Predigt am 4. Sonntag nach Trinitatis

Predigten – von Pastorin Julia Atze
4. Sonntag nach Trinitatis
28. Juni 2015
Lukas 6, 36-42
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Liebe Gemeinde,
Michel aus Lönneberga war ein wahrer Lausejunge, ständig hatte er Unfug im Kopf. So ein
Kind wünschte man niemandem. Michel war wild und eigensinnig und wollte am liebsten
über alle bestimmen: über seine kleine Schwester Ida, seine Eltern, alle in Lönneberga. Er
hatte die unmöglichsten Ideen und setzte diese auch noch in die Tat um. Seine kleine
Schwester Ida an der Fahnenstange vor dem Haus hochzuziehen, damit sie mal die Aussicht
genießen könnte, ist da nur ein Beispiel. Michels Streiche waren so gefürchtet, dass die
Leute aus Lönneberga sogar Geld sammelten, um es Michels Eltern zu geben, damit sie
Michel nach Amerika, so weit weg wie möglich, schicken könnten und sie alle endlich ihre
Ruhe hätten. Sie können sich vielleicht vorstellen, wie beliebt Michel bei meinen Söhnen
war und noch immer ist. So viele Streiche! Herrlich!
Mancher Unfug allerdings, den Michel so veranstaltete, hatte auch eine andere Seite.
Zum Beispiel als zu einem Weihnachtsfest Frau Maduskan, die Maduskan, wie sie nur
genannt wird, die Chefin im Armenhaus in Lönneberga, alle guten Speisen, die Michel und
Klein-Ida zu Weihnachten ins Armenhaus gebracht hatten, liebevoll von ihrer Mutter
zubereitet, einfach alleine verputzte und alle anderen Armenhäusler leer ausgingen. Diese
Dreistigkeit und Ungerechtigkeit konnte Michel nicht aushalten. Kurzentschlossen
veranstaltete er einfach ein Festessen für die Armen als seine Eltern nicht zuhause sind.
„Ja, aber Michel“, sagte Klein-Ida ängstlich, „bist du sicher, dass das kein Unfug ist?“
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Denn sie wusste, dass am nächsten Tag die ganze Familie aus Ingatorp zum Festessen
kommen sollte – und dann würde ja kein Essen mehr da sein.
Alfred, der Knecht, wurde auch ängstlich und glaubte, es sei vielleicht Unfug. Aber Michel
versicherte ihm, es sei wirklich keiner. Es sei eine gute Tat und Gottes Engel würden darüber
ebenso in die Hände klatschen, wie sie vorher über das elende Weihnachten im Armenhaus
geweint hatten.
Aber als die Bewohner des Armenhauses dann da sind und futtern und essen und
schmatzen und schlürfen – so ausgehungert waren sie – da sorgt sich Klein-Ida noch mehr:
Bist du sicher, dass das hier kein Unfug ist? Denk dran, morgen kommen die aus Ingatorp!“
sagt sie zu Michel.
„Die sind schon dick genug“, sagte Michel ruhig. „Es ist doch wohl besser, das Essen kommt
dahin, wo es was nützt.“
Liebe Gemeinde,
„Seid barmherzig, wie auch Gott barmherzig ist.“ So sagt Jesus im Lukasevangelium. Michel
aus Lönneberga oder vielmehr seine Erfinderin Astrid Lindgren hat das verstanden, wenn
sie Michel so handeln und eindeutig Position beziehen lässt. Er weiß, was er tut und er
weiß, dass er sich mit seinem Handeln Ärger einhandeln wird – ob es nun Unfug ist oder
nicht. Aber er ist sich sicher, dass sein Handeln richtig ist – vielleicht nicht in den Augen
seines Vaters, aber doch sicher in den Augen Gottes.
Michel hat Mitleid mit den Armenhausbewohnern und will ihnen helfen – der Preis, den er
dafür vielleicht zahlen muss, spielt da erst einmal keine Rolle.
Michel handelt barmherzig. Wer barmherzig ist, hat Mitgefühl.
Jesus stellt in seiner Rede dieses Mitgefühl, dieses Erbarmen als grundsätzliche Haltung
über seine strenge Rede vom Richten und Vergeben, von Balken und Splittern in unseren
und der anderen Augen. Mit einem weiten Herz sollen wir unsere Schuld und die von
unseren Schuldigern ansehen und uns auf die Suche machen, wie Versöhnung, Vergebung
und barmherziges Miteinander möglich werden kann.
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Das klingt jetzt vielleicht ein bisschen naiv, aber das ist es eigentlich nicht. Weit im Herz zu
sein, hat nicht unbedingt etwas mit Naivität zu tun, sondern ich finde vielmehr mit
Gutgläubigkeit. Und das ist ein großer Unterschied.
Denn wer naiv ist, glaubt an das Gute, weil er die Realität nicht erkennt.
Wer aber gutgläubig ist, glaubt daran, obwohl er die Welt kennt.
Viele Menschen nennen auch gutgläubige Menschen naiv. Oder weltfremd. Oder
unverbesserliche Idealisten. Oder gutgläubige Trottel. Diese Liste ließe sich endlos weiter
führen.
Aber ich glaube, eigentlich wünschen wir uns doch alle gutgläubig zu sein und ein weites
Herz zu haben. Und von anderen weitherzig und gutgläubig behandelt zu werden.
Denn Geschichten, in denen es nicht so zugeht, kennen wir doch alle zur Genüge:
-
Da sind Eltern, die ihre Kinder verstoßen haben, sich seit Jahren oder sogar
Jahrzehnten nicht mehr gesehen oder gesprochen haben und gar nicht mehr so
genau wissen, warum
-
Da leben Ehepaare im tiefen Groll aufeinander, Tag für Tag, und ersticken fast daran
-
Da gibt es erwachsene Kinder, die ihren Eltern die Kindheit bis ins hohe Alter
nachtragen und darüber vergessen zu leben;
-
Da gibt es Freundschaften, die zerbrechen, weil irgendetwas vorgefallen ist
-
Da gibt es Geschwister, die nicht mehr miteinander reden.
Auch diese Liste ließe sich endlos fortführen und es zieht einem geradezu das Herz
zusammen und alles wird eng. Von Barmherzigkeit und Weite im Herzen ist da nichts zu
spüren.
„Jetzt vertragt euch wieder“, fordern wir Kinder oft auf. „Eine muss den ersten Schritt
machen. Komm schon.“ Gilt das, was wir den Kindern beizubringen versuchen, nicht auch
noch für uns?
„Da kam es zum Bruch“, ist eine Aussage, die ich immer wieder mal zu hören bekomme.
Sicher, manchmal ist ein Beziehungsabbruch notwendig, um sich selbst zu schützen, die
Grenze klar genug zu ziehen. Doch oft sind solche Beziehungsabbrüche vielmehr ein
Ausdruck von Hilflosigkeit und bedeuten Schmerz – gerade auch für denjenigen, der die
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Beziehung abgebrochen hat. Es zerbricht etwas und es geht etwas kaputt dabei. Das tut im
Herzen weh. Ein Ereignis überschattet alles, was gewesen ist und sein könnte.
In solchen Situationen mit Barmherzigkeit, mit einem weiten Herz, mit Gutgläubigkeit zu
reagieren – das glaube ich, ist es, was Jesus meint. Und diese Barmherzigkeit sozusagen als
Überschrift über alles zu stellen.
Und das heißt nicht trauriger durchs Leben zu gehen, sondern auch fröhlicher und
entspannter. Es heißt zu verstehen, dass unser Leben nicht eindeutig und auch nicht immer
gerecht ist. Es heißt zu spüren, dass wir im Leben einander verletzten und trotzdem
miteinander weiter leben können. Ich kann anderen gönnen, was mir selbst gut tut. Denn
es heißt auch für mich, dass ich nicht genau mit dem Maßstab gemessen werde, den ich
verdiene. Die Gnade Gottes gilt auch mir.
Das hat wohl auch Michel aus Lönneberga gespürt. So hat er nach dem Festessen, als alle
wieder im Armenhaus waren und die selbstsüchtige Frau Maduskan ihm zufällig in die Falle
gegangen war – sie war in seine Wolfsgrube gestürzt – da hat er sie nicht weiter bestraft für
ihr gemeines und selbstsüchtiges Verhalten. Er hat sie nur dazu gebracht, Ihre
Ungerechtigkeit und Gier zuzugeben, dann hat er eine Leiter geholt und sie aus der Grube
klettern lassen.
Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist, sagt Jesus.
Michel konnte auch der Maduskan gegenüber barmherzig sein. Und am nächsten Tag
wieder den nächsten Unfug anzetteln.
Amen.