Klang der Schönheit

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DIE MUSIKSEITE
Tonträger
„Zehn Kartons“
Otto Schellinger (Nordpolrecords)
In Straubing gibt es den in jeder Hinsicht ganz wunderbaren
Musikclub „The Raven“. Der
liegt zwar etwas versteckt
in
einem
Hinterhof an
der
Rosengasse,
ist
aber
trotzdem das kulturelle Epizentrum der Stadt. Zwei, drei
Konzerte finden hier pro Woche
statt, und in den zehn Jahren,
die es das „Raven“ jetzt gibt,
waren da ganz wenige dabei,
die nur halbgut waren. Trotzdem – und das sagt natürlich
mehr über die allgemeine Wertschätzung von Livemusik als
über deren tatsächliche Qualität – ist das „Raven“, in dem es
ab 120, 130 Zuschauern schon
eng werden kann, für manche
der hier auftretenden Bands
und Künstler fast eine Nummer
zu groß. Vor zwei Wochen stand
mit Otto Schellinger allerdings
ein Musiker nebst Miniband auf
der Bühne, für den die Örtlichkeit in seiner Heimatstadt
schon an dem Abend eigentlich
zu klein war. Und das Debütalbum, das er an dem Abend live
vorstellte, sollte dafür sorgen,
dass Otto-Schellinger-Konzerte
bald zu noch angesagteren
Events werden – und die Clubs
und Hallen entsprechend geräumiger. „Zehn Kartons“, so
der Titel des Werks, ist nämlich
schlicht und ergreifend ein musikalischer Geniestreich.
Ein paar akustische und
elektrische Gitarren, ein Wurlitzer-E-Piano,
Schlagzeug,
Bass und darüber eine brillante
und ungemein variable Stimme
irgendwo zwischen Blumfeld,
Coldplay und Jeff Buckley:
Mehr braucht Schellinger, der
mit Vornamen eigentlich Andreas heißt, doch von seinen
Freunden seit jeher Otto genannt wird, nicht, um den Hörer vom allerersten Ton an in
seinen Bann zu ziehen. Dazu
die Texte – Bestandsaufnahmen
des Alltags (nicht mehr ganz)
junger Menschen: Partys voller
Egoisten, versumpfte Nächte
und verpasste Chancen in Eckkneipen, scheiternde Fernbeziehungen oder, wie im Titelstück des Albums, die Feststellung, dass das Wesentliche im
Leben manchmal in zehn Umzugskartons passt.
Wenn man unbedingt das
Haar aus der Suppe picken
möchte: Indie, wie uns die Plattenfirma oder der Künstler
selbst glauben machen will, ist
„Zehn Kartons“ eher nicht. Dafür – und das ist die eigentlich
schwerere Disziplin – lupenreiner, höchst intelligenter Pop.
Keine Ahnung, ob das ein Kompliment ist, aber: Der letzte
Straubinger (im weiteren Sinn),
der ein vergleichbar gekonntes
und originelles Debüt vorlegte,
war ein gewisser Hans-Jürgen
Buchner mit „Haindling 1“ in
der Pop-Prähistorie der 80er.
Mit dem Haindling-Meister
Buchner eint Schellinger außerdem, dass er auf seinem Debüt praktisch alle Instrumente
wie Bass, Gitarre, Wurlitzer,
Piano und Hammond-Orgel
spielt und logischerweise auch
selbst singt. Im Fall von Otto
Schellinger übrigens nicht etwa
im Dialekt, obwohl Mundart im
Moment ja (mal wieder) schwer
angesagt ist und es für einen
echten Niederbayern auch nicht
völlig abwegig wäre. Die Wahl
des Hochdeutschen könnte ein
Hinweis darauf sein, dass
Schellinger einfach Größeres
im Blick hat. Und zwar nicht
bloß Größeres als das „Raven“
und Straubing.
– sob –
Freitag, 19. Februar 2016
Blumfeld sind Geschichte, aber Jochen Distelmeyer ist noch
da – mit nachträglichem Soundtrack zu seinem Debütroman
Klang der Schönheit
S
eit neun Jahren sind Blumfeld
Geschichte. Die Band um Sänger, Texter und Komponist Jochen Distelmeyer war einst das
spannendste musikalische Underground-Phänomen im Deutschland
der frühen und mittleren 90er. Und
auch später, als bei den Hamburgern der Wohlklang Einzug hielt,
man Pop in seiner Reinkultur spielte, war es Distelmeyers mächtige
Lyrik, die stets neue Anhänger fand.
Verwunderlich also, dass der 1967
geborene Musiker nun mit einem
Coveralbum ankommt, eine Art
nachgeschobener Soundtrack zu
seinem Debütroman „Otis“ aus dem
letzten Jahr. Gleichzeitig ist „Songs
From The Bottom, Vol. 1“ eine Reflexion des Sängers über die Schönheit von Popmusik an sich. Ein Thema, das auch im Interview eine große Rolle einnimmt.
Erkennt man einen guten Popsong in jedem Arrangement? Also
auch dann, wenn er nur mit Gitarre
und Stimme vorgetragen wird?
Jo ch e n D i s t e l m e ye r : Ich kann
mir schon Popsongs vorstellen, die
man nicht nur zur Gitarre oder zum
Klavier singen kann – und die trotzdem Stücke von Rang und Gewicht
sind. Songs von Michael Jackson
funktionieren vielleicht nur in dem
Gewand, in dem sie aufgenommen
wurden. Trotzdem sind es große
Popsongs.
Wie haben Sie dann die Lieder für
das Album ausgewählt?
D i s t e l m e ye r : Das hat mit der
Lesereise für meinen Roman zu tun.
Da spielte ich Songs – eben nur mit
Stimme und Gitarre, die dem Text
noch andere Perspektiven hinzufügen sollten. Der Roman lehnt sich ja
an Homers Odyssee an. So waren
viele Stücke, die ich auf der Lesung
gespielt habe, für mich thematisch
verbunden mit dem Roman. Oder
sie haben mich, als ich das Buch geschrieben habe, begleitet. Und dieses Einfache im Vortrag, etwas wie
mit einer Lyra oder Leier vorzutragen, wie ein Blues- oder Countrysänger, fand ich naheliegend.
Ist „Songs From The Bottom“
also nur ein nachträglicher Soundtrack zum Roman? Oder doch auch
eine Kollektion persönlicher Lieblingslieder?
D i s t e l m e ye r : Es ist so eine Art
Mischung. Es gibt Stücke, die ich
deswegen gespielt habe, weil sie einen Bezug zum Roman haben. Teilweise sind es Lieder, die mich einfach musikalisch zum damaligen
Zeitpunkt interessierten. Grundsätzlich ist das Album aber eine Art
Dankeschön an Fans und Leute, die
meine Sachen immer verfolgt haben. Die mich nach Ende der Lesung angehauen haben, ob es die
Stücke irgendwo zu kaufen gäbe.
Welcher „Bottom“ eint denn diese
Lieder? Muss ein guter Popsong, der
Millionen Leute erreicht, immer aus
einem tiefen Seelengrund kommen?
D i s t e l m e ye r : Nein. Aber er
muss diesen Grund beim Hörer erreichen. Selbst vorgetäuschte Tiefe
kann ein Gefühl auslösen, das uns
tanzen oder weinen lässt. Es ist ja
eine Qualität von Popmusik, dass
sie auch totale Oberfläche sein kann
und trotzdem zutiefst bewegend.
Ich glaube, dass selbst am Reißbrett
entworfene, marktförmig zurechtgeschnittene Songs diese Erfahrung
im Menschen auslösen können.
Warum spielt man eigentlich Coverversionen? Und müssen die immer neue Aspekte am Lied herausarbeiten, um interessant zu sein?
D i s t e l m e ye r : Ich kann nur sagen, warum ich Songs anderer Leute spiele. Manchmal ist es einfach
der Neid, dass jemandem ein Stück
geglückt ist, das man selbst gerne
geschrieben hätte. Man kann das
Stück nicht nochmal schreiben –
möchte es sich aber trotzdem einverleiben. Dann gibt es Lieder, da
will ich einfach wissen, wie die das
gemacht haben, weil das Lied so
elegant ist. Manchmal spiele ich
auch etwas als Verbeugung vor einer Lebensleistung.
ge Einstellung. Aber mir zu kontrolliert.
Also steckt bei einer Coverversion
immer „mehr“ dahinter?
D i s t e l m e ye r : Nein. Es gibt
auch solche Stücke wie The Verves
„Bitter Sweet Symphony“, das ich
auf dem Album spiele. Das war einfach so ein schnelles: Oh, da habe
ich Bock drauf. Mache ich, zack, ist
der richtige Song zum richtigen
Zeitpunkt – mit einem hammermäßigen Text.
Haben Sie musikalisch durch die
Arbeit am Roman und „Songs From
The Bottom“ etwas Neues gelernt?
D i s t e l m e ye r : Bei einigen Stücken, die so ein bisschen countryesk
anmuten, war es für mich selbst eine
Überraschung, dass ich einen neuen
Zugang zu Country gefunden habe den ich eigentlich all die Jahre zuvor nie hatte. Erst mit dem Schreiben des Romans bekam ich den Eindruck, Country-Musik für mich geschnallt zu haben. Anders als beim
Blues, der sich mir sofort erschlossen hat, konnte ich früher zwar gute
Country-Songs erkennen, aber das
Genre an sich hat sich mir nicht erschlossen.
„Eine Band wie Arcade
Fire, die als neu gefeiert
wird, ist im Prinzip nur
eine Mischung aus Bruce
Springsteen und Echo &
The Bunnymen“
Was ist Ihre eigene Definition eines guten Songs?
D i s t e l m e ye r : Ich habe keine.
Wenn ich einen höre, weiß ich, dass
er gut ist. Einfachheit und Klarheit
spielen eine Rolle. Ich stehe auch
auf eine gewisse Eleganz. Ich habe
Kriterien für mich, kann sie aber
nicht bewusst fassen. Das müsste
ich am Stück selbst beurteilen. . .
Spielt es eine Rolle, wie alt Songs
sind? Viele glauben, dass früher bessere Lieder geschrieben wurden.
D i s t e l m e ye r : Ich glaube das
nicht. Grundsätzlich halte ich es für
einen Irrglauben, davon auszugehen, dass Rock’n’Roll oder Pop zu
irgendeinem Zeitpunkt per se originär oder visionär waren. Alles baute
immer auf irgendetwas auf. Pop ist
viel mehr Folklore-Kultur, als wir
denken. Und manchmal werden
auch die falschen Leute zu Propheten oder Langweilern erklärt. Viele
Menschen machen sich etwa über
Coldplay lustig...
Sie auch?
D i s t e l m e ye r : Ich bin kein
Fan von denen, finde aber, dass
diesem Chris Martin schon
eine neue Art von, sagen wir,
Stadionrock-Nummern gelungen ist. Anders als Franz Ferdinand oder irgendwelchen
anderen Retrobands, die einfach nur alte Dinge neu kombiniert haben. Auch eine Band wie
Arcade Fire, die als neuartig gefeiert wurde, ist im Prinzip
eine Mischung aus Bruce
Springsteen und Echo
& The Bunnymen.
War Pop früher
gefährlicher?
Distelmeye r : Das ist auch
so ein Klischee.
Sicher machen
viele Hits heute
den Eindruck,
dass sie aus einer ästhetisch
unbefriedigenden Herangehensweise
entstanden
sind. Da stehen ein halbes
Dutzend Autoren, und es
offenbart sich
fast so eine
Art Controller-Mentalität,
die darin besteht, dass man
bloß
nichts
falsch machen
will. Viele Musiker wollen heute,
verständlicherweise, gewisse Risiken
vermeiden, die zum
Beispiel in den Tod
mit 27 oder etwas anderes münden können.
Das ist eine vernünfti-
Haben gute Songs ein Geheimnis,
das man nicht ergründen kann?
Glauben Sie an diese Theorie?
D i s t e l m e ye r : Man kann das
Geheimnis erklären. Aber es verwandelt sich dadurch schon wieder
in ein anderes Geheimnis. Ich glaube, das Geheimnis eines guten
Songs ist das Geheimnis der Menschen selbst. Mit jedem Song, Buch
oder Film nehmen wir Kontakt zu
der Schönheit des Menschen dahinter auf. Das ist der wirkliche Transfer, der da stattfindet. Wir lieben
zwar den Song. Was wir
nicht sagen, ist aber,
dass wir in Wirklichkeit ihn oder
sie lieben. Also
die das singen,
spielen
oder
was auch immer. Wir beglaubigen den
Künstler in
seiner Schönheit. Und damit uns selbst.
Distelmeyer
■
Acts & Facts
Vor gut 50 Jahren herrschte
Furcht in der amerikanischen Plattenindustrie. Die Furcht, es gäbe
kein Vorbeikommen mehr an diesen
Briten, an den Beatles und den Rolling Stones. Alleine die Beach Boys
konnten es nicht richten, die alte
Pop-Vorherrschaft
wiederherzustellen. Nach mehreren Auflösungen und Neuformationen gibt es die
damals gecastete TV-Serienband
The Monkees noch immer, mit „Good
Times!“ soll es in diesem Jahr sogar
ein Jubiläumsalbum geben. Und
zwei Briten waren scheinbar dabei
behilflich: Noel Gallagher und Paul
Weller sollen laut Medienberichten
gemeinsam einen Song für die Platte geschrieben haben. Von den Original-Monkees sind nur noch Micky
Dolenz und Peter Tork dabei. Michael
Nesmith beteiligt sich nicht mehr
an seiner alten Band, Davy Jones
starb 2012. The Monkees verkauften
über 75 Millionen Tonträger, ihr
größter Hits war „I’m A Believer“.
Monkees
• Der „Boss“ bittet um Aufmerksamkeit: Ab 27. September soll
„Born To Run“ weltweit verkauft
werden. Dabei handelt es sich um
die erste offizielle Autobiografie
von Bruce Springsteen, benannt nach
seiner ikonischen Platte aus dem
Jahr 1975. Darin schreibe der
66-Jährige über seine Kindheit in
Freehold, New Jersey, und darüber,
wie „Poesie, Gefahren und Dunkelheit seine Vorstellungskraft prägten“, heißt es auf der Webseite des
Künstlers. Weiter gehe es um die
lange Zeit, in der er sich als PubMusiker über Wasser hielt, über den
Aufstieg der E Street Band und all die
persönlichen Schwierigkeiten, die
er in seinen Songs immer wieder anschneidet. „Über mich selbst zu
schreiben, war eine lustige Sache“,
erklärt Springsteen. „Aber bei einem solchen Projekt gibt der Autor
ein Versprechen ab: dem Leser sein
Inneres zu zeigen.“ Seit 2009
schrieb der Rockstar an dem Buch.
„Born To Run“ wird als Hardcover,
E-Book und als Hörbuch erscheinen. Aktuell befindet sich Bruce
Springsteen auf Tour mit seiner
E Street Band, solo will er in diesem
Jahr auch noch von Stadt zu Stadt
ziehen und ein Album veröffentlichen. Deutschland-Termine für seine Konzerttätigkeiten sind noch
keine bekannt.• Man hatte eigentlich schon nicht mehr richtig dran
geglaubt – und doch wurde es
wahr: Vergangenes Jahr kam es
zur heiß ersehnten Reunion der
Libertines mit „Anthems For
Doomed Youth“. Die deutschen Fans goutierten die
Rückkehr mit Platz neun in
den Albumcharts. Nach all
den
Drogeneskapaden
scheinbar
wiedererstarkt,
will nun Pete Doherty auch
seine 2009 mit „Grace /
Wastelands“ aufgenommene Solokarriere wiederbeleben. Wie eine kanadische
Musikzeitschrift erfahren
haben will, arbeite der Brite
gerade an einer neuen Platte, der Arbeitstitel sei
„Flags Of The Old Regime“.
2015 veröffentlichte der
36-Jährige eine Single mit
demselben Namen zu Gunsten der Amy Winheouse Foundation. Auch zum diesjährigen
Record Store Day im April
werde Doherty wohl eine SplitSingle mit James Johnston veröffentlichen, einem Gitarristen der
Band von PJ Harvey.
Die Musikseite
Rainer Sobek – [email protected]