs ausschuss der in Weimar tagenden Nationalversammlung Ende März 1919 als Antrag vor. Dass die Verfas sung einen Katalog der Grundrechte des Bürgers enthalten sollte wie schon die Paulskirchenverfassung von 1849, war unstrittig. Naumann wollte, dass sie in Inhalt und Stil bürgernah seien. So übernahm er zwar einige 28 traditionelle Formeln wie den Satz: „Alle Deutschen sind vor dem Gesetz gleich.“ Aber er formulierte zum Beispiel auch: „Jeder Deutsche ist ein Wertgegenstand der Nation, solange er seines Volkes würdig bleibt.“ Oder: „Das Vaterland steht über der Partei.“ Und auch: „Ordnung und Freiheit sind Geschwister.“ Dann ganz aktuell: „Schulden zu bezahlen ist öffentliche und private Pflicht.“ Ebenso aktuell: „Lohnfragen sind Daseinsfragen.“ Ja sogar: „Wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen!“ Mit solchen Sätzen konnten die gelehrten Verfassungsjuristen freilich wenig anfangen. Der Antrag Nau manns wurde nicht Gesetz. Beden kenswert bleibt der Versuch doch mit seiner Absicht, den Individualrechten, jenem unverzichtbaren Erbe des klassischen Liberalismus, Individualpflich ten beizugesellen. Denn, so Naumanns Begründung, je höher das Recht des einzelnen Staatsbürgers wachse, desto höher werde auch das, was der Staat von ihm verlangen könne. Da klingt durch, was auch uns heute Stoff zum Nachdenken sein sollte. Wichtigstes Vermächtnis aus Nau manns letzten Lebensjahren ist indes sen, was er seiner Zeit und auch uns zur politischen Erziehung sagte. Stets hatte er sich selbst nicht als bloßen Machtmenschen, sondern vielmehr als Volkserzieher verstanden, der in Rede und Schrift die Mitbürger, jung und alt, zur Mündigkeit hinzuführen suchte. Nun entwickelte er im letzten Kriegsjahr, angesichts der vorherseh- LoremLeben, Sein ipsumsein dorWerk, sit amm seine dolor Wirkung. slor sit. baren Niederlage, in vier „Briefen an junge Freunde“ den Plan einer „freien deutschen Hochschule für Politik“, die als Staatsbürgerschule der Erzie hung zur Demokratie dienen sollte. Wohl wusste er, dass Politik nur begrenzt lernbar sei; in der Politik, so schrieb er den jungen Freunden, „sind alle Kenntnisse nur Hilfsmittel und Werkzeuge, die nicht fehlen dürfen und deren Handhabung gelernt sein will, von denen allein aber keine schöpferische Kraft und nicht einmal eine klare Entschiedenheit ausgeht. Politik ist nie ohne gelernte Bildung, aber sie selbst ist kein Wissen, sondern ein Können und Wollen, das weit tiefer in der menschlichen Natur begründet sein muss als nur durch Unterrichtsstunden.“ Ja, Politik sei eine Kunst, geboren, nicht anerzogen, aber durch Erziehung arbeitsfähig gemacht. Erziehung zur Politik ist also nötig, damit die Bürger ihre Fähigkeit zur Politik in tätiges Handeln umsetzen können. Aus solcher in der eigenen Erfahrung gewonnenen Erkenntnis zog Friedrich Naumann sogleich die praktische Konsequenz: noch im gleichen Jahr begannen in Berlin, gestützt auf eine Spende seines Freundes und Förderers Robert Bosch, Staatsbürgerkurse für junge Menschen. Nicht Parteischule sollten sie sein, sondern Stätte des offenen Dialogs zum Nutzen der jungen Demokratie. Aus ihnen ging nach Naumanns Tod 1920 die Deutsche Hochschule für Politik hervor, an der Theodor Heuss lehrte, bis sie 1933 von den Gefolgsleuten Hitlers übernommen und ihres Sinns beraubt wurde. Dass die Weimarer Republik scheiterte, weil es zu wenig Demokraten gab, zeigte freilich, dass politische Bildung eine langfris tige Aufgabe ist. Nach der großen Katastrophe wiedergegründet, hat die Berliner Hochschule denn auch einer erklecklichen Zahl damals junger Menschen, darunter vielen politischen Flüchtlingen aus Sowjetzone und DDR, den Weg zu politischer Verantwortung geöffnet; mein Freund Karl-Hermann Flach gehörte zu ihnen. Sie ging schließlich als OttoSuhr-Institut in der Freien Universität Berlin auf, nicht zum Vorteil ihrer ursprünglichen Aufgabe. Doch das ist eine andere Geschichte. Das Schicksal, das die Zeitläufe der Staatsbürgerschule Friedrich Nau manns bereiteten, steht geradezu symbolhaft für die Nachwirkung seines ganzen Lebenswerks. Schon zu seinen Lebzeiten standen Erfolg und Scheitern stets nahe beieinander. In gleicher Weise endete die Republik, die er mitbegründet, und die Partei, der er vorgesessen hatte, nach ersten Erfolgen schmählich in den Strudeln der großen Krise. 29 Reichstagswahl 1903, nach der Wahlniederlage. 30 LoremLeben, Sein ipsumsein dorWerk, sit amm seine dolor Wirkung. slor sit. Mitglieder des Nationalsozialen Vereins 1896. Adolf Damaschke (ganz rechts unten), Hellmuth von Gerlach (2. v. l. unten), Friedrich Naumann (Mitte oben), Adolf Pohlmann, Wilhelm Ruprecht, Martin Wenck (2. v. l. oben). Gruppenfoto mit den Mitgliedern des Nationalsozialen Vereins auf den Stufen des Ausflugslokals Lüderitz in Werder um 1900. 31 Das Nachleben. Und doch wirkten Leben und Werk Naumanns vielfach nach, vor allem in den vielen Menschen, die er nachhaltig prägte. Da ist an erster Stelle Theodor Heuss zu nennen. Die öffentliche Erinnerung an Fried rich Naumann, seinen verehrten, ja geliebten politischen und menschlichen Mentor, hat Heuss zeitlebens gepflegt. Das begann unmittelbar nach Naumanns Tod, als Theodor Heuss unter dem Titel „Gestalten und Gestalter“ eine Sammlung von „lebensgeschichtlichen Bildern“, also historisch-biografischen Skizzen, aus Naumanns Feder herausgab. Im Vorwort evoziert Heuss die sprachliche Ausdruckskraft dieser Texte und ihre Besonderheit im Werk Nau manns, weil sie nämlich nicht von Sachen handeln, sondern von Men schen. Theodor Heuss: „Indem Nau mann ihnen ins Auge blickt und mit ihnen redet, leuchtet der Adel seines eigenen Wesens: die starke Ehrfurcht vor Größe und historischer Leistung, die auch fremder Welt gerecht wird, der warme Sinn für bürgerliche Tüch tigkeit, die liebenswürdige Laune, die gerne und mit Anmut dankbar ist.“ 32 Da wird schon sichtbar, dass Theodor Heuss an den ganzen Naumann zu erinnern gedachte, nicht bloß an den Politiker. Solche Absicht prägte erst recht die große NaumannBiografie, die Heuss im Jahre 1937 veröffentlichte. Unter welch großen Schwierigkeiten diese Publikation zustande kam, hat Werner Stephan, erster Geschäftsführer der FriedrichNaumann-Stiftung, als beteiligter Zeitzeuge in einem einleitenden Aufsatz zur 1968 erschienenen Taschenbuchausgabe der NaumannBiografie lebhaft geschildert. Heuss sah das Gelingen dieses Werkes, wie er in seinen Erinnerungen schreibt, als eine der Beglückungen seines Lebens: „Die Pflicht meines Seins schien mir mit dieser Leistung erfüllt.“ Den ganzen Mann in seiner Zeit, das ganze Werk wollte Heuss schildern. Freilich war seine Perspektive auf den Politiker Naumann auch von der damaligen Zeit geprägt, vom Zusammenbruch der von Naumann mitbegründeten Weimarer Republik und vom Sieg Hitlers und seiner Bewegung. Nicht der anscheinend gescheiterte Politiker steht also im Vordergrund. Naumanns „geschichtliche Mächtigkeit“, resümiert Heuss am Schluss, „ist geistiger LoremLeben, Sein ipsumsein dorWerk, sit amm seine dolor Wirkung. slor sit. und moralischer Art“, als solche indes, wie der aufmerksame Leser schon damals unschwer erkennen konnte, erst recht ein Gegenbild zur nationalsozialistischen Gegenwart. Naumann habe, so Heuss weiter, „seinen Auftrag erfüllt, indem er das schlichte Beispiel der Hingabe und der Wahrhaftigkeit hinterließ ... Die letzte Rangordnung, die ihm gemäße, ist die sittliche. Vor ihr schweigt die Ehrfurcht.“ Bemerkenswerter Schluss einer 1937 in Deutschland publizierten Biografie! Daran war nach der großen Katastro phe von Krieg und totaler Niederlage ohne Bruch anzuknüpfen. Und so erinnerte der frisch gewählte Bundes präsident der gerade erst gegründeten Bundesrepublik Deutschland nach seiner Wahl, in seiner ersten Anspra che am 12. September 1949, bewusst an zwei Männer, die ihn, sein Denken und Wirken geformt hatten: an seinen Vater, der die demokratische Tradition von 1848 verkörperte, und an Fried rich Naumann, „der das wachsende Leben gestaltet hat und ohne den ich nicht wäre, was ich bin“. Ihm verdankte er „das Wissen, dass die Nation nur leben kann, wenn sie von der Liebe der Massen des Volkes getragen wird“. Und er zitierte einen der bekannten Kernsätze Naumanns: „Das Bekenntnis zur Nationalität und zur Menschwerdung der Masse sind für uns nur die zwei Seiten einer und derselben Sache.“ Ein solcher Satz käme heute wohl nur schwer über Politikerlippen. Man muss erinnern, in welche Situation er hineingesprochen wurde: zerstörte Fabriken und Städte, entwurzelte Menschen, Massenarmut und Massen arbeitslosigkeit, heftige soziale Spannungen, vollzogene Teilung Deutschlands. Die Furcht vor großen Unruhen, gar vor Krieg war bei den meisten größer als die Hoffnung auf friedlichen Aufbau. Dagegen nun Heuss nach seiner Wahl: „Wir haben die Aufgabe im politischen Raum, uns zum Maß, zum Gemäßen zurückzufinden und in ihm unsere Würde neu zu bilden, die wir im Innern der Seele nie verloren.“ Nur auf dieser Meta-Ebene, jenseits des zaghaft wieder wachsenden Wohlstandes, würde, davon war Heuss überzeugt, die Gesundung der Deutschen gelingen. Friedrich Naumann, der vom christlichen Glauben geprägte Realist, der vom Ethos des Mitleidens erfüllte Arbeitspfarrer, der um die Versöhnung der Klassen kämpfende Reformer, der auf menschliche Bereitschaft zur Bes serung bauende Volkserzieher sollte dazu hilfreich sein. 33 Mit dieser Hoffnung, überhaupt mit dem Rückgriff auf den Reformer Naumann stand Heuss nicht allein. Die erste Naumann-Renaissance fand schon sehr bald nach dem Ende von Krieg und Diktatur in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands statt. Die zum Entsetzen der deutschen Kommunisten und der Besatzungs macht überaus erfolgreiche Liberal demokratische Partei erkor ihn zu einem ihrer Vorväter. Hatte nicht Naumann das Soziale in den deutschen Liberalismus wieder eingeführt? Ihn zu zitieren hieß, sich zum modernen Liberalismus zu bekennen, sich aber zugleich von der kapitalistischen Ent artung liberaler Auffassungen abzusetzen und damit den Besatzern ein Stück weit entgegenzukommen. Was der Ost-CDU ihr „christlicher Sozialismus“, das war der LDP ihr Bekenntnis zur Sozialreform à la Naumann und zur Bodenreform seines Mitstreiters Damaschke. Unzählige nach Naumann benannte Straßen in vielen Städten der DDR zeugen davon. Sie wurden allerdings später, im Zeichen des „entwickelten Sozialismus“ und der vollzogenen Block-Integration der LDP, zumeist wieder umbenannt. 34 Der Sozialreformer Naumann als Zeuge für einen „dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus – das gab es auch im deutschen Westen. Zwei führende Protestanten bekannten sich in diesem Sinn während der 50er- und 60er-Jahre zu seinem Erbe: Eugen Gerstenmaier und Erhard Eppler. Der eine unternahm 1958 in einer programmatischen Rede auf dem Kieler Bundesparteitag der CDU den Versuch, durch den Rückgriff auf Naumann die christlich-soziale Position seiner Partei zu legitimieren. Der andere publizierte 1961, nachdem er der SPD beigetreten war, eine Auseinandersetzung mit dem Erbe Naumanns unter dem kennzeichnenden Titel „Liberale und soziale Demokratie“. Beiden lag, so verschieden sie sich parteipolitisch orientierten, das soziale Engagement am Herzen, begründet in der evangelisch-sozialen Tradition, zu der Naumann ganz gewiss gehört, vor allem in der ersten Phase seiner öffentlichen Wirkung. Von Naumanns späterer Hinwendung zu liberaler Politik ist darum bei beiden weniger die Rede. LoremLeben, Sein ipsumsein dorWerk, sit amm seine dolor Wirkung. slor sit. Bundespräsident Theodor Heuss im Jahre 1950. Theodor Heuss im Parlamentarischen Rat 1948 und mit Bundeskanzler Konrad Adenauer. 35 Die Stiftung. In den Rang eines der sozusagen kanonisierten Vorväter der neuen Republik wurde Friedrich Naumann indessen durch Theodor Heuss erhoben, und zwar durch die Gründung der Friedrich-Naumann-Stiftung im Jahre 1958. Die Geschichte dieser Gründung, überhaupt der Stiftung, muss zwar erst noch geschrieben werden (ein dringendes Desiderat!). Doch kann ich dazu als ein Zeitzeuge schon jetzt einiges beitragen. Im Jahr zuvor, am 15. September 1957, hatten die Bürger der Bundesrepublik, als sie den dritten deutschen Bundes tag wählten, Konrad Adenauers christlich-demokratisches Parteien bündnis mit einer absoluten Mehrheit der Stimmen und Sitze ausgestattet, die oppositionelle FDP dagegen durch deutliche Stimmverluste gestraft. Die liberale Partei war im Frühjahr 1956, übrigens gegen Heuss’ Willen, aus der Regierung ausgeschieden, hatte sich darüber gespalten und sah nun, mit 7,7 Prozent der Stimmen, einer fortdauernden Existenzkrise entgegen. Wie sie überwinden? Wie vor allem die junge Generation wiedergewinnen? Einige Nachdenkliche, unter ihnen der FDP-Bundesgeschäftsführer Werner Stephan und sein potenzieller Nachfolger Karl-Hermann Flach, antworteten: durch politische Bildungsarbeit und durch programmatisches Nachdenken. Darunter war zweierlei zu verstehen. Einmal sollte der jungen Generation politisches Wissen vermittelt werden, um sie zum politischen Engagement fähig zu machen. Zugleich wollte 36 man eine umfassende Debatte über die geistigen Grundlagen und die politischen Ziele liberaler Politik ins Werk setzen. Das eine sollte das andere befruchten. Systematische Bildungsarbeit und Bestimmung langfristiger Ziele hatte es bis dahin im nach 1945 mühsam wiedererstandenen liberalen Umfeld nicht gegeben. Das „Berliner Programm“ der FDP von 1957, ihr erstes umfassendes Programm überhaupt, war kaum mehr als eine Zusammenfassung schon vorhandener Positionen. Schulungs seminare gab es nur in Ansätzen, begrenzt auf die Vorbereitung von Wahlkämpfen. Beides, Bildungs- und Programmarbeit, war mithin neu zu begründen. Beides aber sollte von den Zwängen der Parteidisziplin frei sein, vielmehr offen und darum attraktiv auch für Menschen, die keiner Partei angehören. Diese Unabhängigkeit war, so sahen es die Gründer, am besten zu sichern, wenn die beiden Aufgaben einer Stif tung übertragen würden. Die FriedrichEbert-Stiftung war das Vorbild, wenn diese sich auch inzwischen als eingetragener Verein organisiert hatte. Theodor Heuss, von Werner Stephan aufgrund ihrer jahrzehntelangen Verbindung darauf angesprochen, reagierte zustimmend. Ihm war nicht gleichgültig, was aus dem politisch organisierten Liberalismus werden LoremLeben, Sein ipsumsein dorWerk, sit amm seine dolor Wirkung. slor sit. würde, obgleich ihn sein Präsidenten amt zur öffentlichen Neutralität verpflichtete. Er nutzte seine vielfältigen Verbindungen zum geistigen, wissenschaftlichen und politischen Leben, um einen Kreis angesehener Persönlichkeiten als Gründungs kuratorium, Vorstand und Beirat der Stiftung zu versammeln. Liberal sollten sie sein, mit oder ohne Parteibuch. Die Liste der Gründer reicht denn auch von den Professoren Walter Erbe und Paul Luchtenberg, den führenden Kulturpolitikern der FDP, über den Historiker Hermann Heimpel und Bischof Hermann Kunst bis zu Richard von Weizsäcker, damals noch parteilos. Heuss war es auch, der der Stiftung ihren Namen gab. Er selbst wollte nicht ihr Namenspatron sein; erst nach seinem Ausscheiden aus dem Präsidentenamt stimmte er zu, der ersten, nach seinem Tod 1967 eröffneten Bildungsstätte der Stiftung seinen Namen zu geben. Er wies auf Friedrich Naumann hin und vor allem auf die von diesem kurz vor seinem frühen Tod begründete „Staatsbür gerschule“, aus der die Berliner Hochschule für Politik hervorgegangen war. Heuss hatte an ihr gewirkt, bis ihn die Nazis 1933 aus dem Lehramt entfernten. Karl-Hermann Flach hatte an der wiederbegründeten Hochschule als Flüchtling aus der Sowjetzone seine ideell-politische Formung erfahren, angeleitet durch Hans Reif, der nun zum Gründerkreis der Stiftung gehörte. So bedeutete die Namensgebung auch einen bewussten Akt der Kontinuität. Zudem war die Aufgabenstellung nach 1945 so verschieden nicht von dem, was Naumann 1918 seiner – von Robert Bosch finanzierten – Gründung mit auf den Weg gegeben hatte. Beide Male fiel die Demokratie den Deutschen nach einem verlorenen Krieg zu. Was in anderen Ländern lange Tradition oder ein revolutionärer Aufbruch bewirkt hatte, nämlich die Verankerung der liberalen Demokratie im Volke, musste bei uns durch eine wahre Volkserziehung nachgeholt werden. „Erziehung zur Politik“ lautete darum die Überschrift zu Naumanns letzter Schrift, mit der er seiner Staatsbürgerschule die Ziele setzte. In vier Reden an junge Freunde legte Naumann dort dar, wie die Politik nach dem Krieg aussehen müsse. Schon früher, 1914, hatte er, der als Redner so erfolgreich war wie als Publizist, sich in nicht weniger als hundert Punkten über die Kunst der Rede verbreitet, weniger über ihre Theorie als vielmehr über ihre Praxis. Das ist noch heute lesenswert. 37 „Wir können ohne politische Generalideen nicht leben, obwohl wir den nur relativen Charakter dieser Ideen erkannt haben. Jede Zeit hat ihre eigenen Generalideen, da aber jede Zeit gleichzeitig Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in sich trägt, so hat sie auch gleichzeitig Ideen, die erst noch Illusionen, die eben Wahrheit geworden und die schon wieder verblaßt sind. Ein gewisses Stadium in der erst werdenden Idee heißt Utopie.“ Aus: Friedrich Naumann, Die Illusion in der Politik (1904). „Und wenn wir klagen, daß der Fortschritt der Freiheit im deutschen Volke kein eilender ist, so zwingt uns diese Beobachtung, bis in den Untergrund der Seelen hineinzuschauen und zu erwägen, wieviele arme Nützlichkeitsseelen vorhanden sind, die zu jeder Knechtschaft bereit sind, wenn man sie nur in Ruhe läßt. Man will sich nicht kompromittieren, nicht anstoßen, nicht stören, nicht unbequem werden. Das aber schadet alles der Freiheit im ganzen. Das erste darum, was wir tun können, um an der allgemeinen Freiheit mitzuhelfen, ist, daß wir selber frei zu werden suchen, soviel uns immer möglich ist.“ Aus: Friedrich Naumann, Das Ideal der Freiheit (1905). 38 Sein Leben, sein Werk, seine Wirkung. „Wie es kleine Ästhetiker gibt, so gibt es auch kleine Politiker. Der eine strebt in Ausstellungen und andere in Ministerien oder Kammern und beide sind hohl, weil sie nicht überwältigt sind von der Größe ihrer Aufgabe, sondern nur sich selbst dienen mit allem Getue und Geplärre. Diese Sorte kann einem jede Politik und Kunst verderben, und ein Teil der Mißachtung der Politik in ästhetischen Kreisen kommt auf das Konto der Unterwertigen von den politischen Berufsvertretern. Aber würde es recht sein, die Künste nach ihren Heloten zu beurteilen? Ist es recht, die Politik mit solchem Maße zu messen? Jeder, der sie näher kennt, weiß, wieviel reale Arbeit in sie hineingesteckt wird. Achtung vor dieser volkserhaltenden, staatsbildenden Arbeit!“ Aus: Friedrich Naumann, Der ästhetische Mensch und die Politik (1908). „Es glauben Leute, es gäbe nichts Höheres in der Natio nalität, als immer den Unterdrückten zu spielen und nach jeder Richtung zu klagen, was die anderen für Übeltaten an uns getan haben. Der ganze Katalog der ewigen nationalistischen Klagen ist zugleich ein Kata log des Schwächegefühls; denn diejenigen, die ihres Deutschtums sicher und frei sind, die auf ihren Staat vertrauen und an seine Größe und Zukunft glauben, die werden innere Freiheit und Geduld genug haben, um auch den anderssprachigen Nationen neben uns und wenn es sein muß, unter uns ihre eigene Freiheit und Entwicklung zu gönnen und zu erleichtern.“ Aus: Friedrich Naumann, Auf dem Weg zum Volksstaat (1917). 39 Traditionspflege. Als Theodor Heuss der am 19. Mai 1958 in seinem Amtssitz förmlich gegründeten Friedrich-NaumannStiftung ein halbes Jahr später auf ihrer ersten öffentlichen Tagung durch einen Vortrag abermals sein Gewicht lieh, konnte der Titel des Vortrags nicht anders lauten als „Friedrich Naumanns Erbe“. Er bot indessen alles andere als Heiligenverehrung. Vor den Zuhörern, unter denen sich Eugen Gerstenmaier befand, zeichnete er das Bild eines leidenschaftlichen Zeitgenossen der wilhelminischen Ära, eines Mannes, der sich im Laufe seines öffentlichen Wirkens mehrfach wandelte und dabei stets in der unaufhebbaren Spannung zwischen dem christlichen Liebesgebot und dem Machtanspruch jeglicher Staat lichkeit lebte. Heuss warnte davor, Naumann „in einen Liberalen aus dem deutschen Bilderbuch umzumalen“, und ebenso davor, dessen politische Ideen, zum Beispiel über Mitteleuropa, für noch verwendbar zu halten. „Seine Werke“, fügte Heuss hinzu, „geben kein Losungsbüchlein für gegenwärtige Verhaltensform.“ Sein eigentliches Erbe sei vielmehr, „dass dieser Mann, der in so großartiger Weise ein Lehrender gewesen ist, immer ein Lernender vor den Wirklichkeiten blieb, um sich ihnen in der Freiheit einer sittlichen Entscheidung zu stellen“. 40 Dies darf auch heute noch gelten, unter seither gründlich veränderten Umständen im Lande und in der Welt. Dass Friedrich Naumann schon damals und erst recht jetzt in den Dämmer der Vergangenheit zurückgetreten ist, hat natürlich nicht gehindert, dass die Friedrich-Naumann-Stiftung es als ihre Ehrenpflicht ansah, die Werke ihres Namenspatrons neu und gesammelt herauszugeben. Das geschah freilich nur in einer Auswahl, aber immerhin in sechs Bänden, die ab 1964 beim Westdeutschen Verlag erschienen, wissenschaftlich von Heinz Ladendorf, Alfred Milatz, Theodor Schieder und Walter Uhsadel betreut. Das Geleitwort aus der Feder von Theodor Heuss ist auf den November 1963 datiert, wenige Wochen vor seinem Tod. Ergänzend veranlasste die Stiftung eine dritte Auflage der Heuss’schen Naumann-Biografie, 1968 mit einleitenden und erläuternden Texten von Alfred Milatz und Werner Stephan in der Reihe der Siebenstern-Taschen bücher publiziert. Nachwirkungen großer Persönlichkei ten gehen manchmal seltsame Wege. Im Falle Naumanns ist zu vermelden, dass er in der öffentlichen politischen Debatte der späten 60er- und frühen 70er-Jahre gern als ein Vorläufer der sozialliberalen Koalition zitiert wurde. Hatte er nicht unter dem Stichwort „Von Bassermann bis Bebel“ einst vor dem Ersten Weltkrieg für eine solche Koalition gefochten? War er nicht unter dem Stichwort „Fabrik LoremLeben, Sein ipsumsein dorWerk, sit amm seine dolor Wirkung. slor sit. demokratie“ ein früher Verfechter der betrieblichen Mitbestimmung? Aus solcher Sicht musste das Freiburger Programm der FDP von 1971 als eine geradlinige Fortsetzung der von Naumann betriebenen Reform des deutschen Liberalismus erscheinen. Ich bekenne, an dieser Sicht nicht unschuldig zu sein. Doch ist hinzuzufügen, dass sie nicht den ganzen Naumann in den Blick nimmt – nicht den frühen Anhänger von Stöckers christlich-sozialem Konservatismus, nicht den späten Mitautor der „großen Koalition“ von 1917 gegen Militär herrschaft und für einen Verständi gungsfrieden, welche in die Weimarer Koalition aller staatstragenden Par teien mündete. So ist es eben, wenn große Namen zu politischen Zwecken genutzt werden. Im Falle Naumanns führte dieser Gebrauch dazu, dass der große Mann nach der Koalitionswende von 1982 unter vielen Liberalen kaum mehr zitierfähig war. Selbst die nach ihm benannte Stiftung ließ zeitweise durchblicken, man könne mit dem Namenspatron nur noch wenig anfangen. Inzwischen hat sie sich zu ihrem eigenen Vorteil eines Besseren besonnen. Aufgabe des Historikers unter solchen, auch sonst wohl bekannten Umstän den ist, wie Lichtenberg einst sagte, die Fackel der ganzen Wahrheit ins Gedränge zu halten, auch wenn der eine oder andere Bart an ihr versengt wird. Zwar ist damit die politische Ausbeutung der Vergangenheit zu gegenwärtigen politischen Zwecken nicht zu verhindern. Aber der nötigen historischen Fundierung der zweiten deutschen Demokratie ist besser gedient, wenn ihre Vorgänger, zu denen Friedrich Naumann gehört, in ihrer ganzen Vielgestaltigkeit zum Nachleben erweckt werden. Friedrich Naumann gehört also ganz gewiss auf einen Ehrenplatz in der wechselvollen Geschichte der deutschen Demokratie, doch lässt sich seine facettenreiche Gestalt nicht in die Enge parteipolitischer Zuordnun gen zwängen. Ebenso wenig eignet sich seine vom Kulturprotestantismus der Zeit geprägte, dazu sehr persönliche Frömmigkeit dazu, von dieser oder jener Theologenschule vereinnahmt zu werden. Das Besondere an ihm ist ja gerade, dass er nie zu einer „Schule“ gehörte, sich nie einfach als Gefolgsmann eines Mächtigen verstand und nie an Vorstellungen festhielt, die er erprobt und als nicht tragfähig erkannt hatte. Er hatte eben darum keine „Schüler“, auch keine Gefolgsleute, aber stets die innere Freiheit zu erneutem Nachdenken und öffentlicher Neubestimmung seiner Position, wenn es denn die Sache verlangte. 41 „Die Erziehung zum Liberalismus ist keineswegs etwa bloß eine Erziehung der Abgeordneten, sie ist in viel höherem Grade eine Erziehung der Bevölkerung zum liberalen Denken und Handeln. Auch wenn man alle heutigen Abgeordneten in der Versenkung verschwinden lassen könnte und an ihre Stelle andere Männer setzte, so würde das Gesamtergebnis etwa das gleiche sein, denn auch die neuen Männer würden Abbilder des Volkstums sein, zu dessen Vertretung sie berufen sind. Man höre deshalb auf, immer nur an einzelnen Männern herumzuschelten, als ob sie es in der Hand hätten, morgen einen siegreichen deutschen Liberalismus auf die Beine zu stellen, wenn sie nur eben wollten! Ein Volk, das stark genug ist, sich eine neue Herrschaftsform zu erzwingen, hat auch ganz von selbst schon die Männer, die es dazu braucht, heute aber fehlt noch die breite allgemeine Flutung liberaler Gedanken. Das ist der Grund des langsamen Vorankommens. Hier muß gearbeitet werden, nicht in gegenseitiger Verbitterung und Zerspaltung, sondern in derjenigen gegenseitigen Achtung, ohne die schwere Erziehungsaufgaben nicht durchgeführt werden können.“ Aus: Friedrich Naumann, Deutscher Liberalismus (1909). 42 LoremLeben, Sein ipsumsein dorWerk, sit amm seine dolor Wirkung. slor sit. Liberale Visionen. Was aber machten dann seine Größe und seine andauernde Nachwirkung aus? Für die mit ihm Lebenden war es vor allem die Strahlkraft seiner Persönlichkeit, die die geistige Elite seiner Zeit zu seinen Bewunderern machte. Zugleich wirkte er durch die Überzeugungskraft seiner Sprache, des gesprochenen und geschriebenen Wortes. Und nicht zuletzt verkörperte er in dem, was er tat, die Sehnsucht der besten Geister und breiter Volks schichten danach, den Klassenkampf von oben wie von unten zu überwinden und den Staat mit seinen Bürgern zu versöhnen. Das mag heute, unter vielfach verwandelten Verhältnissen, nur noch historisch von Belang sein. Vom Klas senkampf ist unsere deutsche, euro päische Gesellschaft nun wahrlich nicht mehr geprägt trotz aller Unter schiede und Spannungen zwischen oben und unten, die vor allem in Zeiten wirtschaftlicher Rezession, so in den letzten Jahren, deutlich genug sichtbar werden. Die Auseinanderset zung mit der autoritären Monarchie der Hohenzollern war schon vor Nau manns Tod mit der Flucht des letzten Kaisers vor der Niederlage nach Holland beendet. Sie ist wirklich nur noch Geschichte. So auch die Debat te um Mitteleuropa – sie flackerte zwar in den 80er-Jahren noch einmal auf, betrieben von den ungarischen, polnischen und tschechischen Intel lektuellen in ihrer Auseinandersetzung mit der östlichen Sowjetmacht und ihren Statthaltern, doch ist sie durch den Zusammenbruch des kommunis tischen Herrschaftssystems überholt worden: nicht nach Mitteleuropa streben unsere östlichen Nachbarn, sondern in die NATO und die Euro päische Union. Und auch die Wirt schaftspolitik hat heute ganz andere Probleme zu lösen als zu Beginn unseres Jahrhunderts; von Naumanns Begeisterung für die Großbetriebe und die großen Organisationen sind wir heutigen Liberalen ohnehin weit entfernt. Was bleibt dann überhaupt von dem, was Friedrich Naumann bewegte, wofür er stand und was er verkörperte? Der Liberalismus gilt nicht nur in Deutschland wieder als überholt, so wie schon zu Beginn des vorherigen Jahrhunderts, als sich Naumann dem fortschrittlichen Freisinn anschloss. Naumanns Antwort hieß: „Es ist wieder ein allgemeiner deutscher Liberalismus nötig, eine Volkspartei, in der Demokratie und Nationalismus beieinander wohnen, eine breite schaffende Mehrheitspartei mit neuen Gedanken.“ Dem Geist der freien Kraft, die vorwärts will, gelte es die Türen zu öffnen; der Wille zur Macht müsse in die drei Millionen liberaler Wähler hineinfahren. Dazu müsse sich der Liberalismus als Partei besser organisieren, um dem demokratischen Wettbewerb mit den anderen Parteien, den Klerikalen und den Sozialisten, gewachsen zu sein. Dabei dürfte es aber immer nur um das Wohl des Einzelnen und seine Freiheit gehen. „Liberalismus“, sagte Naumann, „baut sich darauf auf, daß Einzelmenschen nicht nur selber selb43 ständig werden wollen, sondern daß sie auch ihren Nächsten wünschen, daß sie selbständig werden sollen.“ Und: „Freiheit ist eine ganz persönliche Angelegenheit. Wenn sie das nicht ist, dann gibt es keine freien Staaten und keine freien Kulturen.“ Naumann scheute nicht das Pathos der Leidenschaft, wenn er von der Freiheit, von der Vision einer Gesell schaft freier Bürger sprach. Er war ein glaubwürdiger Zeuge dieser Frei heit, weil jederzeit zu spüren war, dass er mit seiner ganzen Person dafür einstand. Diese Glaubwürdigkeit fehlt vielen Politikern heute allzu oft. Wir sollten, ja wir müssen sie von ihnen fordern. Es kommt dabei nicht darauf an, ob sie Politik neben ihrem Beruf oder als Beruf betreiben. Naumann war selbst Berufspolitiker geworden und wandte sich scharf gegen die nicht mehr in der Gegenwart taugliche Honoratiorentradition der liberalen Parteien. Ebenso wenig hat diese Glaubwürdigkeit mit seiner starren Umwandelbarkeit zu tun. Naumann wandelte seine Auffassungen im Laufe seines Lebens häufig genug, ob aus besserer Einsicht oder wegen veränderter Sachlage. Wohl aber hat sie viel zu tun mit der Bindung an ethische Maßstäbe. Sie erwuchs bei Naumann aus seinem christlichen Glauben, doch kann sie gewiss auch andere Fundamente haben. Nur eines ist sicher: Politik ohne ethische Bin dung endet in völliger Beliebigkeit. 44 Sodann hatte Naumanns Glaubwür digkeit mit seiner Fähigkeit zu tun, langfristige Visionen zu entwickeln, ohne den Boden der Realität unter den Füßen zu verlieren. Stets kam es ihm darauf an, programmatische Grundsätze voranzustellen, sie dann aber an den Realitäten zu messen – nicht um der vorfindlichen Wirk lichkeit anheimzufallen, sondern um praktische Politik machen zu können. Liberaler Politik heute steht es ebenso gut an, nicht bloß jeweils vier Jahre im Voraus zu denken und von Monat zu Monat oder gar von Schlagzeile zu Schlagzeile zu agieren, sondern die Vision der freien, der offenen Gesell schaft selbstständiger Bürger ernst zu nehmen und von ihr her die Politik der nächsten Jahre als eine Politik des jetzt Möglichen zu entwickeln. Das 1997 in Wiesbaden verabschiedete Grundsatzprogramm der deutschen Liberalen, das über die Freiburger Thesen von 1971 und das Saarbrücker „Liberale Manifest“ von 1985 zu neuen Ufern vorstößt, kann dazu den Weg öffnen. Und schließlich bleibt dem politischen Liberalismus die von Naumann formu lierte, bis heute ungelöste Aufgabe gestellt, nämlich eine wirkliche Volks partei zu werden. Ich meine das nicht in dem am Beispiel zunächst der CDU, dann der SPD üblich gewordenen Sinn, wonach eine Volkspartei nichts weiter ist als ein Produkt des Tauziehens zwischen den großen gesellschaftli LoremLeben, Sein ipsumsein dorWerk, sit amm seine dolor Wirkung. slor sit. chen Kräften, ihr kleinster gemeinsamer Nenner. Volkspartei im Sinne Naumanns – das bedeutet vielmehr, dass sich hinter den leitenden Ideen, zuvörderst also der Idee der Freiheit, Menschen aus allen Schichten des Volkes sammeln können und auch tatsächlich sammeln. Davon ist der deutsche politische Liberalismus noch ein gutes Stück entfernt. Dass er sich ernstlich vorgenommen hat, deren Weg zu gehen, lässt hoffen. Die nach Friedrich Naumann benannte Stiftung hat hier, an diesem Punkt, ihre erste zentrale Aufgabe, nämlich im libe ralen Sinne vorzudenken. Die andere ist, in der Tradition der Naumannschen Staatsbürgerschule, möglichst viele Menschen möglichst gut auf ihre politische Verantwortung zuzurüsten. Als Theodor Heuss die Stiftung ins Leben rief, gab er ihr seinen Lehrer als Vorbild, doch warnte er sie zugleich davor, ihren Namenspatron zum Säulenheiligen zu machen und seine politischen Schriften zum wörtlich geltenden Katechismus. Friedrich Naumann war mit allen Fasern seines großen Herzens ein Kind seiner Zeit. Deshalb gilt diese Mahnung auch heute. Aber gültig bleibt, erst recht in Zeiten wachsender Politikverdros senheit, was Max Weber unmittelbar nach Friedrich Naumanns plötzlichem, unerwarteten Tod seiner Witwe schrieb: „Sie wissen, daß wir ihn herzlich liebten, ganz abgesehen, was er uns allen als Politiker, als Kultur mensch, als deutscher Mensch bedeu tete. Die stolze Bescheidenheit seines Wesens verbot es fast, ihm zu sagen, was seine Ritterlichkeit, Gelassenheit, Wärme und Erfülltheit uns rein persönlich bot, wie adelnd er in den Diskussionen und Kämpfen unseres öffentlichen Lebens wirkte, wie ungeheuer viel größer sein Sein war als sein Wirken und sein Wirken wiederum als sein äußerlicher Erfolg ... Die Größe seiner Erscheinung lag nicht in dem, was er wollte, sondern wie er es wollte und wie er seine Sache führte. Das Beispiel, das er gab, hat nicht sofort gewirkt, wie sein innerer Wert es verdient hätte, aber verloren war es deshalb nicht. Und unverloren bleibt vor allem die Tatsache: daß ein Mensch sich innerlich so selbst behauptete in einer Zeit, die für ihn nicht geschaffen war. Entweder er kam zu früh oder zu spät. Einerlei: Daß es ihn gegeben hat, ist etwas, was uns allen ganz unverlierbar ist.“ 45 Dr. Jürgen Frölich 100 Jahre danach oder Naumanns Aktualität in der Gegenwart. 46 Lorem 100 Jahre ipsum danach. dor sit amm dolor slor sit. Friedrich Naumann war ohne Zweifel ein „Wilhelminer“. Denn zeitlich fällt sein politisches Wirken weit gehend zusammen mit der Regentschaft jenes letzten deutschen Monarchen (1888–1918), der dem Zeitalter den Namen gegeben hat. Aber auch in vielen Aspekten seines politischen Denkens war Friedrich Naumann in der Epoche Wilhelms II. verhaftet. 85 Jahre nach Naumanns Tod ist nicht nur das Kaiserreich, sondern auch der damit verbundene Staat, das „Deutsche Reich“, längst verschwunden, und haben sich die gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Verhältnisse grundlegend geändert. Was kann also Naumanns Wirken, das am Ende des 19. Jahrhunderts begann und bereits im ersten Vier tel des 20. endete, dem Bürger des beginnenden 21. Jahr hunderts noch sagen, hat es überhaupt noch eine Bedeutung für die Gegenwart? Aus liberaler Perspektive gibt es sicherlich vieles, was Naumann uns Heutigen vermacht hat und wo er heute noch durchaus relevant ist. Drei Beispiele, an denen sich mehr als ein ganzes Jahrhundert überbrückende Verbin dungslinien ziehen lassen, seien hier vorgestellt. 47 Der Menschenfischer 48 Der Naumann-Kreis. Martin Wenck (1862–1927), Chefredakteur, Naumann-Biograf. Friedrich Weinhausen (1867–1925), sozialpolitischer Publizist, M. d. R. (1910–1920). Hellmuth von Gerlach (1866–1935), Herausg. Berliner „Welt am Montag“ (1919–1933). Gottfried Traub (1869– 1956), Pfarrer, freisinniger, dann deutschnationaler Abgeordneter. Paul Rohrbach (1869– 1956), ev. Theologe und politischer Publizist „Der deutsche Gedanke“. Eugen Katz (1881–1937), Schriftleiter der „Hilfe“. Paul Göhre (1864–1928), Pfarrer, Abgeordneter der SPD (1903–1930). Wilhelm Heile (1881–1969) Redakteur „Hilfe“, M. d. R. DDP (1919–1924). Wilhelm Cohnstaedt (1880–1937), bis 1933 politischer Redakteur der Frankfurter Zeitung. Lorem Der Naumann-Kreis. ipsum dor sit amm dolor slor sit. Familie Brentano, Friedrich Naumann und Elly Knapp 1903. Gemeint ist damit jenes Netzwerk um Naumann, dessen Verflechtungen in vollem Umfang erst jüngst bekannt geworden sind. Naumann war der Mittelpunkt eines umfangreichen Gesinnungs- und Freundeskreises, der sich sozial gesehen vom Großbür gertum über das Bildungs- und Klein bürgertum bis in die Arbeiterschaft erstreckte. Dieses Netzwerk war ursprünglich hervorgegangen aus den Mitschülern Naumanns in St. Afra und den sogenannten „jungen Wilden“ im Evangelisch-Sozialen Kongress, die wie Naumann nicht im konservativen oder gar antisemitischen Fahrwasser von Adolf Stoecker fahren wollten. Der „Naumann-Kreis“ hat seine engs te organisatorische Ausprägung im „Nationalsozialen Verein“ erfahren, lebte aber auch nach dessen Ende informell weiter fort. Zum „NaumannKreis“ gehörten damals und später hochberühmte Zeitgenossen wie Max Weber und Lujo Brentano, aufsteigende Geister wie Theodor Heuss und Elly Knapp, aber auch einige, die später – wie Gustav Stresemann – politisch ganz andere Wege gehen sollten. Der Kreis hatte Fernwirkungen bis in die Bundesrepublik, noch unter den Gründern der Friedrich-NaumannStiftung waren 1958 einige aus seinen Reihen. Insgesamt dürfte der Naumann-Kreis bis zu 1 700 Personen umfasst haben, die in unterschied lich nahem oder weiter entferntem Verhältnis zum Namensgeber standen. Dennoch war dies in einem Zeitalter, das keine elektronischen Kommunikationsmittel kannte, eine für einen informellen Zusam 49 Gustav Stresemann (1878–1929). Elly Heuss-Knapp (1881–1952), Lehrerin, Volkswirtin, erste „First Lady“. menschluss gewaltige Größe. Denn Naumanns Charisma, das er zweifels ohne besaß, wirkte fast ausschließ lich über die persönliche Ansprache, sei es bei Vorträgen und Reden, sei es im kleineren Kreis. Die über das ganze damalige Deutschland bis hin Die Unterschrift der „Stifter“ auf der Gründungsurkunde der Friedrich-Naumann-Stiftung vom 19. Mai 1958. 50 Martin Rade (1857–1940), evangelischer Pfarrer und Publizist. Walter Goetz (1867–1958), Professor der Geschichte. nach Österreich verteilten NaumannFreundeskreise, aus denen sich häufig das politische und publizistische Personal des Linksliberalismus zwischen 1903 und 1933 rekrutierte, bieten sehr viel Anschauungsmaterial dafür, wie man den Liberalismus Lorem Der Naumann-Kreis. ipsum dor sit amm dolor slor sit. unabhängig von allem politischen Nützlichkeitsdenken gesellschaftlich besser verankern und wie man eine liberale Elite hervorbringen kann. In verschiedener Form versucht der organisierte Liberalismus heute an diese große Tradition anzuknüpfen, um liberal gesinnten Bürgern auch jenseits einer formalen Parteimitglied schaft eine politisch-organisatorische Heimstatt zu geben. Gerade für moderne, individualistisch orientierte Zeitgenossen sind solche informellen und lose organisierten Bindungen viel wichtiger als das klassische Parteibuch. Der „Naumann-Kreis“ kann mithin in vielfacher Hinsicht als Vorbild dienen, etwa für das „Liberale Netzwerk“ im Umfeld der FDP, für die Altstipendiaten-Organisation der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, für den „Verband liberaler Akademiker“ und für die „Gesellschaft der Freunde und Förderer der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit e. V.“. Alle diese Vereinigungen liberaler Bürger liefern Beiträge zur Fortentwicklung des liberalen Gedankengutes und unterstützen so, zum Teil darüber hinaus wie beispielsweise die „Freunde und Förderer“, auch noch mit materiellen Hilfen die Arbeit der Friedrich-NaumannStiftung für die Freiheit und des organisierten Liberalismus. Hier lebt in veränderter Form der Naumann-Kreis heute noch fort. 51 Der Liberale Erneuerung des Liberalismus. DDP-Fraktion in der Deutschen Nationalversammlung, Juni 1919. 52 Lorem ipsumdes Erneuerung dorLiberalismus. sit amm dolor slor sit. Friedrich Naumann hatte sich seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert die inhaltliche und organisatorische Erneuerung des deutschen Liberalis mus auf seine Fahnen geschrieben; so veröffentlichte er unter dem Titel „Die Erneuerung des Liberalismus“ 1906 eine Artikelserie, die bald auch in Broschürenform als „Ein politischer Weckruf“ reißenden Absatz fand. Wichtig ist aus heutiger – liberaler – Sicht nicht so sehr, welche konkreten programmatischen und taktischen Ziele Naumann damals den Liberalen vorgegeben hat. Aktuell ist aber nach wie vor, welchen gesellschaftlichen Stellenwert er dem Liberalismus zugewiesen hat: Er wollte ihn aus seiner besitz- und bildungs Wahlkampf in Heilbronn 1907. bürgerlichen Erstarrung herauslösen, sensibel machen für die Nöte, Sorgen und Wünsche der großen Mehrheit des deutschen Volkes. Das mag manch überzeugtem Wirtschaftsliberalen von heute zunächst befremdlich anmuten. Aber man sollte dabei Naumanns politischen Realitätssinn berücksichtigen, der ihn hatte klar erkennen lassen, dass sich liberale Ziele nur dann erreichen lassen, wenn sie genügend gesellschaftliche Unter stützung finden. Seine Überzeugung, dass Prinzipientreue immer gepaart sein muss mit der Einsicht in poli tische Möglichkeiten und dass auch der überzeugteste liberale Bürger sich nicht scheuen darf, organisa torische Arbeit zu leisten, ist wohl auch 100 Jahre später nicht überholt. Flugblatt zum Frauenwahlrecht 1913. 53 Wahlrede 1907. Friedrich Naumann vor dem Reichstagsgebäude um 1919. 54 Lorem ipsumdes Erneuerung dorLiberalismus. sit amm dolor slor sit. Außerdem kann man am Beispiel von Naumann lernen, dass politische Programme häufig allein nicht ausreichen, um politischen Erfolg zu haben. Fast genauso wichtig ist ein strategisches Konzept dazu, wie man möglichst viel von seinem Programm umsetzen will. In dieser Hinsicht war er allen liberalen Zeitgenossen überlegen, denn mit dem Motto „Von Bassermann bis Bebel“, also der Bildung eines großen Reformbündnisses von Freisinnigen, Nationalliberalen und „reformistischen“ Sozialdemokraten, hatte er für die politische Konstellation seiner Zeit sowohl eine griffige Formulierung als auch ein zumindest perspektivenreiches Konzept dafür, wie die wilhelminische Politik in seinem Sinne umgestaltet werden konnte. August Bebel, Werner Sombart und Friedrich Naumann auf dem Weg zum SPD-Parteitag in Breslau 1895. Handschriftliche Notizen vom Reichstag. 55 Von daher ist es kein Wunder, dass die Liberalen in der Bundesrepublik, immer dann, wenn sie daran gingen, sich im politischen System der Bundesrepublik neu oder besser zu positionieren, direkt oder indirekt an Naumann anknüpften. Ganz deutlich wird dies bei den Diskussionen, die schließlich zum Freiburger Programm der FDP von 1971 führten. Aber auch die innerparteilichen Debatten und Beschlüsse der FDP in der jüngsten Vergangenheit stehen zumindest methodisch durchaus in Naumanns Tradition. Denn mit ihren „Wiesbadener Grundsätzen“ von 1997 hat die FDP genau das getan, was Friedrich Naumann als Aufgabe bzw. Rezept jeder Generation vorausschauender Liberaler im Jahre 1906 ans Herz gelegt hat: „Die Idee des Liberalismus muß erst (immer) wieder neu erarbeitet werden.“ 56 Foto: dpa, Martin Athenstädt. Erneuerung Lorem ipsumdes dorLiberalismus. sit amm dolor slor sit. 1990 Bundesparteitag der FDP in Hannover: Es waren die Liberalen, die sich zur ersten gesamtdeutschen Partei zusammenschlossen. Ähnliches gilt für die Anvisierung von Wähleranteilen bzw. die Festlegung auf Konzepte, beispielsweise in der Steuerpolitik, die auf den ersten Blick wegen ihrer Höhe und/oder Radikalität befremdlich wirken könnten. Dabei geht es vor allem um die Motivierung durch hohe Zielsetzungen, die durchaus in Naumannscher Tradition stehen und heute innerparteilich genauso leidenschaftlich wie damals diskutiert werden: Naumanns Projekt einer „Koalition von Bassermann bis Bebel“, so sehr wir es heute für den richtigen Ausweg für das Kaiserreich in seiner innenpolitischen Sackgasse halten, war im liberalen Lager damals alles anders als umstritten. Für viele Liberale und andere klang dieses Vorhaben seinerzeit ziemlich utopisch und bedeutete doch mittelfristig einen wichtigen Meilenstein für die deutsche Innenpolitik. Ohne die Setzung von Zielen werden auch heute keine Perspektiven für die dringend benötigten Reformen in Deutschland eröffnet. 57 Der Volkserzieher Politische Bildung. Deutsche Hochschule für Politik, Berlin, Schinkelplatz 6, in der von Karl Friedrich Schinkel erbauten „Alten Bauakademie“, zwischen Universität und Schloss, am Werderschen Markt. Die erste Staats bürgerschule im Sinne Friedrich Naumanns. 58 Lorem ipsum Politische Bildung. dor sit amm dolor slor sit. Für die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit stehen schließlich natürlich Naumanns Überlegungen zur und sein Engagement für die politische Bildung im Zentrum ihrer Arbeit und ihrer Traditionspflege. Naumann verstand sich zeitlebens – wie Ralf Dahrendorf es einmal ausgedrückt hat – als „politischer Volkserzieher“. Das ist wohl für einen Pfarrer nichts Außergewöhnliches, wenn auch sicherlich Naumann in seinem Enga gement für die kleinen Leute schon unter seinen geistlichen Zeitgenossen eine Ausnahme darstellte. Diese päda gogische Stoßrichtung hat er später als Publizist und Politiker beibehalten; seine Schriften sind fast immer sehr allgemein verständlich gehalten, ohne dass dies sich auf das Niveau der Gedankenführung ausgewirkt und ohne dass Naumann zu stark vereinfachenden Formeln gegriffen hätte: Volkstümlich wollte Naumann sein, nicht populistisch. Einbanddeckel der „Patria. Jahrbuch der Hilfe“. Jg. 1, 1901. 59 Schon vergleichsweise früh machte er sich aber auch Gedanken darüber, wie man mehr Menschen auch zwischen den Wahlen am politischen Diskussions- und Entschei dungsprozess beteiligen könne: „Die Nation, die man so oft wegen ihrer Gründlichkeit gelobt hat, ist jetzt nicht bereit, ihr eigenes Geschick mit Eindringlichkeit zu prüfen.“ Ein Weg, den Staatsbürger zu einem größeren Engagement zu bringen, lag für ihn in der „Erziehung zur Politik“, modern Erstes Programmangebot der „Staatsbürgerschule“. 60 gesprochen, in der politischen Bildung. Wie sehr ihn das beschäftigte, zeigt sich darin, dass Naumann selbst in der schwierigen Zeit des Ersten Weltkrieges daranging, seine diesbezüglichen Überlegungen nicht nur konzeptionell, sondern auch ganz praktisch voranzutreiben: Mit finanzieller Unterstützung von Robert Bosch konnte im Sommer 1918 in Berlin die „Staatsbürgerschule“ ihre Pforten öffnen. Lorem ipsum Politische Bildung. dor sit amm dolor slor sit. Deren Programm hat Naumann selbst in vier „Reden an junge Freunde“ zuvor festgelegt. Er hat dabei Politik als „Lebenskenntnis in Bezug auf den Staat“ definiert, die einerseits sicherlich lehr- und lernbar, andererseits aber auch eine Kunst sei, zu der man „geboren“ sein müsse und zu der man „nur durch Erziehung arbeitsfähig gemacht“ werde. Naumann war sich also durchaus bewusst, dass man zwischen aktivem Politik-Betreiben, also dem Politiker, und der Teilnahme an der Politik, d. h. dem Staatsbürger, unterscheiden müsse. Die „Staats bürgerschule“ sollte sich vornehmlich an diejenigen wenden, die zukünftig Politik betreiben wollten, war also in gewisser Weise eine Eliteninstitution; in Naumanns Schriften spielte aber der zweite, massenwirksame Aspekt eine große Rolle. Von der Staats bürgerschule, die nach Naumanns Tod in „Deutsche Hochschule für Politik“ umbenannt wurde und die – nach der Phase der politischen Gleich schaltung – nach 1945 in der Freien Universität aufging, wo sie heute noch als Otto-Suhr-Institut besteht, zieht sich zumindest eine geistigkonzeptionelle Kontinuitätslinie zur Arbeit der heutigen FriedrichNaumann-Stiftung für die Freiheit. In deren politischer Bildung wird ja auch breite politische Bildung mit der Förderung des liberalen politischen Nachwuchses verbunden: Als Eliten bildung kann man durchaus das seit 1973 bestehende Stipendienwerk für den liberalorientierten akademischen Nachwuchs verstehen; heute werden rund 800 Stipendiaten gefördert. Von Anfang an zu den zentralen Auf gaben der Stiftung hat die „politische Bildung für jedermann“ gezählt; in über 50 Jahren ist das Angebot immer mehr verbreitert und sind die Metho den immer mehr verfeinert worden – bis hin zu einem virtuellen Angebot via Internet. Und seit 1967 hat die Berliner „Staatsbürgerschule“ bzw. „Deutsche Hochschule für Politik“ der Zwischenkriegszeit in der Gummersbacher „Theodor-HeussAkademie“ nicht nur äußerlich, sondern auch in Geist und Klima eine entsprechende Fortsetzung erfahren. 61 Die „Deutsche Hochschule für Politik” ging nach dem Krieg als Otto-Suhr-Institut in der Freien Universität Berlin auf. 62 Lorem ipsum Politische Bildung. dor sit amm dolor slor sit. Die Theodor-Heuss-Akademie in Gummersbach. Seit 1967 ist die Theodor-HeussAkademie das Zentrum politischer Bildung der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. 63 Titelblatt der „Hilfe“, Nr. 15 vom 10. April 1919. Vierteljahreshefte für Politik und Kultur In der Tradition der „Hilfe“ gibt die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit seit 1959 „liberal“, Vierteljahreshefte für Politik und Kultur, heraus. Die Macher der „Hilfe“ vor und während des Ersten Weltkrieges: Friedrich Naumann, Theodor Heuss und Gertrud Bäumer. 64 Lorem ipsum Politische Bildung. dor sit amm dolor slor sit. Aber auch in publizistischer Form wird vonseiten der Friedrich-NaumannStiftung für die Freiheit an die Naumannsche Tradition politischer Bildung angeknüpft: Die nunmehr im 50. Jahrgang erscheinende Zeitschrift „liberal“, Vierteljahreshefte für Politik und Kultur, besitzt in vielerlei Hinsicht Anklänge an die von Naumann ins Leben gerufene und später von Theodor Heuss und Gertrud Bäumer herausgegebene „Hilfe“ und versteht sich in gewisser Weise als deren Fortsetzung. Zusammenfassend kann man sagen: Friedrich Naumann war natürlich eine sehr zeitgebundene Erscheinung, er war in vielerlei Hinsicht ein typischer Repräsentant des Wilhelmi nismus. Aber sein Denken und Wirken weist auch auf zahlreichen Feldern – die hier nicht alle dargestellt werden konnten – weit über seinen eigenen, längst vergangenen Zeithorizont hinaus. Faszinierend an ihm war und ist nicht zuletzt, dass Naumann immer offen war für Neues, dass er bereit war dazuzulernen, bisherige Prinzipien zu überprüfen und ggf. zu verändern. Insofern wird man feststellen können, dass es in der Friedrich-NaumannStiftung für die Freiheit und darüber hinaus unter den bundesdeutschen Liberalen nicht nur eine gewisse romantische Reminiszenz an die Gedankenwelt ihres Stiftungspatrons gibt, sondern die Überlegungen und Einsichten Friedrich Naumanns nicht nur in Grundsatzpapieren, sondern auch in der täglichen Arbeit durchaus präsent sind. Insofern verkörperte er selbst das Ideal des weltoffenen Bürgers, ohne dabei aber sein Fähnchen allzu sehr nach dem Wind zu drehen. Gerade die Mischung aus tief sitzenden Überzeugungen und politisch-pragmatischer Flexibilität ist es, die Naumanns Stärke ausmachte. Alles in allem erscheint die Beschäftigung mit ihm, seiner Politik, seiner Publizistik, seinem gesamten Œuvre immer noch mehr als lohnend. 65 25.03.1860 In Störmtal bei Leipzig geboren. 1876–1879 Fürstenschule St. Afra in Meißen. Biografie Friedrich Naumanns. 1879–1883 Studium der evangelischen Theologie in Leipzig und Erlangen. 66 1883–1885 Oberhelfer in Wicherns „Rauhem Haus“ zu Hamburg. 1886–1890 Pfarrer in Langenberg, Sachsen. 1888 Erste Rede vor zentraler Tagung: beim Kongress Innere Mission in Kassel. 1890–1897 Geistlicher der Inneren Mission in Frankfurt am Main. 1895 Gründung der Wochenzeitschrift „Die Hilfe“. 1896 Gründung des Nationalsozialen Vereins. 1897 Übersiedlung nach Berlin; Ausscheiden aus dem Pfarramt. 1903 Ehrendoktor der Theo logie der Universität Heidelberg; Auflösung des Nationalsozialen Vereins nach Niederlagen bei den Reichstagswahlen; Übertritt des NaumannKreises in die Freisinnige Vereinigung. 1907 Wahl in den Reichstag als Abgeordneter von Heilbronn. 1919 Wahl in die National versammlung als Abge ordneter von Berlin; Wahl zum Vorsitzenden der neu gegründeten Deutschen Demokratischen Partei. 24.08.1919 Plötzlicher Tod in Travemünde. Lorem Biografie. ipsum dor sit amm dolor slor sit. 67 Friedrich Naumann: Werke. 6 Bände, Opladen 1964 Friedrich-Naumann-Bibliografie. Eine Auswahl. Lothar Albertin: Liberalismus und Demokratie am Anfang der Weimarer Republik. Düsseldorf 1972 68 Ralf Dahrendorf: Friedrich Naumann – der politische Volkserzieher. In: ders.: Liberale und andere. Stuttgart 1994, S. 151–159 Dieter Düding: Der Nationalsoziale Verein. München 1972 Friedrich-Naumann-Stiftung (Hrsg.): Friedrich Naumann 1860–1919. St. Augustin 1985 Walter Göggelmann: Christliche Weltverantwortung zwischen Sozialer Frage und Nationalstaat. Zur Entwicklung Friedrich Naumanns 1860–1903. Baden-Baden 1987 Theodor Heuss: Friedrich Naumann. Der Mann – das Werk – die Zeit. 3. Aufl. Gütersloh 1968 Lorem ipsum dor sit amm dolor slor sit. Bibliografie. Theodor Heuss: Friedrich Naumanns Erbe. Tübingen 1959 Karl Holl/Günther Trautmann/ Hans Vorländer (Hrsg.): Sozialer Liberalismus. Göttingen 1986 Gangolf Hübinger: Kulturprotestantismus und Politik. Zum Verhältnis von Liberalismus und Protestantismus im wilhelminischen Deutschland. Tübingen 1994 Jacques Le Rider: Mitteleuropa. Auf den Spuren eines Begriffes. Wien 1994 Alfred Milatz: Friedrich-Naumann-Bibliografie. Düsseldorf 1957 Axel H. Nuber: Friedrich Naumann. Katalog der Gedächtnisausstellung in Heilbronn anlässlich seines 100. Geburtstags. Heilbronn 1962 Wilhelm Spael: Friedrich Naumanns Verhältnis zu Max Weber. St. Augustin 1985 Werner Stephan: Aufstieg und Verfall des Linksliberalismus 1918–1933. Geschichte der Deutschen Demokratischen Partei. Göttingen 1973 Peter Theiner: Sozialer Liberalismus und deutsche Weltpolitik. Friedrich Naumann im wilhelminischen Deutschland (1860–1919). Baden-Baden 1983 Rüdiger vom Bruch (Hrsg.): Friedrich Naumann in seiner Zeit. Berlin 2000 Barthold C. Witte: Nachdenken über Mitteleuropa. In: Liberal 34 (1992), H. 1, S. 10–16 Archiv des Liberalismus Theodor-Heuss-Straße 26 51645 Gummersbach Telefon 0 22 61. 30 02-421 Telefax 0 22 61. 30 02-407 E-Mail: [email protected] 69 19.05.1958 Gründung der FriedrichNaumann-Stiftung im Haus des Bundespräsi denten Theodor Heuss. Eine kurze Chronik der Stiftung. 14.11.1958 Erste Sitzung des Kura toriums: Wahl des Vor standes (Vorsitzender Walter Erbe). 70 14.11.1958 Erste Großveranstaltung in Bad Godesberg, Rede Theodor Heuss: „Naumanns Erbe in dieser Zeit“. 09.04.1959 Das Kuratorium wählt seinen Vorsitzenden: Paul Meyle. April 1959 Die Geschäftsstelle beginnt ihre Arbeit in Bonn (Geschäftsführer Werner Stephan). Die Zeitschrift „liberal“ erscheint. 09.04.–11.04.1959 Erste Arbeitstagung in Bad Kreuznach: „Die geistige und politische Freiheit in der Massendemokratie“. 25.03.1960 Konstituierung des Bei rats (Vorsitzender Walter Bauer). Erscheinen der Erste Schriftenreihe der Stiftung „Schriftenreihe zur Politik und Zeitge schichte“. Januar 1961 Gründung des Vereins „Freunde der FriedrichNaumann-Stiftung“. Januar 1962 Geschäftsstelle wird nach Bad Godesberg verlegt. 24.05.1963 Vorstandsbeschluss zur Errichtung einer Begegnungsstätte in Gummersbach. Juli 1963 Bildung einer Auslands abteilung: Betreuung der „School for Freedom“, Gründung eines Bildungs zentrums in Tunesien – Fortbildung mittlerer und gehobener Führungs kräfte aus Wirtschaft, Gewerkschaft, Journa listen – Publikation: u. a. „Menschenwürdige Gesellschaft“, Edition der Werke Naumanns. 1964 Gründung einer Kommis sion zur Beratung der Programme der Arbeitstagungen: „Programm-Ausschuss“. Gründung einer „Arbeits gemeinschaft für Wirtschafts- und Sozialforschung in den Entwicklungsländern“. Aufbau des Instituts Ali Bach-Hamba in Tunis. Lorem Chronik. ipsum dor sit amm dolor slor sit. 08.07.1965 Grundsteinlegung der Theodor-Heuss-Akademie (THA). 03.12.1966 Kuratorium beschließt Berufung eines Haus haltsausschusses. Schwerpunkte der Auslandsarbeit: Ausund Fortbildung von Führungskräften. Erste Verleihung des Wolf-Erich-KellnerGedächtnispreises. 26.05.1967 Eröffnung der THA (Leiter Horst Dahlhaus). 01.01.1968 Erwerb des Archivs der FDP-Bundespartei. April 1969 Errichtung von Landesund Regionalbüros. November 1973 Beginn des Stipendien programms zum Winter semester 1973/74 (17 Stipendiaten). 1974 Landesbüro Berlin wird zu einer „Europäischen Begegnungsstätte Berlin“. Eröffnung eines „Liberalen Clubs“ in Oldenburg. August 1975 Gründung eines Dach verbandes der liberalen Bildungseinrichtungen „Vereinigung liberaler Bil dungseinrichtungen e. V.“. Südeuropa wird in die Auslandsarbeit einbe zogen. Oktober 1977 Zusammenführung der Aufgaben von Pro grammausschuss und Beirat. Einrichtung eines Referats Europa (ab 1978 „Gruppe Europa“). Februar 1978 Herausgabe der ersten „Dokumentationen“ zu aktuellen politischen Sachfragen. 17.10.1979 Aus Anlass des 50. Geburtstages von Karl-Hermann Flach wird erstmals der nach ihm benannte Preis für Journalisten an Rolf Zundel verliehen. 1980 Gründung von Landes stiftungen, die in den Bundesländern die Aufgaben der Landesund Regionalbüros übernehmen. 31.01.1984 Eröffnung des neu errichteten Archivs des Deutschen Liberalismus in Gummersbach. 05.05.1984 Eröffnung des Marga rethenhofs, der Galerie und des Politischen Clubs in Königswinter. 05.10.1984 Beschluss des Vorstan des über eine veränderte Organisationsstruktur der Friedrich-NaumannStiftung. 05.03.1985 Mit einer Rede von Prof. Dr. Lord Ralf Dahrendorf und in Anwesenheit von Bundespräsident Prof. Dr. Richard von Weizsäcker erinnert die Stiftung an den 125. Geburtstag von Friedrich Naumann. 01.01.1987 Gründung des For schungsinstituts. Errichtung der Europäischen Begegnungsstätte Saar in Saarbrücken. 1988 Gründung der Inter‑ nationalen Akademie für Entwicklung in Freiheit, Sintra. Erster Rastatter Tag zur Geschichte des Deutschen Liberalismus. 71 Chronik. 31.08.1989 Kuratorium beruft einen Ausschuss zur Struktur reform der Stiftung. November: Erster Band des „Jahrbuchs zur Liberalismus-Forschung“. 21.11.1989 Bildungsstätte Waldhaus Jakob in Konstanz nimmt die Arbeit auf. 01.07.1990 Einrichtung des Büros Berlin zum Aufbau der Bildungsarbeit in den fünf neuen Bundesländern. Beginn der Stiftungsarbeit in Mittel-, Südost- und Osteuropa. 29.09.1991 Aus Anlass des 70. Geburtstages ihres Vorsitzenden Wolfgang Mischnick besucht Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl die Stiftung auf dem Margarethenhof in Königswinter. 12.09.1992 Offizielle Eröffnung der Bildungsstätte Zündholzfabrik in Lauenburg an der Elbe. 15.01.1991 Das Kuratorium erweitert sich um Mitglieder aus den neuen Bundesländern. Februar 1993 Start der Kampagne „Toleranz zeigt sich im Handeln“. 25.02.1991 Das Kuratorium beschließt die neue Satzung. 01.01.1995 Die Theodor-HeussAkademie in Gum mersbach übernimmt das Dialogprogramm für internationale Führungskräfte (IAF). 15.03.1991 Der Vorstand wird erstmals nach der neuen Satzung gewählt. 09.05.1991 Die Stiftung erhält eine neue dezentrale Struk tur; im Ausland wird die Arbeit von Regionalbüros koordiniert. 72 02.09.1991 Das Kuratorium richtet einen Programm- und einen Finanzausschuss ein. 26.04.1995 Neuer Vorstand: Dr. Otto Graf Lambsdorff (Vorsitzender), Dr. Rolf Berndt (Geschäfts führendes Vorstands mitglied). Juni 1995 Gründung des Liberalen Instituts der FriedrichNaumann-Stiftung. 09.02.1996 Prof. Dr. Jürgen Morlok wird zum neuen Kuratoriumsvorsitzenden gewählt. 24.05.1996 Die Stiftungskampagne „Umdenken: Anstiftung zur Freiheit“ wird von Dr. Otto Graf Lambsdorff der Öffentlichkeit vorgestellt. 07.12.1996 Eröffnung der WolfgangNatonek-Akademie im „Haus am Ahorn“ im vogtländischen Kottenheide. 06.05.1998 Festveranstaltung „150 Jahre liberale Revolution in Europa“ in der Paulskirche zu Frankfurt am Main. 01.07.1998 40 Jahre FriedrichNaumann-Stiftung: Feier im Margarethen hof, Geschäftsstelle der Stiftung in Königswinter, in Anwesenheit von Bundespräsident Prof. Dr. Roman Herzog. Lorem Chronik. ipsum dor sit amm dolor slor sit. Oktober 1998 Vorstandsbeschluss zum neuen Sitz der Geschäfts stelle im Truman-Haus, Karl-Marx-Straße 2 in Potsdam-Babelsberg. Januar 1999 Die von der Stiftung produzierte CD-ROM „Im Namen der Freiheit“ wird mit dem ComeniusGütesiegel ausgezeichnet. Dezember 1999 Aufgabe der bisherigen Geschäftsstelle, des Margarethenhofs in Königswinter. 01.01.2000 Vorübergehender Ein zug der Geschäftsstelle in den Weberpark, Alt Nowawes 67 in PotsdamBabelsberg. 16.06.2000 Verabschiedung der Erklärung „Die Rechte von Minderheiten“ auf der zweiten Minder heitenkonferenz der Stiftung in Berlin. 11.10. – 26.11.2000 Ausstellung „Friedrich Naumann – Von Sachsen zur liberalen Weltpolitik“ im Museum Lichtenstein/ Sachsen. 31.12.2000 Schließung der Bil dungsstätten in Lauen burg und Kottenheide. 2001 Neuorientierung der politischen Bildungsarbeit in Deutschland: Einrichtung von Regionalbüros in Halle, Hannover, Lübeck und Wiesbaden. Aufbau eines virtuellen Bildungs angebotes via Internet. 01.04.2001 Umzug der Geschäftsstelle der Friedrich-NaumannStiftung ins Truman-Haus in Potsdam-Babelsberg. 01.09.2001 Beginn der Kampagne „Neustart – eine Initiative für eine liberale Sozial politik“. 18.07.2003 Dr. Otto Graf Lambsdorff ehrt die First Lady von Taiwan, Wu Shu-Chen, für ihr Lebenswerk. 18.10.2003 „Freiheit leben – Frieden sichern“ Vortrag des Dalai-Lama in Berlin, im Anschluss findet die 4. Internationale Konferenz der TibetUnterstützungsgruppen in Prag statt. 10.11.2003 Kolloquium zur Zukunft liberaler Programmatik mit Prof. Werner Maihofer. 01.03.2004 Dr. Hans D. Barbier wird neuer Herausgeber der Zeitschrift „liberal”. 14.09.2001 Eröffnung des neuen Stiftungssitzes in Potsdam-Babelsberg. April 2004 Europäische Frauenkonferenz in Frankfurt am Main. Januar 2002 Die Virtuelle Akademie und das Regionalbüro Stuttgart nehmen ihre Arbeiten auf. 01.05.2004 Eröffnung des Regionalbüros München. 16.03.2002 Kongress „Das vereinte Deutschland auf dem Weg in das geeinte Europa“ in Halle mit Dr. Hans-Dietrich Genscher und ehemaligen Amtskollegen. November 2004 Das Büro Hamburg nimmt seine Arbeit auf. 73 Chronik. 14.02.2005 Die Virtuelle Akademie gewinnt den Europäischen E-Learning-Award „eureleA”. 25.04.2007 Die Stiftung führt den Namen FriedrichNaumann-Stiftung für die Freiheit. 15.06.2005 Start der Stiftungs initiative „pro kopf – Bessere Bildung durch Freiheit und Wettbewerb”. 1. Berliner Rede zur Freiheit mit Verfassungs richter Prof. Dr. Udo Di Fabio. 16.06.2005 Der Dalai-Lama verleiht an Dr. Otto Graf Lambsdorff und die FriedrichNaumann-Stiftung für die Freiheit den „Light of Truth Award”. 16.06.2005 „60 Jahre liberaler Neubeginn“: Dr. Hans-Dietrich Genscher und Dr. Guido Westerwelle würdigen das Eintreten der Liberalen der ersten Stunde für ein freies und demokratisches Deutschland. 07.04.2006 Dr. Wolfgang Gerhardt wird zum Vorsitzenden des Vorstandes gewählt. 25.11.2006 Verleihung des Freiheitspreises an Dr. Hans-Dietrich Genscher in der Paulskirche in Frankfurt am Main. 74 02.06.2007 Festveranstaltung zum 40-jährigen Bestehen der THA in Gummersbach. 13.10.2007 1. Freiheitskongress „Die Zukunft der Freiheit in Deutschland“ in Berlin. 23.11.2007 Rede zur Freiheit mit Freya Klier in Jena. 09.03.2008 Die e-Academy for Leadership wird auf der CeBIT in Hannover mit dem Europäischen E-Learning Award „eureleA“ ausgezeichnet. 23.04.2008 2. Berliner Rede zur Freiheit mit dem Historiker Prof. Dr. Heinrich August Winkler. 19.05.2008 50-jähriges Bestehen der Friedrich-NaumannStiftung für die Freiheit. Festakt in Bonn in Anwesenheit von Bundespräsident Prof. Dr. Horst Köhler. 08.09.2008 Rede zur Freiheit mit dem Präsidenten des Bundes verfassungsgerichts Prof. Dr. Dres. h. c. Hans-Jürgen Papier in Nürnberg. 08.11.2008 Verleihung des Freiheitspreises an Mario Vargas Llosa in der Paulskirche in Frankfurt am Main. 21.01.2009 2. Freiheitskongress „Freiheit – ein bürgerlicher Luxus?“ in Berlin. 21.04.2009 3. Berliner Rede zur Freiheit mit dem ehemaligen Leiter der Stasiunterlagenbehörde Dr. h. c. Joachim Gauck. Lorem ipsum dor sit amm dolor slor sit. Gremienvorsitzende. Vorsitzende des Vorstandes Dr. Walter Erbe (1958–1961) Prof. Dr. Paul Luchtenberg (1961–1970) Wolfgang Rubin (1970–1982) Wolfgang Mischnick (1987–1995) Dr. Otto Graf Lambsdorff (1995–2006) Dr. Wolfgang Gerhardt (seit 2006) Prof. Dr. Lord Ralf Dahrendorf (1982–1987) 1. 2. 3. 4. 5. 6. Paul Meyle Hans Lenz Dr. Clara von Simson Dr. Otto Graf Lambsdorff Walter Scheel Dr. Martin Bangemann 1959–1965 1965–1969 1969–1977 1977–1979 1979–1990 1990–1996 Prof. Dr. Jürgen Morlok (seit 1996) Stand: Mai 2009 Vorsitzende des Kuratoriums 75 Die politischen Grundsätze der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. 76 „Die Idee des Liberalismus muß erst wieder neu erarbeitet werden. Sie hat im Laufe der Zeit soviel an Klarheit, Schärfe und Magnetismus verloren, daß sie erst wieder wie neues Tageslicht vor der Bevölkerung aufsteigen muß.“ Friedrich Naumann (1906) Politische Grundsätze. Die politischen Grundsätze wurden vom Vorstand beschlossen und vom Kuratorium am 24. September 1993 genehmigt. Präambel. Die politischen Grundsätze beschreiben, was die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit unter der Satzungsbe stimmung „Die Stiftung ist auf der Grundlage des Liberalismus tätig“ (§2, Abs. 1) versteht. Die politischen Grundsätze dienen den ehren- und hauptamtlichen Mitarbeitern als Orientierung bei der Auswahl von Personen, der Definition von Zielen für die politische Bildung, die Politik beratung, die Begabtenförderung und die Herausgabe von Publikationen. Lorem ipsum Politische Grundsätze. dor sit amm dolor slor sit. Politische Grundsätze der FriedrichNaumann-Stiftung für die Freiheit für ihre Arbeit im In- und Ausland. Die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit ist die Stiftung für liberale Politik in der Bundesrepublik Deutschland. Sie will dazu beitragen, dem Prinzip Freiheit in Menschenwürde in allen Bereichen der Gesellschaft Geltung zu verschaffen – im vereinigten Deutschland wie auch zusammen mit den Partnern im Ausland. Es ist das Ziel liberaler Politik, dass alle Bürger ihr Zusammenleben in einer offenen Gesellschaft, der Bürger gesellschaft, frei gestalten können. Ohne Freiheit können andere menschliche Werte nicht verwirklicht werden. Jeder Mensch braucht Freiheit, um seine Anlagen und Fähigkeiten entfalten und sich verwirklichen zu können. Ohne Freiheit ermüdet der menschliche Geist, verfallen Kultur und Wissenschaften, stagniert die Wirtschaft. Geistiges Leben braucht Freiheit genauso wie der Körper die Luft zum Atmen. Jeder Mensch ist ein Individuum mit ihm eigenen Ideen und Wünschen. Er ist aber auch ein soziales Wesen, auf andere Menschen angewiesen und ihnen verpflichtet. Freiheit und Verantwortung sind untrennbar. Sie bestimmen das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft. Liberale setzen in zwischenmenschlichen Beziehungen auf Freiwilligkeit – also auf Austausch von Gedanken und Gütern, freien Handel, Einsicht, Mitleid und Verantwortung – und nicht auf Zwang. Freiwillige Zusam menschlüsse fördern das gegenseitige Vertrauen. Sie führen zur Anerken nung der Werte und Ziele der jeweils anderen und verdienen Respekt. 77 Liberale Politik und der Einzelne: Liberale Politik will die Achtung der Rechte des Einzelnen, der Bürger rechte. Der Einzelne ist auf diese Rechte angewiesen, wenn er sein eigenes Leben frei gestalten will. So ist die Freiheit der Meinung nicht nur ein zwingendes moralisches Gebot der Toleranz und der Rechtsstaat lichkeit. Sie ist auch der Weg zum Fortschritt des menschlichen Geistes, der nur im Wettbewerb der freien Ideen und des Wissens zu finden ist. Zu den Bürgerrechten gehört auch das Recht auf Privateigentum. Ohne die Achtung des Eigentums können viele andere Rechte nicht verwirklicht werden. Liberale Politik ist für Chancengleich heit beim Start, für Wettbewerb und Pluralismus. Sie will daher den freien Zugang aller zu allen Märkten – zum Bildungs-, Informations-, Arbeits-, Waren- und Kapitalmarkt. Liberale Politik will den Einzelnen vom Zwang des Staates und anonymer Institutionen befreien, damit er seine Verantwortung in Freiheit wahrnimmt. Deshalb gehört zu den Bürgerrechten die Freiheit des Einzel nen. Freiheit verlangt Übernahme von Verantwortung für die Gemeinschaft. 78 Liberale Politik und die Bürgergesellschaft: Liberale Politik will in allen Bereichen des Lebens die Freiräume der Bürger erweitern und die Rolle des Staates auf das Notwendige zurückdrängen. Dazu gehört die Anerkennung der Fähigkeit der Bürger, sich selbst zu organisieren. Viele Aufgaben können die Bürger in Gemeinden, Stadtteilen, Vereinen, lnteressenorganisationen, anderen privaten Institutionen und Initiativen selbst übernehmen, und sie wollen dies auch. Liberale Politik und der Staat: Liberale Politik sieht die Aufgabe des Staates im Schutz der individuellen Freiheit, in der Bewahrung seiner Bürger vor Gewalt von innen und außen und in der Einhaltung des Ordnungsrahmens Verfassung. Liberale Politik will Regeln festlegen, die für alle gelten, dem Einzelnen aber die freie Entscheidung lassen. Sie will nicht ein bestimmtes Ergeb nis von vornherein fixieren: Sie will also Regelgerechtigkeit, weil es Ergebnisgerechtigkeit nicht geben kann. Lorem ipsum Politische Grundsätze. dor sit amm dolor slor sit. Liberale Politik will Demokratie. Dies ermöglicht zwar Auswahl und Wechsel, garantiert aber allein keine Freiheit. Daher sind für Liberale strikte Gewaltenteilung sowie Kontrolle und Begrenzung der Macht – der staatlichen wie der privaten – unverzichtbar. Liberale Politik will den an das Recht gebundenen und die Freiheit respektierenden Staat. Er hat die Aufgabe, Rechtssicherheit für jedermann zu gewährleisten. Der liberale Rechts staat erkennt die Gruppeninteressen an. Deshalb gibt er ihnen Freiheit in Verantwortung, aber keine politische Macht. Liberale Politik will keine wirtschaftliche Betätigung des Staates. Sie will nicht, dass der Staat durch eigene wirtschaftliche Unter nehmen in Konkurrenz zu privaten wirtschaftlichen Unternehmen tätig wird. Liberale Politik will die Entschei dungsfreiheit der Menschen in allen Bereichen der Politik auch in Zukunft erhalten. Sie lehnt daher die Lösung heutiger Probleme zulasten künftiger Generationen, zulasten der Staatsfinanzen, bei den sozialen Sicherungssystemen und vor allem auch zulasten einer lebenswerten Natur, ab. Liberale Politik und internationale Zusammenarbeit: Liberale Politik will die offene Welt kultur und den freien Weltmarkt. Für Liberale sind die Gemeinsamkeiten von Menschen wichtiger als die Einteilung in In- und Ausländer. Denn die Vision des Liberalismus ist eine Weltgesellschaft, in der Austausch, Kooperation und Wettbewerb der verschiedenen Völker, Staaten, Staa tengemeinschaften und Kulturen in Freiheit stattfinden. Liberale Politik will die Entwicklungs zusammenarbeit durch den freien Welthandel und durch die Hilfe zur Errichtung von freien und selbstverantwortlichen Bürgergesellschaften in Entwicklungsländern. Liberale Politik will die weltweite Liberalisierung der Informations-, Technologie-, Waren- und Dienst leistungs- sowie Währungs- und Kapitalmärkte. Liberale Politik will eine Einigung Europas und andere regionale Zusammenschlüsse, die nicht auf Kosten der Vielfalt nach innen und der Offenheit nach außen erkauft werden. Liberale Politik will die Durchsetzung der Menschen- und Bürgerrechte weltweit. 79 Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit aktuell. 80 Die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit ist die Stiftung für liberale Politik in der Bundesrepublik Deutschland. Sie will dazu beitragen, dem Prinzip Freiheit in Menschenwürde in allen Bereichen der Gesellschaft Geltung zu verschaffen – im Inland wie im Ausland. Mit der Wahrnehmung ihrer satzungsmäßigen Aufgaben (politische Bildung und Politikdialog, Begabtenförderung, Forschung und politische Beratung, Archiv) will die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit zur Gestaltung der Zukunft beitragen. Zur Erfüllung ihrer im öffentlichen Interesse liegenden Auf gaben erhält die Stiftung öffentliche Zuwendungen. Dank der Förderung der Stiftungs tätigkeit mit derzeit 38,5 Mio. aus Mitteln des Bundes und der Länder ist die Stiftung außer in Deutschland heute in mehr als 60 Ländern aktiv. Im Inland bietet die Stiftung vor allem jungen Nachwuchskräften vielfältige Foren: für den Austausch von Informationen und Erfahrungen in lebendigen Zusammenhängen und Formen. Es geht darum, Politik besser zu verstehen und die Bürger zur Beteiligung am politischen Prozess zu bewegen, dies geschieht in der Theodor-Heuss-Akademie in Gummers bach als dem Zentrum für den Dialog auch mit Gästen aus aller Welt, die an den Seminaren der Internationalen Akademie für Führungskräfte Lorem Die Friedrich-Naumann-Stiftung ipsum dor sit amm dolor slor aktuell. sit. teilnehmen. Die Programme der Regionalbüros der Stiftung im Inland – Berlin-Brandenburg, Gummersbach, Halle, Hamburg, Hannover, Lübeck, München, Stuttgart und Wiesbaden – bieten Chancen für das eigenverantwortliche Lernen über individuelle Möglichkeiten der Gestaltung von Politik. Die Stiftung arbeitet dabei mit einer Vielzahl von Kooperationspartnern zusammen. Die virtuelle Form der politischen Bildung ergänzt und vertieft das bisherige klassische Bildungsprogramm. In klar definierten Perioden bearbeitet die Stiftung bestimmte Themen schwerpunkte. Für den Zeitraum 2008–2011 sind dies: ❚ Freiheit und Eigentum ❚ Freiheit und Bürgergesellschaft/ Zivilgesellschaft ❚Freiheit und Rechtsstaat Mit ihren Themenschwerpunkten hat sich die Stiftung auch im Ausland positioniert. Die Förderung von Men schenrechten, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie ist der Kern der Arbeit der Regionalbüros in Europa, Afrika, Asien und Lateinamerika, ergänzt durch die Programme des internationalen und transatlantischen Dialogs. Die Stiftung unterstützt lokale, regionale und nationale Initiativen zur Verwirklichung der Rechte von Minderheiten, zur demokratischen Kontrolle von Sicherheitskräften und zur Stärkung von internationalen Koalitionen für die Menschenrechte. Des Weiteren unterstützt die Stiftung mit der Förderung von liberalen Parteien und Gruppierungen den Aufbau demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen. In Osteuropa fördert die Stiftung erfolgreich den Transformationsprozess der ehemals kommunistischen Staaten, und auf dem Balkan engagiert sie sich im Rahmen des europäischen Stabilitätspaktes. Ein dichtes Netz von Zusammenschlüssen demokratischer Parteien, von Menschen rechtsorganisationen und wissenschaftlichen Einrichtungen ist das Fundament der Stiftungstätigkeit im Ausland. Der Kerngedanke der Stiftung im In- und Ausland ist die Verwirklichung von Freiheit und Verantwortung. 81 Politik ist Können und Wollen, unmittelbares Erleben. Die Stiftung bewahrt sich den Optimismus ihrer Gründer, dass es ihr auch in Zukunft gelingt, einen wirksamen Beitrag zu leisten, damit Politik für Freiheit in Menschenwürde auch im dynamischen Zeitalter der Globalisierung sozial und ökologisch verantwortlich bleibt. Damit dies gelingt, ist sie auf die Mitarbeit vieler Menschen angewiesen. Die Stiftung bietet auf vielen Politikfeldern Wissen und Erfah rungen an. Aus leidvoller Erfahrung mit Aufstieg und Fall von Demokratie in Deutschland, der Rückkehr von Krieg im südöstlichen Europa und dem immer noch krassen Wohlstands gefälle in vielen Entwicklungs- und Transitionsländern erwächst die Ver pflichtung, die von Friedrich Naumann initiierte Arbeit fortzusetzen. Mit ihren 152 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Deutschland, ihren 29 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und ca. 175 Ortskräften im Ausland, rund 800 Stipendiaten und Stipendiatinnen, ihrem großen Kreis an Altstipendiaten, Freunden und Förderern verfügt die Stiftung über Wissen und Erfahrungen für die Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft. Die Umsetzung der 82 Ideen von Theodor Heuss – Völker verständigung in Europa zum Beispiel – erfordert auch heute gut überlegte Konzepte, und zu deren Umsetzung bedarf es der institutionellen Stabilität. Eine wichtige Grundlage dafür ist die institutionelle Förderung aus dem Bundeshaushalt. Vorstand und Kuratorium der Stiftung legen die Vorgaben für die Gesamt tätigkeit der Stiftung fest, die von der Geschäftsstelle in PotsdamBabelsberg gesteuert, koordiniert, evaluiert und verwaltet wird. Es gehört zum liberalen Selbstver ständnis der Friedrich-NaumannStiftung für die Freiheit, ihre Ressourcen mit größtmöglichem Nutzen einzusetzen. Darüber öffentlich Rechenschaft abzulegen und die Öffentlichkeit über ihre Tätigkeit und die Verwendung ihrer Mittel zu informieren, ist selbstverständliche Pflicht. Sie stärkt das öffentliche Vertrauen in die Seriosität ihrer Arbeit und trägt zu der Aner kennung bei, die die Stiftung und vor allem ihre ausländischen Partner immer wieder erfahren. Frei nach dem Motto: „Wenn man es nur versucht, so geht’s.“ Lorem Die Friedrich-Naumann-Stiftung ipsum dor sit amm dolor slor aktuell. sit. Max Weber schrieb damals an Naumanns Witwe: „Mit der größten Erschütterung erfuhr ich durch die Zeitungen den Tod Ihres Mannes. Auf die unabsehbare große Bedeutung seiner politischen Persönlichkeit hoffe ich in nächster Zeit öffentlich sprechen zu können. Aber der Verlust ist ja nicht nur ein politischer. Immer wieder hat man sich menschlich daran aufgerichtet, daß er da war, daß jemand existierte, den die Politik nicht menschlich erstarrt, mechanisiert, brutal oder raffiniert gemacht hatte – und Sie wissen, daß wir ihn herzlich liebten, ganz abgesehen, was er uns allen als Politiker, als Kulturmensch, als deutscher Mensch bedeutete. Die stolze Bescheidenheit seines Wesens verbot es fast, ihm zu sagen, was seine Ritterlichkeit, Gelassenheit, Wärme und Erfülltheit uns rein persönlich bot, wie adelnd er in den Diskussionen und Kämpfen unseres öffentlichen Lebens wirkte, wie ungeheuer viel größer sein Sein war als sein Wirken und sein Wirken wiederum als sein äußerlicher Erfolg. Viele Jahre eigenen Lebens und Hoffens gehen mit ihm dahin – Jahre, die gelebt zu haben man doch nicht missen möchte, mag auch heute alles verloren scheinen. Die Größe seiner Erscheinung lag nicht in dem, was er wollte und wie er seine Sache führte. Das Beispiel, das er gab, hat nicht sofort gewirkt, wie sein innerer Wert es verdient hätte, aber verloren war es deshalb nicht. Und unverloren bleibt vor allem die Tatsache: daß ein Mensch sich innerlich so selbst behauptete in einer Zeit, die für ihn nicht geschaffen war. Entweder er kam zu früh oder zu spät. Einerlei: daß es ihn gegeben hat, ist etwas, was uns allen ganz unverlierbar ist.“ Aus: Friedrich-Naumann, der Mann, das Werk, die Zeit von Theodor Heuss 83 Rede des Bundespräsidenten Prof. Dr. Horst Köhler anlässlich des Festaktes „50 Jahre Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit“ am 19. Mai 2008 im ehemaligen Plenarsaal des Deutschen Bundestages Bonn. „Demokratie ist keine Glücksversicherung, sondern das Ergebnis politischer Bildung und demokratischer Gesinnung.“ 84 Lorem 50 Jahre ipsum für die dor Freiheit. sit amm dolor slor sit. „Demokratie ist keine Glücksversicherung, sondern das Ergebnis politischer Bildung und demokratischer Gesinnung.” So sah es Theodor Heuss. Also machte er sich an die Arbeit und versammelte auf den Tag genau vor 50 Jahren einen Kreis liberaler Mitstreiter in der Villa Hammerschmidt, um eine Stiftung zu gründen, deren vornehmliches Ziel bis heute die politische Bildung ist. Ihr Name: Friedrich-Naumann-Stiftung. Heuss wählte also seinen politischen Ziehvater zum Namenspatron. Friedrich Naumann: ein Mann, der niemals einer Regierung angehört hatte, aber ein Mann, der schon begeisterter und begeisternder Parlamentarier war, bevor überhaupt die parlamentarische Demokratie in Deutschland ihre erste Chance bekam. Sächsischer Pastor, Sozialreformer, ein Mann, der eine Generation führender Denker und Politiker mitgeprägt hat, die den Aufbau der Bundesrepublik gestaltet haben. Ein Mann der Ideen, des Wortes, ein mitreißender Redner. Und auch ein Mann der Tat. Naumann hatte erkannt: Die Demokratie braucht „tätige Staatsbürger”, um zu gedeihen. Seine Schlussfolgerung: „Der guten Jugend wollen wir helfen, dass sie über uns hinauswächst.” Dazu entwickelte er das Konzept einer „Staatsbürgerschule”, Jahrzehnte später verwirklicht im Otto-Suhr-Institut an der Freien Universität Berlin. Alfred Döblin hat einmal geschrieben, dass die erste deutsche Demokratie scheiterte, weil sie eine „Republik ohne Gebrauchsanweisung” war. Jungen Menschen durch politische Bildung eine taugliche Gebrauchsanweisung mit auf den Weg zu geben – das war eine der Triebfedern, die vor 50 Jahren zur Gründung der Friedrich-Naumann-Stiftung führten. Sie trägt wie die anderen politischen Stiftungen seit nunmehr einem halben Jahrhundert auf 85 vielfältige Weise zu unserer politischen Kultur bei. Es ist tägliche, praktische, handfeste Arbeit an und für unsere Demokratie. Dafür danke ich allen Mitarbeitern ganz herzlich. Schnell erkannte die Friedrich-Naumann-Stiftung die große Bedeutung des Themas „Entwicklungszusammenarbeit” in unserer einen Welt. Dass der erste Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit Walter Scheel hieß und einer Partei angehörte, die der Naumann-Stiftung nahesteht, war für die Auslandsarbeit der Stiftung kein Schaden, und ebenso wenig die Übernahme des Außenministeriums durch ihn und andere liberale Politiker. „Hilfe zur Selbsthilfe” – das war die unter Walter Scheel konkretisierte Formel der Entwicklungszusammenarbeit. Sie ist bis heute zielführend und sollte noch viel stärker beherzigt werden. Die politischen Stiftungen sind ein Aushängeschild unseres Landes, haben viel zu Deutschlands gutem Ruf im Ausland beigetragen und ergänzen die Arbeit der diplomatischen Vertretungen. Und umgekehrt tragen die Mitarbeiter der Auslandsbüros ihre Erfahrungen zurück nach Deutschland. Die Auslandsarbeit der politischen Stiftungen ist ein wechselseitiger Lernprozess zum allseitigen Nutzen. Und ein Erfahrungsschatz, der immer wieder verfügbar gemacht werden muss für die politische Arbeit – bei uns in Deutschland und international. Eine Stiftung, die den Zusatz „für die Freiheit” im Namen trägt, ist besonders gefordert bei der Frage, wie unser Gemeinwesen im Spannungsfeld zwischen Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit gestaltet werden soll. Ganz im Sinne Friedrich Naumanns, wonach Freiheit eben nicht als Lizenz zur Unverbindlichkeit missverstanden werden darf, sondern sich aus freiem Willen und eigener Erkenntnis bindet in Verantwortung. Wer wollte bestreiten, dass dies Themen sind, die uns jeden Tag begegnen, dass wir mittendrin sind in einer Zeitenwende, in der wir die Balance zwischen Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit neu austarieren müssen? Vielleicht lohnt es sich in dem Zusammenhang auch, beim Sozialreformer Naumann mit seinen Erfahrungen des Strukturwandels vor 100 Jahren nachzulesen? Im Zentrum liberalen Denkens steht ein Menschenbild, das jedem Menschen etwas zutraut – und deshalb etwas von ihm erwartet. Wir sind gefangen in unserer Unzulänglichkeit, sagt dieses Menschenbild, aber wir sind zur Freiheit begabt. Jeder hat Ideen Dr. Wolfgang Gerhardt MdB und Talente, und die Einzigartigkeit 86 Lorem 50 Jahre ipsum für die dor Freiheit. sit amm dolor slor sit. eines jeden von uns verlangt danach, Berücksichtigung zu erfahren. Deshalb bedeutet Freiheit zwangsläufig immer auch Ungleichheit. Ungleichheit kann die Quelle von Anstrengung, Kreativität und Dynamik sein. Nur wenn Ungleichheit unüberwindbar ist, dann wirkt sie lähmend und fügt dem Zusammenhalt einer Gesellschaft Schaden zu. Es ist ein Gebot der Gerechtigkeit, allen die Chance zu geben, ihre Talente zu entwickeln und durch Leistung sozialen Aufstieg zu erreichen. Das ist zugleich eine der wichtigsten Antriebskräfte für die Leistungsfähigkeit unseres ganzen Landes. Wer also glaubwürdig für Freiheit in einer offenen Gesellschaft werben will, der muss für Durchlässigkeit der Gesellschaft sorgen. Beweglichkeit von unten nach oben: Auch daran macht sich der Wert der Freiheit für den Einzelnen fest. Da haben wir bei uns noch ein bisschen Nachholbedarf. Deshalb lautet meine Empfehlung an alle, die sich dem Freiheitsgedanken verpflichtet fühlen: Ringen Sie um Gerechtigkeit in der Freiheit. Tragen Sie Sorge dafür, dass Freiheit nicht zur Verteidigung von Privilegien missbraucht werden kann. Arbeiten Sie mit daran, dass gerade diejenigen, die sich heute als chancenlos empfinden, dazu ertüchtigt werden, in eigener Leistung und Selbstbestimmung ihr Leben zu gestalten und zu meistern. Dafür bleibt das A und O Bildung – nicht verkürzt auf einen Set berufsqualifizierender Abschlüsse und „Kompetenzen”, sondern verstanden als glückliche Verbindung von Kenntnissen, Können und Verantwortungsbe reitschaft. Gleiche Bildungschancen – das ist die wichtigste Form sozialer Gerechtigkeit. Die Friedrich-Naumann-Stiftung hat in 50 Jahren viel Gutes auf den Weg gebracht. Sie leistet im In- und Ausland einen wertvollen Beitrag dazu, die Demokratie zu verstehen, wertzuschätzen und hochzuhalten. Wer Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit unter einen Hut bekommen will, der nimmt sich einiges vor. Ich wünsche mir, dass die Stimme der FriedrichNaumann-Stiftung auch weiterhin deutlich vernehmbar bleibt – beratend, wenn nötig, mahnend. Ich wünsche uns allen, dass die Stiftung weiterhin Menschen in Deutschland und in aller Welt prägt und rüstet dafür, demokratische Verantwortung zu übernehmen und ihre Mitbürger zu begeistern für Freiheit und Gerechtigkeit und Verantwortung. Und ich wünsche unserer Demokratie einen großen Reichtum an Demokraten, wie Friedrich Naumann einer war. 87 Rede von Prof. Dr. Lord Ralf Dahrendorf anlässlich des Festaktes „50 Jahre Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit“ am 19. Mai 2008 im ehemaligen Plenarsaal des Deutschen Bundestages Bonn. „Wer die Freiheit nicht nur zuerst, sondern auch ganz ohne ein »und« einen zweiten, angeblich gleichrangigen Wert will, muss Auskunft darüber geben, wie er sich die lebenswerte Welt vorstellt.“ 88 Lorem 50 Jahre ipsum für die dor Freiheit. sit amm dolor slor sit. Die Glückwünsche zum 50. Geburtstag der Friedrich-Naumann-Stiftung, die zu entbieten die Einladung zu dieser Festrede mich ermutigt, kommen von einem Liberalen besonderer Prägung. Als Kind und Teenager wuchs ich in einer Familie auf, die mit „den Lebers” – der Familie des bedeutenden Widerstandsmannes Julius Leber – befreundet war. Mein Vater nahm mich aber auch mit, um (es war schon während des Krieges) in einer Berliner Kunsthandlung den früheren Reichstagskollegen der anderen, liberalen Fraktion, Theodor Heuss, zu treffen. Leber, vom Volksgerichtshof nach dem 20. Juli im selben Prozess wie mein Vater verurteilt, wurde hingerichtet. Mein Vater kam aus dem Zuchthaus Brandenburg zurück in das zerstörte Berlin. Wir wohnten damals in Zehlendorf, nicht weit von Annedore Leber. In beiden Häusern war Lebers Lübecker „Ziehsohn” Willy Brandt, noch in norwegischer Uniform, mehrfach zu Gast. Mein Vater, Arbeiterkind und Sozialdemokrat, fand sich bald erneut im Kampf um die Freiheit. Er war im Vorstand der ostzonalen SPD und stimmte in der entscheidenden Abstimmung im Februar 1946 gegen die Zwangsvereinigung von Sozialdemokraten und Kommunisten zur SED. Es hat etwas leicht Peinliches, viele Jahre später die politische Haltung des längst verstorbenen Vaters zu interpretieren; aber ich glaube, niemanden in die Irre zu führen, wenn ich sage, dass Gustav Dahrendorf ein liberaler Sozialdemokrat war. Jedenfalls war er unbequem. Von der Befürwortung des relativen Mehrheitswahlrechts bis zur Unterstützung der von der damaligen SPD mit Skepsis, ja Ablehnung, begleiteten ersten Schritte zur europäischen Einigung vertrat er eine eigene Meinung, und er sprach immer wieder vom Menschen als Maß aller Dinge, vor allem aber von der Freiheit, die er zwei89 mal in seinem Leben – 1933 und 1946 – vor allen anderen Interessen und Werten unter persönlichen Opfern verteidigt hatte. Dass er seinem Sohn die Freiheit ließ, eigene politische Wege zu gehen, war da fast schon selbstverständlich. So fand ich mich anderthalb Jahrzehnte nach der dramatischen Berliner Entscheidung im eher idyllischen Tübingen, als die Bundesrepublik Deutschland mit der Spiegel-Affäre ihre erste große Krise erlebte. Der junge Professor verteilte nicht nur Flugblätter auf der Eberhardsbrücke, sondern beschloss auch, politisch aktiv zu bleiben. Bei den Gemeinderatswahlen von 1963 ließen sich mehrere Kollegen wie ich von Parteien zu Kandidaturen bewegen. Mein juristischer Kollege Jürgen Baumann kandidierte für die CDU, der Naturwissenschaftler Georg Melchers für SPD und ich für die FDP. Wir hatten allesamt aussichtsreiche Listenplätze, abgesehen von der Tatsache, dass auf den Wahlzetteln unsere Berufsbezeichnung „Universitätsprofessor” hinter dem Namen stand. Dies veranlasste die damals noch traditionsbewussteren „Gogen”, die Tübinger Urbürger, von den Möglichkeiten des Kumulierens und Panaschierens, viel mehr vor allem des Nichtkumulierens Gebrauch zu machen. Baumann auf seiner und ich auf meiner Liste wurden so oft gestrichen, dass wir es nicht in den Gemeinderat schafften; Melchers erging es etwas besser, er wurde nur von Platz eins auf Platz zehn oder so heruntergestrichen, und das reichte gerade noch zur Wahl. Als derlei geschah, gab es die Naumann-Stiftung schon; zu ihren Gründern, deren Namen sich auf der Stiftungsurkunde finden, gehörte mein Fakultätskollege Walter Erbe. Seine politische Haltung hatte seine aka- Dr. Otto Graf Lambsdorff 90 Lorem 50 Jahre ipsum für die dor Freiheit. sit amm dolor slor sit. demische Karriere in Berlin nicht gefördert. Nach dem Krieg indes fand der Berliner Privatdozent sich auf einem Tübinger Lehrstuhl. Mehr noch, er wurde bald zum Rektor gewählt. Nach dem erfolgreichen Rektorat kandidierte er in Stuttgart für den Landtag, in dem er 15 Jahre lang eine bedeutende Rolle spielte. Sein unzeitig früher Tod 1967 hatte (wenn Sie mir eine letzte autobiografische Bemerkung nachsehen) zur Folge, dass die FDP/DVP mir seinen Stuttgarter Wahlkreis antrug, in dem ich im Frühjahr 1968 in den baden-württembergischen Landtag gewählt wurde. Walter Erbe war – wie auch Theodor Heuss – ein Kulturliberaler. Sein literatenhaftes Äußeres täuschte nicht; mein Vater hätte ihn vielleicht einen Bohemien genannt und dabei leichten Neid mit sanftem Zweifel verknüpft. Nicht nur galt Erbes Hauptinteresse der Kulturpolitik, sondern alles, was er öffentlich sagte, verriet seine Heimat in der deutschen Bildungswelt. Man könnte ihn auch einen Humboldt-Liberalen nennen. Von dieser Art gab es in der Naumann-Stiftung manche. Ich denke an Rolf Schroers, aber auch an Barthold Witte. Rings um die Zeitschrift „liberal”, oft auch an der TheodorHeuss-Akademie in Gummersbach, versammelten sich die Kulturliberalen und prägten auf ihre Weise ein Stück deutsche Nachkriegsgeschichte. Die Naumann-Stiftung ging dann aber, im Gleichklang mit den anderen sogenannten „politischen” Stiftungen, auch andere Wege. Dafür war nicht zuletzt ein junger Entwicklungshilfeminister im letzten Kabinett Adenauer verantwortlich, nämlich Walter Scheel. Er hatte die durchaus liberale Idee, dass die Förderung der Entwicklung anderer Länder nicht, jedenfalls nicht materiell, von Staats wegen betrieben werden sollte. Daher suchte er Wege, um Entwicklungshilfe auf Armeslänge zu betreiben, also mithilfe von Nichtregierungsorganisationen, die die öffentlichen Mittel vor Ort für von ihnen begleitete Projekte verwenden. Das war eine jener scheinbar formalen Entscheidungen mit weitreichenden materialen Folgen und hat neben dem Hauptzweck die Stiftungen enorm gestärkt. Es kann nicht beabsichtigt sein, die Wirkungsgeschichte der Stiftung, deren Jubiläum wir heute feiern, im Einzelnen nachzuzeichnen. Zur Entwicklungsarbeit kam die politische Bildung im eigenen Land, dann die – vor allem mit dem Namen Otto Graf Lambsdorff verbundene – inter Prof. Dr. Horst Köhler 91 nationale politische Zusammenarbeit, auch die Schaffung einer Art Thinktank mit originellen Beiträgen zur Debatte liberaler Politik. Dem etwas ferner Stehenden – der mittlerweile auf den „cross benches”, den Bänken der Unabhängigen im britischen Oberhaus, seinen Platz hat – ist nicht entgangen, dass auf den Briefbögen der Stiftung der Name Friedrich Naumanns jetzt ein bisschen kleiner gedruckt wird. Dafür kommt deutlich die Absicht des gegenwärtigen Vorsitzenden Wolfgang Gerhardt heraus: Stiftung für die Freiheit. Das ist ein Signal. Es ist ein willkommenes, aber auch ein antizyklisches Signal. Von der Freiheit ohne Wenn und Aber reden heute nur wenige. In gewisser Weise ist die Freiheit ein Minderheitsideal geworden. Die Mehrheit redet eher von Gerechtigkeit. Zwei Drittel aller Deutschen sind laut Auskunft der Meinungsforscher überzeugt, dass es in Deutschland ungerecht zugeht. Also wollen viele Freiheit und Gerechtigkeit, oft sogar Gerechtigkeit vor allem. Wer die Freiheit nicht nur zuerst, sondern auch ganz ohne ein „und” einen zweiten, angeblich gleichrangigen Wert will, muss Auskunft darüber geben, wie er sich die lebenswerte Welt vorstellt. Das ist keine einfache Aufgabe. Es ist ja eine historische Erfahrung, dass Zeiten, in denen neue Produktivkräfte sich Bahn brechen, manche sehr reich und viele arm machen. Das war beispielsweise in der großen Zeit Plenarsaal des ehemaligen Bundestages in Bonn 92 Lorem 50 Jahre ipsum für die dor Freiheit. sit amm dolor slor sit. Dr. Hildegard Hamm-Brücher, Dr. Hermann Otto Solms MdB (v. r. n. l.) des Eisenbahnbaus, also der Rockefellers und Carnegies, der Fall, und es ist sicher der Fall in dieser Zeit der Informationsrevolution seit dem Ende des Kalten Krieges. Die Schere zwischen Arm und Reich hat sich weit geöffnet. Innerhalb eines Jahrzehnts ist die Zahl der Dollarmilliardäre von einer Handvoll zu vielen Hundert, ja mehreren Tausend angestiegen. Diese Superreichen haben eine nicht unbeträchtliche Zahl nachgezogen, vielleicht sogar 10 Prozent oder sogar mehr, deren Einkommen sich in den letzten anderthalb Jahrzehnten vermehrfacht hat. Zugleich fand das untere Zehntel sich mit nicht stagnierenden, sondern sinkenden Einkommen in der neuen Welt der Globalisierung wieder. Man braucht keine scheinsubtilen, statistischen Maße – 60 Prozent des Durchschnittseinkommens etwa –, um eine neue Armut zu konstatieren, Kinderarmut, Altersarmut, ganz gewöhnliche Armut in den großen Städten und nicht nur da. Der Versuchung, von Armut inmitten des Reichtums zu sprechen, muss man zudem widerstehen, denn der neue Reichtum ist nur bedingt zu sehen. Es wäre von Interesse, Untersuchungen darüber anzustellen, was die Superreichen mit ihren Millionen machen. Die berüchtigten Bezieher hoher Managementgehälter legen das Geld ja nicht in 500-Euro-Noten in ihre Safes. Sie beschäftigen vielmehr Menschen, Sicherheitsexperten und Hausgehilfen, Yachtmannschaften in Mittelmeerhäfen und Piloten für die 6 000 privaten Gulfstream-Jets, die heute den Himmel bevölkern, und natürlich die Bauarbeiter für die Mauern rings um die „gated communities”, in denen sie ihre Luxusgettos geschaffen haben. 93 Die Superreichen als Arbeitgeber – das ist ein unausgeschöpftes soziales Thema. Dabei wird dann bald etwas deutlich, was zum Kern dieser Überlegung zum Thema Freiheit und Gerechtigkeit führt. In den globalisierenden Gesellschaften haben bestimmte Gruppen gleichsam abgehoben von den Unternehmen, die die Quelle ihres Reichtums sind. Es ist eine eigene Welt jener Bezieher von Spitzeneinkommen entstanden, in der die entscheidenden Signale nicht mehr von denen ausgehen, für die diese Superreichen verantwortlich sind, sondern von den anderen Superreichen. „Es sieht nicht gut aus, wenn unser CEO so viel weniger kriegt als der der Konkurrenz”, sagt der Vorsitzende des Aufsichtsrates, und die Mitglieder des zuständigen Ausschusses nicken. Da verliert es jeden Sinn zu sagen, der CEO verdiene das 20-Fache – oder auch 200-Fache – des Durchschnittseinkommens seiner Beschäftigten. Diese sind vielmehr nicht mehr relevant für die Spitzeneinkommen, sind vielleicht überhaupt entbehrlich. Dann ist es nicht mehr weit zum Nokia-Phänomen, also Massenentlassungen bei hohen Gewinnen, ein Phänomen übrigens, für das viele andere eindringlichere Beispiele liefern als gerade Nokia. Ist das alles gerecht? Finden hier nicht Entwicklungen statt, die verständlicherweise das Gerechtigkeitsempfinden der Mehrheit beunruhigen? Kann man nicht verstehen, dass viele angesichts solcher Entwicklungen zunächst Gerechtigkeit und dann erst Freiheit wollen? Wer auf die von John Rawls entwickelte „Theorie der Gerechtigkeit” schwört, also eine Gesellschaft will, in der die am niedrigsten Entlohnten dennoch Einkommen haben, die in anderen denkbaren Gesellschaften auch nicht höher wären, mag zu diesem Schluss kommen. Rawls ist indes zwar der Säulenheilige des in allen Parteien verbreiteten sozialdemokratischen Denkens, aber nicht der Einzige, an den man sich in der gegenwärtigen Lage halten kann. Da ist zunächst an zwei heute eher selten zitierte Autoren zu denken, für die Gerechtigkeit eine sinnlose Phrase, ihre Forderung daher ein ideologischer Irrweg ist. Mindestens einer der Namen mag überraschen: es ist die Rede von Karl Marx und Friedrich von Hayek. Meine Dissertation über den „Begriff des Gerechten im Denken von Karl Marx” (die insoweit auch nach 56 Jahren noch gültig ist) begann mit der Beobachtung, dass „Gerechtigkeit” bei Marx sozusagen nicht vorkommt. Gelegentlich verwendet er das Wort in Anführungsstrichen, um es als Feigenblatt bourgeoisen Selbstlobs zu geißeln. Die kommunistische Endgesellschaft aber beschreibt er nicht als gerecht, sondern vor allem als ein „Reich der Freiheit”, in dem „die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller” ist. Der Weg dahin wird zudem nicht von moralischen Prinzipien bestimmt. Die Arbeiterklasse „hat keine Ideale zu verwirklichen; sie hat nur die Elemente 94 Lorem 50 Jahre ipsum für die dor Freiheit. sit amm dolor slor sit. der neuen Gesellschaft in Freiheit zu setzen, die sich bereits im Schoß der zusammenbrechenden Bourgeoisiegesellschaft entwickelt haben.” Das klingt merkwürdig ähnlich bei Friedrich von Hayek, der nicht nur Gerechtigkeit nicht als Ideal akzeptiert, sondern sich über dessen häufige Verwendung mokiert. Gerechtigkeit ist für ihn „sinnlos”. Sie bedeutet, dass gewisse allgemeine Regeln als für alle gültig behauptet werden. „Das lässt sich nicht anwenden auf die Art und Weise, in der der unpersönliche Prozess des Marktes Kontrolle über Güter und Dienstleistungen bestimmten Personen zuschreibt. Diese kann weder gerecht noch ungerecht sein, denn die Resultate sind weder beabsichtigt noch vorhersehbar und hängen von einer Vielzahl von Umständen ab, die in ihrer Gänze niemand kennen kann.” Marx und Hayek sehen beide unpersönliche Kräfte am Werk – der eine den vom Kopf auf die Füße gestellten Weltgeist, der andere den allmächtigen Markt –, die es erübrigen, moralische Grundsätze oder auch nur politische Programme ins Feld zu führen. Beide brauchen daher die Gerechtigkeit nicht und können sich auf ihre je eigenen Konzeptionen der Freiheit konzentrieren. Sie sind dennoch nicht die Art von Anhängern der Freiheit, denen ich hier das Wort rede. Beider Dogmatismus widerspricht dem ersten Grundsatz liberalen Denkens, nämlich der Offenheit für neue Wege. Trial and error, Versuch und Irrtum, bedeuten, dass wir nie aufhören dürfen, neue Wege zu versuchen, und übrigens, dass der dazu notwendige Mut zur Reform nicht selbstverständlich ist. Er muss wachgehalten werden, und er verlangt ein Verständnis von Regeln, das auch den Markt nicht ungeschoren lässt von Recht und Moral. Es gibt eine gedankliche und politische Position, die den Fundamentalismus, sei es von Marx, sei es von Hayek, ebenso vermeidet wie den naiven Moralismus der Gerechtigkeitsapostel à la Rawls. Sie wird von Autoren vertreten, die zu meinen bevorzugten Liberalen gehören. Der langjährige Kolumnist der „Financial Times”, Sir Samuel Brittan, spricht von RML, nämlich von Redistributive Market Liberals, zu denen er sich zählt. Adaer Turner, der Autor des Buches mit dem bezeichnenden Titel „Just Capital”, hat den Begriff für sich aufgenommen. Ich habe stets bedauert, dass dabei der Begriff der Umverteilung verwendet wird, denn diese mechanische Vorstellung, wonach den Reichen genommen und den Armen gegeben wird, ist weder praktikabel noch hilfreich. Statt von UmverteilungsMarktliberalismus spreche ich lieber von einem Grundstatus-Markt liberalismus. 95 Die Gesellschaft der Freiheit, die ich suche, kennt also einen Fußboden, auf dem alle stehen, eine rechtliche und sozialökonomische Grundposition, die niemandem verwehrt, ja die für alle geschaffen wird. Man kann diesen Grundsatz mit dem Begriff der Bürgerrechte kennzeichnen, mit citizenship im Sinne von T. H. Marshalls wichtigem Buch „Citizenship and Social Class”. Dass Gleichheit vor dem Gesetz und politische Teilnahmechancen für alle dazugehören, ist allgemein anerkannt (wenngleich leider nicht allgemein verwirklicht). Auch in einem weiteren Sinn gehört Chancengleichheit zu dem Grundstatus. Dass Bildung Bürgerrecht ist, gilt heute wie vor 40 Jahren, als Hildegard Hamm-Brücher und andere Liberale dafür kämpften und ich ein Büchlein unter diesem Titel schrieb. Indes gehören zum Grundstatus aller Bürger noch andere, kontroverse Themen. Das sind einmal zugängliche und erschwingliche öffentliche Dienste. Was zu diesen gehört und wie sie „zugänglich und erschwinglich” werden, ist ein Schlüsselthema liberaler Politik. Noch umstrittener dürfte eine weitere Forderung sein, nämlich ein garantiertes Grundeinkommen für alle. Nicht von Mindestlohn ist die Rede, sondern von einem marktunabhängigen Existenzgeld, auf das alle Anspruch haben und das ein Minimum an (Über-)Lebenschancen garantiert. Das ist ein mittlerweile viel diskutiertes Thema – auch eines, gegen das sich man- Prof. Dr. Horst Köhler, Walter Scheel (v. l. n. r.) 96 Lorem 50 Jahre ipsum für die dor Freiheit. sit amm dolor slor sit. che Argumente und Erfahrungen ins Feld führen lassen, aber es ist auch ein Thema, das auf der Tagesordnung einer Politik der Freiheit bleiben muss. Nun wird mancher sagen: Ein Grundstatus ist ja schön und gut, aber wie steht es mit den Gulfstream-Eignern in ihren Sozialgettos? Was also sagt der Grundstatus-Marktliberale zu den Superreichen? Wie steht es mit der Ungleichheit überhaupt? Die Antwort, die ich hier vorschlage, ist kontrovers; sie scheidet auch die Freiheitsfreunde von den Gerechtigkeitssuchern. Wenn der Grundstatus garantiert ist, wenn also Existenzsicherung und Chancengleichheit erreicht sind, gibt es prinzipiell keinen Grund, Unterschiede einzuebnen. Mehr noch, die Ungleichheit der Einkommen und Lebenslagen kann dann zum Stimulus einer offenen, wandlungsfähigen, freien Gesellschaft werden. In diesem Bereich sind Freiheit und Gleichheit nicht komplementäre, sondern widersprüchliche Ziele. Kann das wirklich so stehen bleiben als letztes Wort zum Thema? Sicher nicht. Ein Punkt zumindest bedarf besonderer Aufmerksamkeit. Wenn der Status von Menschen diese in die Lage versetzt, die Bürgerrechte anderer zu beschränken, dann ist das in einer freien Gesellschaft nicht akzeptabel. Das war einmal das Thema der Standesgesellschaft, in der die Rittergutsbesitzer „dafür sorgten”, dass die ihnen Anvertrauten „richtig” wählen. (Die modernen Rittergutsbesitzer sind eher Staats- und Parteifunktionäre.) Es kann indes auch vorkommen, dass ungewöhnlich hohe Einkommen missbraucht werden, um politische Unterstützung zu kaufen. Diese Gefahr mag bei Multimillionären unter Fußballspielern oder Opernsängern gering sein. Sie ist bei Medienunternehmern weit größer und bei den Gewinnern der versteckten Auktion zur Privatisierung von Staatsunternehmen sehr groß. Dort also, wo Status in Macht übersetzbar wird, ist nicht nur äußerste Aufmerksamkeit, sondern auch der regelnde Eingriff am Platze, der indes nicht der Höhe etwa des Einkommens gelten sollte, sondern seiner Qualität, also dem, was mit einem Spitzenstatus getan wird. 97 Bitte ausfüllen und faxen an 03 31.70 19-1 03 Bitt Zusendung von Informationen Zus Vorname Nachname Vorn Straße Straß PLZ, Wohnort PLZ, Um Sie noch besser und schneller informieren zu können (auch per Telefon), bitten wir Sie auch um folgende Angaben (freiwillig): Um S willig Telefon Telef Telefax E-Mail E-M Beruf Geburtsjahr Beru Meine Daten werden zum Zweck der Veranstaltungseinladung und -organisation sowie Versendung von Informationen elektronisch gespeichert. Wenn ich keine Informationen mehr von der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit wünsche, wird sie dieses nach entsprechender Mitteilung durch mich beachten (§ 28 Abs. 4 BDSG). 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