Titelgeschichte: Wenn einer eine Reise tut... A. Wenn einer eine Reise tut... Inklusion auf Jersey Kanalinsel Jersey: Vom Golfstrom verwöhnt... Unser Urlaub dieses Jahr hat mich in den angelsächsischen Kulturkreis geführt. Genauer: Auf die Kanalinsel Jersey. Also in jenes sagenumwobene Ausland, von dem es immer heißt: Ja, dort, hinter den sieben Bergen, bei den sieben Zwergen – da ist man schon viel weiter als bei uns... Und "indeed", wie der Engländer jetzt vielleicht sagen würde: Auf Jersey gab es für uns nicht nur Sonne und Palmenstrand, Meerblick und Gezeiten, Linksverkehr und Wasser heiß und kalt streng getrennt aus verschiedenen Hähnen – sondern auch einen Ausblick auf das Jahr 2020 in Sachen Barrierefreiheit für Menschen mit Hörschädigung. Was einem gleich ins Auge fällt... Dass Jersey in Sachen Rollstuhlfahrer ganz anders aufgestellt ist als unser gutes, altes Deutschland, fällt einem schon recht früh ins Auge. Aber erst am zweiten Tag erblickte ich etwas, was meine Neugier unmittelbar herausforderte. Es war auf unserer abendlichen Pirsch entlang der Strandpromenade. (Für die, die es wissen wollen: es war gerade Flut, höchster DSB Köln – Info-Brief 5/2011 7 Titelgeschichte: Wenn einer eine Reise tut... 8 Wasserstand. Das Wasser stand bis zu Ufermauer. Der Gezeitenunterschied beträgt auf Jersey tatsächlich bis zu 12 Meter.) Wir waren auf der Suche nach einem geeigneten Lokal für das Abendessen. (Am Abend vorher hatten wir im Restaurant unseres Hotels zu zweit knapp 80 Pfund verbrannt. Bei einem nicht zu opulenten Mahl aus der Sterneküche des Sternekochs. Vegetarier und Sternekoch: schon das passt nicht zusammen. Und leisten können wir uns so was auch nicht ständig...) Und passieren eine Pizzeria. (Italienische Küche – für Vegetarier immer eine dankbare Lokalität. Ach, England, deine vegetarisch gespickten Speisekarten! – Aber das ist jetzt ein anderes Thema.) ... und worauf man erst einmal stoßen muss Da entdecke ich im Fenster dieses Pizza-Lokals, nein: auf der Ladentür, direkt neben dem Handgriff – da entdecke ich dort: jenes durchgestrichene Ohr, ein kleines Schildchen mit dem Symbol, was uns Menschen mit unseren Sorgenkinderohren so treu und konstant durchs Leben begleitet. Das will ich wissen! Was steckt da wohl hinter? Das will ich wissen! Da müssen wir rein! – Also lassen wir uns von der Kellnerin einen Tisch für zwei Personen anweisen. (Wir sind ja quasi in England.) Und noch während sie uns die Speisekarten in die Hand gibt, oute ich mich ungelenk als "hearing handicapped" (wie hilflos ist man doch plötzlich in einer fremden Sprache). Und sie muss sich meiner Frage stellen: Was hat es mit dem Hinweis an der Tür auf sich? Wir zwei, in der Pizzeria, mit der Entdeckung des Tages... DSB Köln – Info-Brief 5/2011 Titelgeschichte: Wenn einer eine Reise tut... So freundlich sie ist: Sie kann es uns nicht sagen So freundlich sie nun ist und lächelt, unsere Bedienung: Sie kann es uns nicht sagen. Aber sie wird den Manager fragen. Und der lässt sich nicht nur fragen, sondern gleich auch selbst blicken. Binnen einer guten Minute erscheint er an unserem Tisch. Mit geschäftiger Miene strahlt er über das ganze Gesicht – und hält ein Soundshuttle in der Hand. Aber der Manager! Ein Soundshuttle! Jenes kompakte Gerät also, jene tragbare Induktionsschleife, die im Volksmund aufgrund ihrer Form gerne auch "Toaster" genannt wird. Damit hätte ich im Traum nicht gerechnet. Und unser Manager entpuppt sich als Meister seines Fachs. Während ich meine T-Spule einschalte, erklärt er uns kurz und kompetent die Funktion des Geräts und platziert es anschließend korrekt und richtig ausgerichtet (Mikrofon in Richtung meiner Frau...) mitten auf unseren Tisch. Überraschung: Das Gerät ist ausgesprochen hilfreich Und, Überraschung: Das Gerät ist ausgesprochen hilfreich. In dem dicht bestuhlten, voll besetzten und wie üblich reichlich halligen Gastraum erleichtert es uns in den nächsten eineinhalb Stunden wirksam unsere Kommunikation. Auf Entdeckungstour Mit diesem Erlebnis war mein Interesse geweckt. Die folgenden Tage unseres Urlaubs wurden eine regelrechte Entdeckungstour in Sachen Inklusion. (Dank an meine Frau: Sie trug es mit Fassung.) Und ich wurde fündig... Informationsschalter bei Bus und Bahn Noch halbwegs unsensationell war die Entdeckung des durchgestrichenen Ohrs neben den Informationsschaltern am (Bus-) Bahnhof. (Im Gegensatz zu Lummerland gibt es auf Jersey keine Eisenbahn.) Da sind wir bei uns ja inzwischen auch auf einem guten Weg: Deutsche Bahn und auch die Kölner Verkehrsbetriebe sind hier schon gut nachgezogen. Wir müssen es nur noch für uns entdecken (und zum Teil noch ans Funktionieren bringen – siehe "Inklusion in Köln" in diesem Heft.) Was sonst noch? Deshalb wurde ich anspruchsvoller. Ich wollte wissen: Was bieten private Unternehmen und Einrichtungen auf Jersey sonst noch so für Menschen mit Hörschädigung? Die Pizzeria sollte ja schließlich nicht die einzige Entdeckung bleiben. DSB Köln – Info-Brief 5/2011 9 Titelgeschichte: Wenn einer eine Reise tut... Die T-Spule: mein sechster Sinn 10 Tags drauf schaltete ich aus einer Laune heraus schon im Hotel meine T-Spule an. Sozusagen "auf Vorrat". So hörte ich im Hotelzimmer ein geheimnisvolles Wispern hinter der Wand. Es hörte sich an wie der Flügelschlag eines Schmetterlings. (Die ganzen folgenden Tage kam ich nicht hinter dieses Geheimnis.) Auf der Fahrt Richtung St. Hellier konnte ich daraufhin fasziniert der Getriebesteuerung des Busses lauschen. (Mein sechster Sinn! Auf Krankenschein. – Nein, keine Zündfunken. Eine Zündung hat ein Diesel nicht!). Angekommen in der Hauptstadt von Jersey, ging ich sofort auf die Pirsch. ("St. Hellier" ist ohne Zweifel ein französischer Name. Aber man spreche es um Himmels Willen englisch aus!) Was zum Soundshuttle noch zu sagen wäre... Der naive Gebrauch – über beide Hörgeräte – hörte sich zunächst ziemlich laut an. Ich konnte zwar das Gespräch besser verstehen, aber auch der Geräuschpegel insgesamt war beachtlich und nervend. Das besserte sich deutlich, als ich auf die Idee kam, die T-Spule nur auf einem Ohr zu aktivieren und parallel dazu mit beiden Mikrofonen zu hören (links MT-Stellung, rechts M-Stellung). Meine Interpretation: Mit dieser Einstellung höre ich meine Gesprächspartnerin (den "Nutzschall") eindeutig über die einseitig zugeschaltete T-Spule "aus einer Richtung". Demgegenüber kommen die Störgeräusche schön natürlich und "stereophon" über die Mikrofone auf die Ohren. So kann das Gehirn sie viel besser ertragen und ausfiltern. Also gewissermaßen ein doppelt geschickter Einsatz des räumlichen Hörens. Im weiteren Verlauf unseres Gesprächs mit dem Restaurantmanager stellte sich heraus, dass wir ganz offenbar die ersten waren, die nach dem Gerät gefragt hatten. Das erklärt sicher auch seine besondere Freude an uns... Da das Gerät ein halbes Jahr vorher zum letzten Mal "geprüft" worden war, zeigt sich daran aber auch, dass auch im englischen Kulturraum das typische Problem bleibt: die mangelnde Nachfrage. Was mich zur "Hauptregel des Kodex für Hörgeschädigte" gebracht hat: "Wird dir eine Hilfe angeboten, so mache Gebrauch davon. So oft du kannst. Selbst wenn du meinst, du brauchst sie nicht." Folglich waren wir 2 Tage später ein weiteres Mal in "unserer" Pizzeria. Gönnen wir dem Manager seine Freude... DSB Köln – Info-Brief 5/2011 Titelgeschichte: Wenn einer eine Reise tut... 11 Mühsam und nicht rosig Ich hielt Ausschau nach Geschäften oder weiteren Restaurants, die mit Einrichtungen für Hörgeschädigte auf sich aufmerksam machten. Aber es blieb bei Hinweisen auf Nebeneingänge, die mit Rollstuhl passierbar waren. Nein, so rosig sah es wirklich nicht aus. Plötzlich Stimmen im Kopf Schon einigermaßen desillusioniert schlug ich die Richtung auf einen Park ein. Da höre ich auf einmal Stimmen in meinem Kopf. Mitten auf der Straße fühle ich mich in eine Arena versetzt, in ein Sportstadion mit einem aufgeregten Kommentator. Irritiert sondiere ich die Lage. Jetzt nur ganz ruhig bleiben! Um mich herum ganz normaler Fußgängerbetrieb. Der Wind weht ... aus einem Wettbüro Aber schnell bekomme ich heraus, aus welcher Richtung der Wind weht. Dicht an einer Häuserwand ist die Lautstärke am größten. Dahinter entdecke ich – ein "lizensiertes Wettbüro". Auf einem Fernseher drinnen läuft die Übertragung eines Pferderennens. Dem zuzuhören ich im Augenblick das ganz unfreiwillige Vergnügen habe. Und an der Tür finde ich dann endlich den lang gesuchten Hinweis: das durchgestrichene Ohr. Hier in Rot. Worauf wir schon immer gewartet haben: Induktive Anlage im Wettbüro DSB Köln – Info-Brief 5/2011 Titelgeschichte: Wenn einer eine Reise tut... Der nächste Fund kam nicht so überraschend. Nach einer sonnigen Siesta im Park näherte ich mich einer anglikanischen Kirche. Nach gutem Brauch zwar an diesem Werktag verschlossen, konnte ich doch durch die Glastür den Hinweis auf die induktive Anlage fotografieren. Also auch hier... (Vielleicht ein Vorteil: Man versteckt es nicht so wie bei uns.) Die Kirchen: nicht so überraschend Im Kino: Filme mit Untertiteln 12 Ich suche weiter. In Deutschland soll es ja sogar Kinos geben mit Hörtechnik. (6 Prozent sollen es sein. Bisher ist mir allerdings noch keins begegnet.) Wie sieht es hier in Jersey damit aus? Quer durch die Stadt muss ich, ans andere Ende. Dort ist der große Cinema-Palast. Hinweise irgendeiner Art entdecke ich nicht. Also frage ich direkt. Und: Man ist vorbereitet! (Und nicht etwa ratlos.) "You mean subtitles" (sprich: sub-, nicht sab-). Ja, es gab an diesem Tag "Harry Potter" mit Subtitles. Als einziges Angebot. Um 17 Uhr. Na, ich wollte es ja nur wissen. Richtig toll fand ich das nicht. Nix mit Hörtechnik. Aber immerhin: Man müht sich. Der Tierpark Tage später sind wir im Inland der Insel in einem Tierpark. (Dort gibt es unter anderem Affen. Meine Frau liebt Affen. Also: diesmal bin ich nicht allein schuld...) Der Tierpark wird von einer privaten Stiftung betrieben. Und auf dem "Counter" entdecke ich – ein Mikrofon, samt Hinweis mit DSB Köln – Info-Brief 5/2011 Titelgeschichte: Wenn einer eine Reise tut... 13 dem durchgestrichenen Ohr und dem T-Spulen-Zeichen. Ich aktiviere also meine T-Spule, und siehe da: Die Anlage ist ohne Nachfrage dauerhaft eingeschaltet. Theken, Schalter, Empfangstresen: eine Problemzone Gut zu verstehen ist das leider nicht. Dafür ist das Mikrofon viel zu tief angebracht. Und das Induktionsfeld zu gering. Die vernünftige Ausstattung von Verkaufstheken, Fahrkartenschaltern und Hotelempfängen bleibt also weiterhin eine Aufgabe, die den Schweiß der Edlen noch fordert. Nachforschungen im Internet Am Abend ging es dann weiter mit einer virtuellen Pirsch im Internet. Eigentlich wollte ich nur nach den englischen Begriffen für ein paar Wörter suchen. Aber wie das so ist, wenn am erst einmal vor dem Bildschirm sitzt... Wie sich die Welten gleichen! Die Zersplitterung der Gruppen und Anbieter von Tipps und Informationen, und die mangelnde Aufklärung der Betroffenen selbst: man kann gar nicht genug klagen... Aber nach guter englischer Art findet man im englischsprachigen Raum sehr viel mehr konkrete, praktische Tipps und Hinweise. Und stößt auf weitere interessante Informationen: USA: Akustiker müssen auf den Nutzen von TSpulen hinweisen Im englischen Wikipedia finde ich zum Beispiel den Hinweis, dass in den US-Staaten Florida und Arizona die HörgeräteAkustiker per Gesetz verpflichtet sind, ihre Kunden auf den Nutzen von T-Spulen hinzuweisen. Dieses Problem kennen wir ja auch. Und die Lösung: wäre vielleicht in der aktuellen "Aktionsplan-Debatte" einer Überlegung wert. Wo sie aus Amerika stammt, kann sie so schlecht doch nicht sein? USA: Norm für hörgerätekompatible Handys Und bereits seit dem Jahr 2003 gibt es eine US-amerikanische Norm für die Hörgeräte-Kompatibilität von Handys. Die Hersteller von Handys sind verpflichtet, ihre Modelle entsprechend dieser Norm (M2/M3/M4 und T2/T3/T4) zu kennzeichnen und eine ausreichende Zahl von Modellen bereit zu stellen, die hörgeräte-kompatibel sind. Im Internet findet man entsprechende Verzeichnisse, die unter anderem diese Kennzeichnung der Mobiltelefone ausweisen. Und in Deutschland? – ruht hier stille noch der See. DSB Köln – Info-Brief 5/2011 Titelgeschichte: Wenn einer eine Reise tut... 14 Ein Blick über den Zaun lohnt sich immer Schon oft bin ich zu dem Schluss gekommen: Man sollte sich ab und zu einmal "beim Nachbarn" umsehen, wie man dort mit bestimmten Problemen umgeht. Trotz aller Internationalität ist dies nämlich von Land zu Land oft erstaunlich unterschiedlich. (So sind die Engländer tatsächlich nicht gerade die Erfinder der Einhebel-Mischbatterie. Es ist für mich immer wieder ein anrührendes Erlebnis, wenn ich mir dort am Waschbecken unter dem Heißwasserhahn die Finger verbrühe und mir dann gleich anschließend die Blasen am Kaltwasserhahn kühlen darf.) Warum also – gerade in der aktuellen Debatte um Maßnahmen zur Inklusion – nicht auch einmal in den Nachbarländern nachsehen, zu welchen Lösungen man gekommen ist und wie diese angenommen werden? ... und am Ende ein zwiespältiges Resümee Allerdings, ganz zum Schluss beschlich mich dann doch noch ein undankbarer Gedanke. Wenn das "alles" ist, was nach langen Jahren der Bemühungen für die "hearing impaired people" herausgekommen ist, dann werden wir wohl bei uns DSB Köln – Info-Brief 5/2011 Titelgeschichte: Wenn einer eine Reise tut... 15 noch auf lange Sicht weitgehend auf Selbsthilfe und Selbstverantwortung angewiesen sein. Denn der Ausschnitt des Lebens, wo Menschen mit Hörbeeinträchtigungen technische oder andere Hilfen angeboten werden, ist, ganz nüchtern betrachtet, auch auf Jersey noch verschwindend gering. Norbert Böttges Und auch in Frankreich... Von unserem Leser, dem Kölner Künstler und Grafikdesigner J. Alexander Schürenberg, erreicht uns dieses Urlaubsfoto aus der französischen Stadt Metz. An der Gegensprechanlage im Eingang eines Mehrparteienhauses ist das durchgestrichene Ohr mit folgender Erklärung zu sehen: Espace adapté aux personnes malentendentes appareillées. Positionez votre appereil sur "T". Freie Übersetzung in bestem Schulfranzösisch: "Dieser Ort ist an Personen angepasst, die schwerhörig und mit Apparaten ausgestattet sind. Schalten Sie Ihren Apparat auf 'T'." DSB Köln – Info-Brief 5/2011
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