8A6LniQo 36 ■ DIE MUSIKSEITE Tonträger „Zehn Kartons“ Otto Schellinger (Nordpolrecords) In Straubing gibt es den in jeder Hinsicht ganz wunderbaren Musikclub „The Raven“. Der liegt zwar etwas versteckt in einem Hinterhof an der Rosengasse, ist aber trotzdem das kulturelle Epizentrum der Stadt. Zwei, drei Konzerte finden hier pro Woche statt, und in den zehn Jahren, die es das „Raven“ jetzt gibt, waren da ganz wenige dabei, die nur halbgut waren. Trotzdem – und das sagt natürlich mehr über die allgemeine Wertschätzung von Livemusik als über deren tatsächliche Qualität – ist das „Raven“, in dem es ab 120, 130 Zuschauern schon eng werden kann, für manche der hier auftretenden Bands und Künstler fast eine Nummer zu groß. Vor zwei Wochen stand mit Otto Schellinger allerdings ein Musiker nebst Miniband auf der Bühne, für den die Örtlichkeit in seiner Heimatstadt schon an dem Abend eigentlich zu klein war. Und das Debütalbum, das er an dem Abend live vorstellte, sollte dafür sorgen, dass Otto-Schellinger-Konzerte bald zu noch angesagteren Events werden – und die Clubs und Hallen entsprechend geräumiger. „Zehn Kartons“, so der Titel des Werks, ist nämlich schlicht und ergreifend ein musikalischer Geniestreich. Ein paar akustische und elektrische Gitarren, ein Wurlitzer-E-Piano, Schlagzeug, Bass und darüber eine brillante und ungemein variable Stimme irgendwo zwischen Blumfeld, Coldplay und Jeff Buckley: Mehr braucht Schellinger, der mit Vornamen eigentlich Andreas heißt, doch von seinen Freunden seit jeher Otto genannt wird, nicht, um den Hörer vom allerersten Ton an in seinen Bann zu ziehen. Dazu die Texte – Bestandsaufnahmen des Alltags (nicht mehr ganz) junger Menschen: Partys voller Egoisten, versumpfte Nächte und verpasste Chancen in Eckkneipen, scheiternde Fernbeziehungen oder, wie im Titelstück des Albums, die Feststellung, dass das Wesentliche im Leben manchmal in zehn Umzugskartons passt. Wenn man unbedingt das Haar aus der Suppe picken möchte: Indie, wie uns die Plattenfirma oder der Künstler selbst glauben machen will, ist „Zehn Kartons“ eher nicht. Dafür – und das ist die eigentlich schwerere Disziplin – lupenreiner, höchst intelligenter Pop. Keine Ahnung, ob das ein Kompliment ist, aber: Der letzte Straubinger (im weiteren Sinn), der ein vergleichbar gekonntes und originelles Debüt vorlegte, war ein gewisser Hans-Jürgen Buchner mit „Haindling 1“ in der Pop-Prähistorie der 80er. Mit dem Haindling-Meister Buchner eint Schellinger außerdem, dass er auf seinem Debüt praktisch alle Instrumente wie Bass, Gitarre, Wurlitzer, Piano und Hammond-Orgel spielt und logischerweise auch selbst singt. Im Fall von Otto Schellinger übrigens nicht etwa im Dialekt, obwohl Mundart im Moment ja (mal wieder) schwer angesagt ist und es für einen echten Niederbayern auch nicht völlig abwegig wäre. Die Wahl des Hochdeutschen könnte ein Hinweis darauf sein, dass Schellinger einfach Größeres im Blick hat. Und zwar nicht bloß Größeres als das „Raven“ und Straubing. – sob – Freitag, 19. Februar 2016 Blumfeld sind Geschichte, aber Jochen Distelmeyer ist noch da – mit nachträglichem Soundtrack zu seinem Debütroman Klang der Schönheit S eit neun Jahren sind Blumfeld Geschichte. Die Band um Sänger, Texter und Komponist Jochen Distelmeyer war einst das spannendste musikalische Underground-Phänomen im Deutschland der frühen und mittleren 90er. Und auch später, als bei den Hamburgern der Wohlklang Einzug hielt, man Pop in seiner Reinkultur spielte, war es Distelmeyers mächtige Lyrik, die stets neue Anhänger fand. Verwunderlich also, dass der 1967 geborene Musiker nun mit einem Coveralbum ankommt, eine Art nachgeschobener Soundtrack zu seinem Debütroman „Otis“ aus dem letzten Jahr. Gleichzeitig ist „Songs From The Bottom, Vol. 1“ eine Reflexion des Sängers über die Schönheit von Popmusik an sich. Ein Thema, das auch im Interview eine große Rolle einnimmt. Erkennt man einen guten Popsong in jedem Arrangement? Also auch dann, wenn er nur mit Gitarre und Stimme vorgetragen wird? Jo ch e n D i s t e l m e ye r : Ich kann mir schon Popsongs vorstellen, die man nicht nur zur Gitarre oder zum Klavier singen kann – und die trotzdem Stücke von Rang und Gewicht sind. Songs von Michael Jackson funktionieren vielleicht nur in dem Gewand, in dem sie aufgenommen wurden. Trotzdem sind es große Popsongs. Wie haben Sie dann die Lieder für das Album ausgewählt? D i s t e l m e ye r : Das hat mit der Lesereise für meinen Roman zu tun. Da spielte ich Songs – eben nur mit Stimme und Gitarre, die dem Text noch andere Perspektiven hinzufügen sollten. Der Roman lehnt sich ja an Homers Odyssee an. So waren viele Stücke, die ich auf der Lesung gespielt habe, für mich thematisch verbunden mit dem Roman. Oder sie haben mich, als ich das Buch geschrieben habe, begleitet. Und dieses Einfache im Vortrag, etwas wie mit einer Lyra oder Leier vorzutragen, wie ein Blues- oder Countrysänger, fand ich naheliegend. Ist „Songs From The Bottom“ also nur ein nachträglicher Soundtrack zum Roman? Oder doch auch eine Kollektion persönlicher Lieblingslieder? D i s t e l m e ye r : Es ist so eine Art Mischung. Es gibt Stücke, die ich deswegen gespielt habe, weil sie einen Bezug zum Roman haben. Teilweise sind es Lieder, die mich einfach musikalisch zum damaligen Zeitpunkt interessierten. Grundsätzlich ist das Album aber eine Art Dankeschön an Fans und Leute, die meine Sachen immer verfolgt haben. Die mich nach Ende der Lesung angehauen haben, ob es die Stücke irgendwo zu kaufen gäbe. Welcher „Bottom“ eint denn diese Lieder? Muss ein guter Popsong, der Millionen Leute erreicht, immer aus einem tiefen Seelengrund kommen? D i s t e l m e ye r : Nein. Aber er muss diesen Grund beim Hörer erreichen. Selbst vorgetäuschte Tiefe kann ein Gefühl auslösen, das uns tanzen oder weinen lässt. Es ist ja eine Qualität von Popmusik, dass sie auch totale Oberfläche sein kann und trotzdem zutiefst bewegend. Ich glaube, dass selbst am Reißbrett entworfene, marktförmig zurechtgeschnittene Songs diese Erfahrung im Menschen auslösen können. Warum spielt man eigentlich Coverversionen? Und müssen die immer neue Aspekte am Lied herausarbeiten, um interessant zu sein? D i s t e l m e ye r : Ich kann nur sagen, warum ich Songs anderer Leute spiele. Manchmal ist es einfach der Neid, dass jemandem ein Stück geglückt ist, das man selbst gerne geschrieben hätte. Man kann das Stück nicht nochmal schreiben – möchte es sich aber trotzdem einverleiben. Dann gibt es Lieder, da will ich einfach wissen, wie die das gemacht haben, weil das Lied so elegant ist. Manchmal spiele ich auch etwas als Verbeugung vor einer Lebensleistung. ge Einstellung. Aber mir zu kontrolliert. Also steckt bei einer Coverversion immer „mehr“ dahinter? D i s t e l m e ye r : Nein. Es gibt auch solche Stücke wie The Verves „Bitter Sweet Symphony“, das ich auf dem Album spiele. Das war einfach so ein schnelles: Oh, da habe ich Bock drauf. Mache ich, zack, ist der richtige Song zum richtigen Zeitpunkt – mit einem hammermäßigen Text. Haben Sie musikalisch durch die Arbeit am Roman und „Songs From The Bottom“ etwas Neues gelernt? D i s t e l m e ye r : Bei einigen Stücken, die so ein bisschen countryesk anmuten, war es für mich selbst eine Überraschung, dass ich einen neuen Zugang zu Country gefunden habe den ich eigentlich all die Jahre zuvor nie hatte. Erst mit dem Schreiben des Romans bekam ich den Eindruck, Country-Musik für mich geschnallt zu haben. Anders als beim Blues, der sich mir sofort erschlossen hat, konnte ich früher zwar gute Country-Songs erkennen, aber das Genre an sich hat sich mir nicht erschlossen. „Eine Band wie Arcade Fire, die als neu gefeiert wird, ist im Prinzip nur eine Mischung aus Bruce Springsteen und Echo & The Bunnymen“ Was ist Ihre eigene Definition eines guten Songs? D i s t e l m e ye r : Ich habe keine. Wenn ich einen höre, weiß ich, dass er gut ist. Einfachheit und Klarheit spielen eine Rolle. Ich stehe auch auf eine gewisse Eleganz. Ich habe Kriterien für mich, kann sie aber nicht bewusst fassen. Das müsste ich am Stück selbst beurteilen. . . Spielt es eine Rolle, wie alt Songs sind? Viele glauben, dass früher bessere Lieder geschrieben wurden. D i s t e l m e ye r : Ich glaube das nicht. Grundsätzlich halte ich es für einen Irrglauben, davon auszugehen, dass Rock’n’Roll oder Pop zu irgendeinem Zeitpunkt per se originär oder visionär waren. Alles baute immer auf irgendetwas auf. Pop ist viel mehr Folklore-Kultur, als wir denken. Und manchmal werden auch die falschen Leute zu Propheten oder Langweilern erklärt. Viele Menschen machen sich etwa über Coldplay lustig... Sie auch? D i s t e l m e ye r : Ich bin kein Fan von denen, finde aber, dass diesem Chris Martin schon eine neue Art von, sagen wir, Stadionrock-Nummern gelungen ist. Anders als Franz Ferdinand oder irgendwelchen anderen Retrobands, die einfach nur alte Dinge neu kombiniert haben. Auch eine Band wie Arcade Fire, die als neuartig gefeiert wurde, ist im Prinzip eine Mischung aus Bruce Springsteen und Echo & The Bunnymen. War Pop früher gefährlicher? Distelmeye r : Das ist auch so ein Klischee. Sicher machen viele Hits heute den Eindruck, dass sie aus einer ästhetisch unbefriedigenden Herangehensweise entstanden sind. Da stehen ein halbes Dutzend Autoren, und es offenbart sich fast so eine Art Controller-Mentalität, die darin besteht, dass man bloß nichts falsch machen will. Viele Musiker wollen heute, verständlicherweise, gewisse Risiken vermeiden, die zum Beispiel in den Tod mit 27 oder etwas anderes münden können. Das ist eine vernünfti- Haben gute Songs ein Geheimnis, das man nicht ergründen kann? Glauben Sie an diese Theorie? D i s t e l m e ye r : Man kann das Geheimnis erklären. Aber es verwandelt sich dadurch schon wieder in ein anderes Geheimnis. Ich glaube, das Geheimnis eines guten Songs ist das Geheimnis der Menschen selbst. Mit jedem Song, Buch oder Film nehmen wir Kontakt zu der Schönheit des Menschen dahinter auf. Das ist der wirkliche Transfer, der da stattfindet. Wir lieben zwar den Song. Was wir nicht sagen, ist aber, dass wir in Wirklichkeit ihn oder sie lieben. Also die das singen, spielen oder was auch immer. Wir beglaubigen den Künstler in seiner Schönheit. Und damit uns selbst. Distelmeyer ■ Acts & Facts Vor gut 50 Jahren herrschte Furcht in der amerikanischen Plattenindustrie. Die Furcht, es gäbe kein Vorbeikommen mehr an diesen Briten, an den Beatles und den Rolling Stones. Alleine die Beach Boys konnten es nicht richten, die alte Pop-Vorherrschaft wiederherzustellen. Nach mehreren Auflösungen und Neuformationen gibt es die damals gecastete TV-Serienband The Monkees noch immer, mit „Good Times!“ soll es in diesem Jahr sogar ein Jubiläumsalbum geben. Und zwei Briten waren scheinbar dabei behilflich: Noel Gallagher und Paul Weller sollen laut Medienberichten gemeinsam einen Song für die Platte geschrieben haben. Von den Original-Monkees sind nur noch Micky Dolenz und Peter Tork dabei. Michael Nesmith beteiligt sich nicht mehr an seiner alten Band, Davy Jones starb 2012. The Monkees verkauften über 75 Millionen Tonträger, ihr größter Hits war „I’m A Believer“. Monkees • Der „Boss“ bittet um Aufmerksamkeit: Ab 27. September soll „Born To Run“ weltweit verkauft werden. Dabei handelt es sich um die erste offizielle Autobiografie von Bruce Springsteen, benannt nach seiner ikonischen Platte aus dem Jahr 1975. Darin schreibe der 66-Jährige über seine Kindheit in Freehold, New Jersey, und darüber, wie „Poesie, Gefahren und Dunkelheit seine Vorstellungskraft prägten“, heißt es auf der Webseite des Künstlers. Weiter gehe es um die lange Zeit, in der er sich als PubMusiker über Wasser hielt, über den Aufstieg der E Street Band und all die persönlichen Schwierigkeiten, die er in seinen Songs immer wieder anschneidet. „Über mich selbst zu schreiben, war eine lustige Sache“, erklärt Springsteen. „Aber bei einem solchen Projekt gibt der Autor ein Versprechen ab: dem Leser sein Inneres zu zeigen.“ Seit 2009 schrieb der Rockstar an dem Buch. „Born To Run“ wird als Hardcover, E-Book und als Hörbuch erscheinen. Aktuell befindet sich Bruce Springsteen auf Tour mit seiner E Street Band, solo will er in diesem Jahr auch noch von Stadt zu Stadt ziehen und ein Album veröffentlichen. Deutschland-Termine für seine Konzerttätigkeiten sind noch keine bekannt.• Man hatte eigentlich schon nicht mehr richtig dran geglaubt – und doch wurde es wahr: Vergangenes Jahr kam es zur heiß ersehnten Reunion der Libertines mit „Anthems For Doomed Youth“. Die deutschen Fans goutierten die Rückkehr mit Platz neun in den Albumcharts. Nach all den Drogeneskapaden scheinbar wiedererstarkt, will nun Pete Doherty auch seine 2009 mit „Grace / Wastelands“ aufgenommene Solokarriere wiederbeleben. Wie eine kanadische Musikzeitschrift erfahren haben will, arbeite der Brite gerade an einer neuen Platte, der Arbeitstitel sei „Flags Of The Old Regime“. 2015 veröffentlichte der 36-Jährige eine Single mit demselben Namen zu Gunsten der Amy Winheouse Foundation. Auch zum diesjährigen Record Store Day im April werde Doherty wohl eine SplitSingle mit James Johnston veröffentlichen, einem Gitarristen der Band von PJ Harvey. Die Musikseite Rainer Sobek – [email protected]
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