20. Juni: Tag der Schutzsuchenden

Aus dem noch nicht veröffentlichten Krokofil-Tagebuch © 2015, Armin Pongs
20. Juni: Tag der Schutzsuchenden
Warum sind so viele Menschen auf der Flucht?
Gewidmet allen Kindern, die auf der Flucht sind
S
chon vor Tagen hatte uns Frau Kuchenbäcker erzählt, dass drei neue Mitschüler in die
Klasse kommen würden. Wir waren also sehr gespannt und konnten es kaum erwarten,
sie in unserer Mitte zu begrüßen. Kurz nach acht betrat unsere Lehrerin mit zwei Mädchen und
einem Jungen das Klassenzimmer. „Guten Morgen liebe Kinder“, begrüßte sie uns. „Das sind Saida,
Almaz und Khalid“, sagte sie und schrieb die Namen der drei an die Tafel. Freudig sangen wir ein
Lied, das zum Ausdruck brachte, dass wir uns freuten, sie bei uns zu haben.
Danach bekamen die drei einen Platz zugeteilt. Saida durfte sich neben Biber-Bernd setzen,
Almaz wurde die neue Sitznachbarin von Aluna und Khalid nahm auf dem Stuhl neben mir Platz.
„Kannst du gut rechnen?“, wollte Biber-Bernd gleich wissen, doch Saida schien ihn nicht zu verstehen,
denn sie zuckte nur mit den Schultern.
Auch Khaled schaute mich mit großen Augen an, als ich ihn ansprach. „Verstehen die drei
kein Deutsch?“, erkundigte sich Aluna.
„Leider nicht, denn sie sind erst seit ein paar Tagen in Deutschland“, erzählte Frau
Kuchenbäcker. „Mit eurer Hilfe werden sie die deutsche Sprache aber sicherlich im Handumdrehen
erlernen.“
„Woher kommen sie denn?“, wollte Frechdachs wissen.
„Khalid kommt aus Syrien, Saida aus dem Irak und Almaz aus Eritrea“, antwortete Frau
Kuchenbäcker und zeigte auf die große Weltkarte, die neben der Tafel hing.
Syrien und Irak waren Nachbarstaaten der Türkei, wie wir nun erfuhren, Eritrea war ein
Land in Afrika. „Ich komme auch aus Afrika“, rief ich begeistert. „Ich wurde am Nil geboren.“ Die
drei nickten. Von diesem Fluss schienen sie schon einmal gehört zu haben.
„Wie sind sie denn hierhergekommen?“, fragte Frechdachs.
Da Frau Kuchenbäcker sich über das Schicksal ihrer neuen Schützlinge informiert zu haben
schien, konnte sie gleich Auskunft geben: „Saida hat zwei Jahre in einem großen Zeltlager in der
Türkei gelebt, bevor sie mit ihren Eltern auf die griechische Insel Lesbos geflüchtet ist“, erzählte sie.
„Von dort gelangte die Familie nach Thessalonki, wo sie und ihre Eltern einige Zeit warten mussten,
bis sie nach Deutschland weiterreisen konnten. Almaz wäre beinahe auf der Flucht über das
Mittelmeer ertrunken. Sie war mit ihren Eltern auf einem Boot, das vor der Küste der italienischen
Insel Lampedusa kenterte. Viele Menschen starben bei diesem Unglück, auch ihr jüngerer Bruder.
Almaz konnte zum Glück lebend aus dem Meer gerettet werden.“
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Während Frau Kuchenbäcker sprach, hatte ich immer wieder zu der neuen Klassenkameradin
hinübergeschaut. Ängstlich war Almaz auf ihrem Stuhl hin und her gerutscht und schien keine Ruhe
zu finden. „Und was ist Khalid widerfahren?“, fragte ich bedrückt.
„Auch er hat eine lange und beschwerliche Reise hinter sich“, wusste Frau Kuchenbäcker.
„Seine Familie starb bei einem Bombenanschlag in der syrischen Stadt Aleppo. Nur sein Onkel und
er überlebten. Gemeinsam flohen sie in die Türkei und lebten einige Wochen in Antakya. Von dort
gelangten sie in einem Viehtransporter nach Sarajevo. Vor ein paar Tagen sind sie dann bei uns
gelandet. Was die drei im Einzelnen mitgemacht haben, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass sie jetzt
bei uns in Sicherheit sind. Wir müssen freundlich und höflich sein und sehr behutsam mit ihnen
umgehen. Versucht ihnen zu helfen, wo immer es geht.“
„Warum sind sie eigentlich auf der Flucht?“, wollte nun Brillen-Bär wissen.
„Haben sie etwas ausgefressen?“, überlegte Frechdachs.
„Du musst nicht von dir auf andere schließen“, ermahnte ihn Brillen-Bär und gab ihm einen
Klaps auf den Kopf.
„Sie haben nichts angestellt“, antwortete Frau Kuchenbäcker entschieden. „Sie mussten
fliehen, weil sie nicht mehr in ihrer Heimat bleiben konnten.“
„Warum denn?“, fragte Biber-Bernd.
„Weil in ihren Heimatländern Krieg herrscht“, versuchte uns Frau Kuchenbäcker noch einmal
zu erklären. „Der Krieg hat sie von heute auf morgen obdachlos gemacht. Plötzlich hatten sie kein
Dach mehr über dem Kopf.“
„Mussten sie etwa auf der Straße übernachten?“, schlussfolgerte Aluna.
„Nicht nur das“, meinte Frau Kuchenbäcker. „Sie mussten sogar um ihr Leben fürchten.
Ihre Häuser wurden zerbombt, die Schulen mussten geschlossen werden und mit jedem Tag wurde
es gefährlicher für sie, in ihrer Heimat zu bleiben. Auf Khaled wurde sogar geschossen.“ Frau
Kuchenbäcker zeigte auf die Streifwunde in dem Gesicht des Jungen.
„Das ist ja schrecklich!“, rief Aluna und vergrub das Gesicht in ihren Händen.
Ich malte mir aus, was die drei durchgemacht haben mussten. Was hatten sie alles mitansehen
müssen? Welche Gräueltaten hatten sie womöglich erlebt? Aber ich konnte es mir nicht so richtig
vorstellen.
„Es ist nicht nur Krieg, der Menschen zur Flucht treibt“, erklärte Frau Kuchenbäcker. „Auch
Vulkanausbrüche, Erdbeben, Überschwemmungen oder Dürre können der Grund sein, dass
Menschen alles hinter sich lassen, um irgendwoanders Zuflucht zu finden.“
„Auch aus Deutschland sind Menschen vor mehr als 150 Jahren geflohen, um in Amerika
eine neue Heimat zu finden“, wusste Brillen-Bär. „Und im Zweiten Weltkrieg wurden Menschen in
Deutschland verfolgt und mussten fliehen. Zum Glück fanden einige von ihnen in anderen Ländern
Schutz.“
„Deswegen gibt es für alle Menschen, die in ihren Heimatländern politisch verfolgt werden,
die Möglichkeit, in Deutschland Asyl zu beantragen“, erklärte unsere Klassenlehrerin. „Alle, die in
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ihrer Heimat um ihr Leben fürchten müssen, haben das Recht auf eine kurze oder auch längerfristige
Aufnahme. Viele werden auch bleiben.“
Das hatte ich auch noch nicht gewusst. Wir schwiegen eine Weile. Schließlich fragte
Frechdachs: „Und wo wohnen die drei jetzt?“
„Sie wohnen in einer Flüchtlingsunterkunft ganz in unserer Nähe“, antwortete Frau
Kuchenbäcker und berichtete von einer alten Kaserne, die in den letzten Wochen umgebaut worden
war. Sie lag direkt auf unserem Schulweg.
Wir hatten noch viele Fragen und Frau Kuchenbäcker gab uns bereitwillig Auskunft. Danach
zeigten wir unseren neuen Klassenkameraden noch das Schulgebäude und brachten ihnen ein paar
Wörter Deutsch bei. Auch ich lernte einige arabische Wörter, denn Arabisch, so erfuhren wir, war
von allen dreien die Muttersprache.
Da wir denselben Heimweg hatten, traten wir ihn auch gemeinsam an. Wir waren kurz vor
der Kaserne, als wir unerwartet Zeuge wurden, wie ein größerer Junge auf Khaled zugelaufen kam
und ihn ohne ersichtlichen Grund zu Boden schlug. Ich war im ersten Moment wie versteinert und
wusste nicht, was ich tun sollte. Doch gleich darauf packte ich den Angreifer am Kragen und stellte
ihn zur Rede. „Was fällt dir ein, dich an meinem Freund zu vergreifen?“, schrie ich ihn an.
Der Junge schien von meiner Reaktion überrascht. Kleinlaut fragte er: „Was hat der denn hier
zu suchen?“
„Er ist auf der Flucht und sucht unseren Schutz“, entgegnete ich ihm. „Stell dir vor, du
müsstest fliehen und könntest nichts anderes mitnehmen als das, was du am Leib trägst.“ Das schien
den Angreifer aufzurütteln, denn plötzlich hielt er inne und schaute mich mit großen Augen an. Ich
erzählte ihm, dass Khaled ein neuer Klassenkamerad von mir sei und ich ihn beschützen werde.
„Solange, bis er sich nicht mehr fürchten muss.“
Zu Hause erzählten wir Alunas Eltern von den drei Neuen in unserer Klasse und was wir auf
dem Nachhauseweg erlebt hatten. „Das war sehr mutig von dir“, lobte Frau Engel mein beherztes
Eingreifen.
„Wie viele Kinder sind eigentlich wie Khaled, Almaz und Saida auf der Flucht?“, wollte
Frechdachs wissen.
„Weltweit sind es mehr als 50 Millionen Menschen“, wusste Herr Engel. „Viele von ihnen
leben in Zeltstädten und wissen nicht, wie es weitergeht. Sie haben alles verloren, was sie einmal
besessen haben, viele auch ihren Lebensmut.“
Ich überlegte gerade, wie wir den dreien weiterhelfen konnten, als Aluna vorschlug:
„Wir können ihnen einige unserer Spielsachen und Bücher geben und vielleicht auch ein paar
Kleidungsstücke.“
Das war eine gute Idee, und auch Alunas Eltern waren damit einverstanden. Eine Stunde
später hatte jeder von uns etwas zusammengesucht, was er verschenken wollte, und Frau Engel hatte
sogar etwas Leckeres gekocht.
Als wir die ehemalige Kaserne betraten, war ich auf den ersten Blick entsetzt, wie viele
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Menschen hier auf engem Raum lebten. Vor der Tür einer der Baracken stand Khaled, der sofort
zu uns gelaufen kam, als er uns sah. Auch Almaz und Saida waren gleich auf uns aufmerksam
geworden. Als wir ihnen unsere Geschenke überreichten, wurden ihre Augen ganz groß und ein
Lächeln huschte über die Gesichter der Kinder.
Wir blieben noch eine Weile und aßen die leckeren Dinge, die Frau Engel zubereitet hatte.
Erst jetzt erfuhren wir, dass Khaled sich auf der Flucht aus Syrien das Bein gebrochen hatte, weshalb
er noch immer humpelte, und dass Saida sich an einem Stacheldrahtzaun verletzt hatte. Sie zeigte
uns die Narben am Kopf und an der Schulter. Mehrere Tage hatten sie auf ihrer Reise sogar hungern
müssen, wie uns Saida wissen ließ. Sie erzählten auch, wo sie gelebt hatten und wie schön es dort
gewesen war, bis der Krieg alles zerstörte. Zwischendurch lachten sie sogar und es war schön zu
sehen, dass sie ihre Lebensfreude behalten hatten.
Erst spät machten wir uns auf den Weg nach Hause und ich spürte zum ersten Mal, wie
gut es doch war, die eigenen vier Wände zu haben, wo man sich zu Hause fühlte. Auch Herr Engel
schien das bemerkt zu haben. „Es war gut, in der Fluchtunterkunft gewesen zu sein“, meinte er. „Das
Wichtigste aber ist, dass wir diesen Menschen weiter beistehen und ihnen zeigen, dass sie bei uns
willkommen sind.“
„Warum laden wir sie dann nicht zu uns ein?“, fragte ich.
Frau Engel nickte. „Das ist eine gute Idee!“, sagte sie. „Lasst uns in den nächsten Tagen ein
großes Willkommensfest feiern.“
Ja, liebes Tagebuch, ich weiß jetzt, warum so viele Menschen auf der Flucht sind und dass
wir ihnen Schutz geben und ihnen helfen müssen. Ich bin froh, ein Dach über dem Kopf zu haben
und denke mit Dankbarkeit an den Tag zurück, als wir von Familie Engel so herzlich aufgenommen
wurden. Diese Herzlichkeit möchte ich nun auch jedem Kind entgegenbringen, das auf der Flucht ist
und Schutz sucht. Und wenn ich sehe, wie ich sonst noch helfen kann, dann werde ich das tun.
Dein Helfer-Krokofil
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