Marko schlägt einfach zu (PDF, 15 Seiten, 198 KB)

Marko schlägt einfach zu
Wenn Selbsterfahrung zur explosiven Mischung wird.
11. Mai 2015
I.Einleitung
Marko C., ein in der Schweiz geborener Jugendlicher mit kroatischen
Eltern mit Schweizer Pass, wird ab sechs Haren von seinem
überforderten Vater regelmässig geschlagen. Die Eltern leben in gut
situierten Verhältnissen, materiell fehlt es Marko an nichts. Er fällt aber
bereits früh in der Schule auf: er wehrt sich mit Gewalt gegen
Mitschüler, lügt und bedroht. Erste Rückmeldungen der Schule quittiert
der Vater mit weiteren massiven Schlägen. Gegen aussen allerdings
verteidigt er seinen Sohn. Die Familienberatungsstelle soll helfen –
bleibt aber aussen vor. Marko verlässt schliesslich die Schule, findet
keine Anschlusslösung. Er begibt sich regelmässig in Ausgang in
seiner idyllischen Kleinstadt in den Bergen. Die Polizei wird auf ihn
aufmerksam. Nach mehreren Anzeigen reagiert die
Jugendanwaltschaft: er wird in die geschlossene Abteilung des
Jugendheims Aarburg eingewiesen.
Erste Analysen zeigen klar auf: Marko hat bewusst die Hot Spots in
seiner Umgebung aufgesucht. Er provoziert oder lässt sich
provozieren. Regelmässig entwickeln sich gewaltsame
Auseinandersetzungen. Meistens verlässt Marko ‚den Ring‘ als Sieger.
Er ist zwar klein und leicht; aber seine kompromisslose
Gewaltbereitschaft bringt ihn in Vorteil – und lässt auch scheinbar
stärkere als Verlierer vom Platz gehen.
Wie kann man ihm helfen?
Mit dieser Vorlesung möchte ich das Phänomen von Opfer – Täter
darstellen, wie sich die praktische Arbeit mit dissozialen Jugendlichen,
solche mit allgemeinen Verhaltensauffälligkeiten und auch
verwahrlosten Jugendlichen gestalten lässt. Ich versuche aufzuzeigen,
wo Möglichkeiten, wo aber auch Grenzen sind.
Im ersten Kapitel habe ich mich stark auf eine Diplomarbeit unserer
leitenden Therapeutin Monica Imhof abgestützt (Frühe Traumatisierung
und spätere gewaltanwendung, Diplomarbeit am Institut für
Opferschutz und Täterbehandlung März 2013).
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1. Erklärung der Täter – Opfer – Problematik
2. Welchen Arten der Täter – Opfer- Problematik kennen wir?
3. Das Jugendheim Aarburg im Überblick
4. Möglichkeiten und Grenzen der pädagogischen Intervention
und Therapie
5. Abschluss, Zusammenfassung
6. Diskussion
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II. Erklärung der Täter – Opfer Problematik
a) Vom Opfer zum Aggressor
Das gleichzeitige Vorkommen von Traumatisierung, dominantem Auftreten und
Gewaltanwendung ist in der Arbeit mit männlichen Jugendlichen augenfällig. In der
wissenschaftlichen Forschung findet man einige Veröffentlichungen zur Problematik
Trauma, Dominanzverhalten und Gewaltanwendung. Es lässt sich aber selten ein
stringenter Zusammenhang nachweisen. Oft befassen sich die Forschenden mit dem
Thema ‚Trauma‘, oder sie fokussieren das gewalttätige, aggressive Verhalten.
Professor Urbaniok von der Uni-Klinik Zürich hat die Verbindung von Dominanz und
Gewaltanwendung zur Grundlage seines FOTRES- Tests uns der entsprechenden
Arbeit gemacht (Forensisch Operationalisiertes Therapie-Evaluationssystem).
In unserer praktischen Arbeit fällt aber zwangsläufig auf, dass oft Jugendliche
Delinquenten mit überdimensional brutalen Gewaltdelikten in ihrer Kindheit und
Vorpubertät häufig selber physische und psychische Misshandlung erfahren haben.
Anschliessend fallen gerade diese adoleszenten Jugendlichen dadurch auf, dass sie ein
ausgeprägtes dominantes Auftreten haben, welches das übliche Mass an Buhlen um
Anerkennung in der Peergruppe übersteigt. Es gibt somit persönlichkeitsbezogene
Eigenschaften, welche von Tatrelevanz sind (Urbaniok. 2004).
Aus der Literatur ist zu entnehmen, dass etwa 30% ehemals misshandelter Menschen
die erlittene Gewalt an andere weiter geben und 70% eine andere Form der
Verarbeitung finden (Diepold 1997).
Es stellt sich also die Frage, welche Faktoren sind dafür verantwortlich, dass eine
solche Dynamik Nährboden findet?
Ich möchte an dieser Stelle einen kleinen Exkurs ins ‚Tierreich‘ machen. In illegalen
Hundekämpfen wird vor allem mit Hunden gearbeitet, welche gemäss unserer
Ordnung als Kampfhunde gelten (Bullterrier, American Staffordshire Terrier und
American Pit Bull). Diese Hunde sind in ihrem Wesen bereits stark dominant
(beharrlich, ausdauernd, aggressiv). Insider von Hundekämpfen berichten, dass die
Hunde zwischen den Kämpfen nicht unter artgerechten Bedingungen gehalten werden
(beengte Verhältnisse, hungern lassen, zusätzlich reizen, schlagen und quälen). Das
Maximum an Brutalität und Beisswut wird demnach erreicht, in dem ein dominantes
Tier gequält und in engerem Sinn traumatisiert wird. Dieses Phänomen der Beisswut
rezitiert Steinfeldt (2002) in ihrer Dissertation als ‚hypertrophes
Aggressionsverhalten‘ (übersteigertes Angriffs- und Kampfverhalten, welches leicht
auslösbar ist). Dabei wird die Zuchtlinie (Vererbbarkeit der Eigenschaften)
berücksichtigt und der ‚Sozialisation der Hunde‘ Gewicht gegeben. So ist davon
auszugehen, dass eine gewisse Tendenz zu dominantem Verhalten durchaus auch
genetische Komponenten hat.
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Ein vom Wesen her dominanter Mensch, der während seiner Kindheit
traumatisierenden Einflüssen ausgesetzt wurde, kann in vergleichbarem Sinn zu
gewalttätigem Verhalten neigen.
Das Trauma ist dabei gemäss Definiton (Lehrbuch der Tramatologie, Fischer und
andere, 2009, s. 79) ‚ein vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen
Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit
Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine
dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt‘.
Natürlich müssen nicht alle Gewalteinflüsse eine traumatisierende Tiefe erreichen.
Wenn sie aber Phänomene wie etwa die Intrusion nach sich ziehen (das sich un/bewusste Erinnern oder Wiedererleben zur Unzeit, welches oftmals scheinbar
unlogische Handlungsmuster zur Folge hat), ist davon auszugehen, dass sie
traumatisiert worden sind.
Gilt dies nun auch für die Opfer – Täter – Dynamik bei uns Menschen?
In Untersuchungen wurden viele relevante Zusammenhänge festgestellt. Kröber und
andere beziehen sich im 'Handbuch der forensischen Psychiatrie (2009) auf
verschiedene Forschungsergebnisse, unter anderem auf jene von Lösel (1996), welche
belegen, dass frühe Opfererfahrung ein erhebliches Risiko für die kindliche
Entwicklung darstellt. Sie halten auch fest, dass Menschen mit Gewalterfahrungen
ebenfalls dazu neigen, Gewalt anzuwenden. Die Zahlen unterscheiden sich zwar, aber
alle Studien belegen eine Neigung zur Gewaltweitergabe. Endrass und andere (2012)
beschreiben in ihrem Buch, dass bei Traumaopfern eine erhöhte Aggressivität zu
finden sei. Kindsmisshandlungen führen gemäss Malinosky-Rummel und anderen
(1993) entweder zu Depressionen oder erhöhter Aggressivität und Gewaltbereitschaft.
So können ja auch Depressionen zu einem autoaggressiven Verhalten, also Gewalt
gegen innen führen. Die erlebte Gewalt wird neu inszeniert, wobei Affekte wie Wut
und Angst eine grosse Rolle spielen. Es handelt sich wohl um einen
Bewältigungsversuch zur Wiederherstellung von Kontrolle und seelischem
Gleichgewicht. Die Gewaltweitergabe hat also kompensatorische und reparative
Funktion und dient zudem der Affektregulation. Urbaniok nimmt zur Problematik
Stellung und geht davon aus, dass physische, sexuelle oder emotionale Misshandlung
in der Kindheit mit dem späteren Tatverhalten zusammenhänge. Misshandlung führe
oft zu einem nicht zu verarbeitenden Gemisch unterschiedlicher Gefühle. Die damit
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assoziierten Szenarien und Wahrnehmungen seien von affektiv hoher Intensität und
würden sich in die eigene Vorstellungswelt einbrennen. Die entsprechend
eingebrannten Bilder, Gedanken und Vorstellungsmuster seien mit starker affektiver
Besetzung gekoppelt, so dass sich über spätere zirkuläre, sich selbst verstärkende
Prozesse stabile Vorstellungsszenarien aus dem Gewaltbereich mit asymmetrischer
Machtverteilung ergeben können (Urbaniok, FORTRES, 2004).
Dieses Einbrennen wurde von Albert und anderen (2006) sowie von Endrass und
anderen (2012, Interventionen bei Gewalt- und Sexualstraftätern) näher beschrieben.
Die Hirnforschung hat die Vorgänge beschrieben und entsprechende
Erklärungsmuster geliefert. Einmalige Erlebnisse werden in der Erinnerung stark an
Ort und Zeit gebunden. Wiederholte traumatische Erfahrungen hingegen verlieren den
Bezug zum Dort und Damals – die Bedrohungen können in jede beliebige Situation
und damit auch in die Gegenwart verschoben werden.
Somit ist die Neigung zu Gewaltanwendung ein missglückter Lösungsversuch zur
Eliminierung der traumatischen Erinnerungen. Die innere Anspannung und
Schreckhaftigkeit sowie das permanent erhöhte Arousal (Arousal ist ein Begriff der
Psychologie und der Physiologie, welcher den allgemeinen Grad der Aktivierung des
zentralen Nervensystems beim Menschen und bei Wirbeltieren bezeichnet.
Charakteristische Merkmale sind Aufmerksamkeit, Wachheit, Reaktionsbereitschaft
usw.) sowie die Neigung, Alltagserfahrungen als bedrohlich zu interpretieren, setzen
den Betroffenen in einen dauerhaften Zustand vor hormoneller Übererregung und
hirnorganischer Überlastung. Es kann davon ausgegangen werden, dass diese
permanente Überflutung zu erhöhter Aggression führt und den Wunsch hervorruft,
diesem Zustand ein Ende zu setzen. Die Lösungsstrategie der Reinszenierung ist eine
der klassischen Strategien, Kontrolle zu erlangen über diese übermächtigen Gefühle.
Aus der Arbeit mit Sexualstraftätern, welche selbst Opfer waren, weiss man zudem,
dass sich Opfer oft mit den Tätern identifizieren. Es geht dabei nach Hirsch (2000)
um die 'identifikatorische Übernahme der durch eine Autoritätsperson erlittenen
Aggressionen und ihren Wendungen gegen andere Objekte im Sinne der sekundären
Identifikation. Die Identifizierung mit dem Angreifer geschieht also mit dessen
Verhalten oder dessen Eigenschaften.' Gefühle von Schwäche, Kränkung oder des
Gekränktseins können aufgehoben werden, wenn man selbst der Kränkende,
Verletzende oder Schädigende ist. Dieser Abwehrmechanismus dient laut Ermann
(2007) zur Bewältigung der unerträglichen inneren Verwirrung während und nach der
Tramatisierung. Die Betroffenen identifizieren sich paradoxerweise mit dem Täter,
um das Unfassbare fassbar zu machen.
Nach Bandura, Lernen am Modell (1976) ist dieses Modelllernen selbstverständlich
auch auf diese Situation Täter = Modell - Opfer = Täter anzuwenden. Es kommt zu
einer stellvertretenden Verstärkung. Das Opfer lernt, dass der Aggressor durch sein
Verhalten die kontrollierende Position innehat und andere Menschen durch Gewalt
beeinflussen kann.
b) Dominanz in der Grundveranlagung
Die Studien zeigen klar, dass bei männlichen Jugendlichen etwa 30 Prozent der Opfer
von Gewalt später selber Gewalt als taugliches Mittel für ihr emotionales
Gleichgewicht einsetzen. Es sind aber nicht 100% - deshalb müssen noch andere
Faktoren dieses Verhalten begünstigen. Ein solcher Faktor ist das dominante
Verhalten in der Grundveranlagung. Dominanzverhalten beschreibt den Umstand,
wenn individuen das Verhalten von einem oder mehreren anderen Individuen
beherrschen beziehungsweise kontrollieren wollen. Dieses Verhalten kann sich auf
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verschiedene Art äussern – eine davon ist das Einsetzen von Gewalt zur
Einschüchterung und Verängstigung. Natürlich gibt es insbesondere bei Jugendlichen
innerhalb von Peer-Groups die Macht- und Rivalitätskämpfe. Man will die anderen
beeindrucken – mit dem zur Schaustellen von Konsumgütern, teurer Markenkleidung,
dem Konsum von Drogen und Alkohol, aber auch mit einer latenten
Gewaltbereitschaft und einer sich aufbauenden Devianz. Diese Dynamik innerhalb
von Peers ist normal und hat nicht mit der Opfer-Täter-Problematik zu tun.
Im Zusammenhang mit der Täter-Opfer-Problematik interessiert der sogenannte
Dominanzfokus, oder für Jugendliche mit noch nicht stabilen
Persönlichkeitsdisposition Dominanzproblematik. Darunter wird eine stabile, in der
Persönlichkeit verankerte Bedürfnislage gekennzeichnet, die darauf ausgerichtet ist,
gegenüber anderen eine dominante Position einzunehmen. Es geht um das Bedürfnis,
Personen und Situationen zu kontrollieren, andererseits auch das Ignorieren der
Bedürfnisse anderer Menschen. Jugendliche mit einer Dominanzproblematik haben
hingegen nicht nur ein Kontrollbedürfnis, sondern sie wollen ein asymmetrischen
Machtverhältnis bewirken. Sie wollen Menschen und Situationen nicht nur
kontrollieren, sondern dominieren. Eine solche Dominanzproblematik stellt noch kein
zeitüberdauerndes Persönlichkeitsmerkmal dar – es ist aber ein klares Motiv zum
Gewalteinsatz. Der Einsatz von Gewalt stellt wie beim Täter Opfer – Kreislauf auch
beim Jugendlichen mit Dominanzproblematik ein Mittel zum Zweck dar. Somit kann
davon ausgegangen werden, dass im Falle einer Doppelproblematik
(Gewalttraumatisierung und Dominanzstreben) der Einsatz von Gewalt als probates
Mittel zur Erreichung der Ziele viel häufiger vorkommt.
Es geht somit ums Erkennen dieser Problematik, damit die nötigen Schritte zur
Besserung gegangen werden können.
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III. Arten der Täter – Opfer Problematik
Natürlich zeigt sich die Täter – Opfer – Problematik nicht nur bei Jugendlichen mit
frühen Gewalterfahrungen. Besonders erforscht worden ist die Problematik bei
sexuellem Missbrauch. Auch andere Beziehungselemente von verantwortlichen
Bezugspersonen und Anvertrauten kann dieser Phänomenologie zugeordnet werden.
a) (Pädo-)Sexueller Missbrauch
Zur sozialwissenschaftlichen Analyse und Erklärung des sexuellen Missbrauchs von
Kindern sind in der Forschung einige bedeutsame Hypothesenmodelle entwickelt und
empirisch untersucht worden. Besonders die These, dass Opfer pädosexuellen
Missbrauchs eine erhöhte Wahrscheinlichkeit aufweisen, in späteren Jahren zu
erwachsenen Tätern pädasexuellen Missbrauchs zu werden (vgl und anderem Glasser
et al. 2001; Lengevin et al 1989, Urban & Lindhorst 2004, Schneider 1999 usw.).
Man weiss, dass unter pädosexuellen Straftätern der Anteil der pädosexuell
viktimisierten Opfer doppelt so hoch ist wie unter den 'sonstigen' Straftätern.
Auch beim sexuellen Missbrauch wird die Opfer-Täter-Transitions-Hypothese in den
breiteren Kontext der Sozialisationstheorien eingeordnet. Pädosexuelle
Opfererfahrungen können als kognitive Bausteine im Prozess des sozialen Erlernens
sexueller Handlungsmuster verstanden werden. Die Erfahrungen werden als 'sexuelle
Skripte' verinnerlicht werden. So ist es möglich, dass ein pädosexuell Missbrauchter
aufgrund eines generalisierten Situationsmodells zum sexuellen Verhalten annimmt,
dass das kindliche Opfer seiner pädosexuellen Handlungen die pädosexuelle
Interaktion in vergleichbarer Weise wie er selbst deutet, akzeptiert und vielleicht
sogar wünscht. Bei den Untersuchungen zum Zusammenhang von Opfern-Tätern in
sexuellen Handlungen fällt auf, dass sexuelle Übergriffe auch häufig mit anderen
Gewalterfahrungen einhergehen, was uns erneut zum vorherigen Kapitel führen
würde.
Auch bei der pädosexuellen Opfer-Täter Transition ist festzustellen, dass Opfer
sexuellen Missbrauchs sich in einer emotionalen und sozialen Stresssituation
befinden, welche dauerhaft nur unter grosser psychischer Anspannung zu ertragen ist
und deshalb nach Stressregulation verlangt. So können die Betroffenen eine
regulation negativer Affekte auch über einen 'Normalisierungsprozess' erlangen - was
in der eigenen Wahrnehmung als normal angeschaut wird, kann ja gar nicht mehr
verkehrt sein. Der Normalisierungsprozess kann auch durch aktives Handeln
unterstützt werden. So ist die Übernahme der Täterrolle eine Umkehrung der OpferTäter – Beziehung und als Folge des Bemühens zu verstehen, die stark belastende
Stresserfahrung des sexuellen Missbrauchs emotional und kognitiv zu normalisieren
(Urban/Fiebig; Pädosexueller Missbrauch). Opfer von pädosexuellem Missbrauch
zeigen oft als Folge ein aggressiv dominantes Verhalten, welches in Gewalttaten
münden kann. Diese Personen neigen gemäss den Untersuchungen viel wenig dazu,
selber pädosexuell delinquent zu werden. So können wir aber festhalten, dass es
Personen gibt, welche Opfer von sexuellem Missbaruch werden und im Verlaufe ihres
Erwachsen Werdens Täter im Bereich von physischer und/oder psychischer Gewalt
werden.
Eine Zahl möchte ich noch nachliefern: In D geht man davon aus, dass 4 – 12 Prozent
der als Kind missbrauchten Männer später selbst Sexualstraftaten begehen – und dass
12 – 35 Prozent der Sexualstraftäter als Kind selbst sexuell missbraucht wurden.
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b) Opfer von emotionaler Verwahrlosung
Ich möchte hier eine weitere Opfer-Täter-Problematik anführen, zu der man in der
Literatur und Forschung keine oder wenig aussagekräftige Informationen erhält. In
meiner langjährigen Praxis kommt man um diese Problematik aber nicht herum.
Wir haben zunehmend Jugendliche, welche in ihrer Kindheit emotional vernachlässigt
wurden. Ja oft ging die Gleichgültigkeit und / oder inadäquate Handlungsweise der
Eltern so weit, dass die Jugendlichen massiv verwahrlosten. In diesem
Zusammenhang sprechen wir meistens von Verwahrlosung aufgrund von
mangelhafter Zuwendung, Schutz und Betreuung. Es gibt aber eine Form der
Verwahrlosung, die aus einem völlig ungenügenden Rollenverständnis und
Erziehungsverhalten der Eltern entsteht. Besonders bei Jugendlichen, bei denen die
Beziehung der Eltern bereits unklar oder zerrüttet war, stellen wir zunehmend autound fremdaggressives Verhalten fest. Folgende Phänomene zeigen sich:
- narzisstisches Verhalten
- sie wollen ihre Wünsche und Bedürfnisse sofort erfüllt sehen; einen
Bedürfnisaufschub haben sie nie gelernt
- Jugendliche können keine negativen Aussagen entgegen nehmen; wenn ihnen
Grenzen gesetzt werden, reagieren sie sofort, übermässig und mit erheblichem
Verletzungspotential
- sie essen Glasscherben
- sie zünden Matratzen und Gegenstände an und setzen sich dem Rauch aus
- sie zeigen suizidale Gedanken oder Handlungen (bis zum Atemstillstand)
- sie basteln Waffen für den Notfall und setzen diese im Konflikt auch sofort ein
- sie machen im Affekt massive Sachbeschädigungen und oft auch
Selbstverletzungen (Faust in die Wand schlagen).
Woher kommen diese schweren Verhaltensauffälligkeiten? Ich habe in meiner
langjährigen Erfahrung festgestellt, dass diese Jugendlichen ihre massiven
Persönlichkeitsstörungen in der früheren Kindheit entwickelt haben. Ihre ersten fünf –
sieben Lebensjahre sind gezeichnet durch Beziehungsabbrüche, unsichere emotionale
Verhältnisse (Beziehung der Eltern schlecht), Vernachlässigung und
Überkompensation, keine Orientierung gebende Regeln und Grenzen; Entwickeln von
manipulativem Verhalten, um negative, ablehnende Entscheidungen der
Bezugspersonen noch umzukehren, nachgiebige und unsichere Eltern, Überbetonung
und Vergötterung der Kinder, zentrale Positionen im Familiensystem usw.
Diese Kinder sind auch Opfer, nämlich Opfer einer inadäquaten Erziehung,
unzuverlässigen Bezugspersonen, welche nicht verbindlich, klar und berechenbar
sind. Als Opfer werden sie zu Tätern, weil sie die fehlende Sozialisation nicht
nachholen wollen oder können, mit dem ungünstigen verhalten trotz allem immer
Erfolg haben und darin verstärkt werden.
Weshalb die destruktiven Verhaltensweisen solcher Jugendlicher in den letzten vier
Jahren nochmals eine beängstigende Steigerung erfahren haben, die nun
psychopathologische Formen annimmt, kann ich nicht erklären. Vielleicht können wir
in der anschliessenden Diskussion darauf eingehen.
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IV. Das Jugendheim Aarburg im Überblick
An dieser Stelle möchte ich einen kurzen Überblick über die Institution des
Jugendheims geben. Diese Ausführungen können auch auf unserer Homepage
nachgelesenw erden (www.aargau.ch/jugendheim )
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V. Möglichkeiten und Grenzen der pädagogischen und
therapeutischen Massnahmen
Kehren wir zu unserem klassischen Beispiel aus der Gewaltszene zurück. In den
professionellen Kreisen hat sich als besonders wirksam die deliktorientierte
Arbeitsweise heraus kristallisiert. Bei der Deliktorientierung geht es um
Grundannahmen, pädagogische und therapeutische Setzungen und entsprechende
Erfolgskontrollen.
Man geht von der Annahme aus, dass Täter, auch wenn sie frühere Opfer waren, ganz
und ohne Einschränkung für ihr Verhalten verantwortlich sind. Auch wenn OpferTäter Transition zu möglichen Erklärungsmustern führt, beeinflusst dies die
therapeutische Arbeit in keiner Weise.
Deliktorientierte Therapie
Das primäre Ziel einer deliktorientierten Therapie ist die nachhaltige
Rückfallvermeidung. Dieses oberste Behandlungsziel, das den Schutz früherer,
gegenwärtiger oder potenziell zukünftiger Opfer impliziert, wird mit einer
deliktorientierten und persönlichkeitszentrierten Behandlungsstrategie verfolgt.
Deliktorientierung heisst in diesem Zusammenhang, dass die realisierten
Interventionstechniken die Deliktmotivation des Täters senken und dessen
Steuerungsfähigkeit über deliktrelevante Abläufe erhöhen sollen. In der forensischtherapeutischen Praxis heisst dies konkret, dass sich der sich in Therapie befindliche
Täter zu einem geeigneten Zeitpunkt während der laufenden Behandlung intensiv mit
dem konkreten Deliktgeschehen auseinandersetzen muss. Vielfältige diesbezüglich
ausgearbeitete Techniken (Deliktrekonstruktion, Deliktpanorama, Deliktteilarbeit,
Fantasiekontrolle, etc.) gelangen dabei zur Anwendung. Dabei richtet sich das Timing
des Einsatzes der diesbezüglichen Techniken nach dem motivationalen und
kognitiven Status der betroffenen Person.
Nebst der Anwendung dieser im eigentlichen Sinne deliktfokussierenden
Interventionstechniken verfolgt die Behandlung aber gleichzeitig einen
persönlichkeitszentrierten Fokus. Dies bedeutet, dass die deliktrelevanten
Persönlichkeitsanteile identifiziert, exploriert und bestenfalls im positiven Sinne
modifiziert werden.
Anhand des Gutachtens und der anamnestischen Einschätzung des Täters kann eine
Aussage über die Legalprognose (zum Tatzeitpunkt) getätigt werden. Diese
Rückfallrisikoeinschätzung muss im Laufe der Therapie immer wieder überprüft
werden, um darin die Sinnhaftigkeit der Behandlung abzubilden, da sie für die
Erreichung des obersten Behandlungsziels der Rückfallvermeidung unumgänglich ist.
Im Endeffekt hängt der Wirkungsgrad der Therapie von den drei Faktoren,
Therapiemotivation, -bedürftigkeit und –willigkeit ab, welche ebenfalls einer
dauernden Überprüfung seitens des Therapeuten/ der Therapeutin unterliegen.
Der Durchführung einer ambulanten deliktorientierten Therapie sind nebst den oben
genannten einschränkenden täterabhängigen Faktoren noch im Bereich der
Unterbringung Grenzen gesetzt. Eine Rückfallrisikosenkung und Rückfallvermeidung
kann nur dann angegangen werden, wenn der Klient schon über risikosenkende
Strategien und Skills verfügt, seine Deliktdynamik kennt und gelernt hat,
deliktrelevantes Verhalten zu vermeiden und adäquates Verhalten zu tätigen. Aus
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diesem Grunde ist je nach Deliktdynamik zur Einübung der Steuerungsfähigkeit und
Senkung der Deliktmotivation der Rahmen der Unterbringung für die therapeutische
Behandlung unumgänglich und essentiell, um das Greifen der Intervention zu
gewährleisten und weitere Opfer zu verhindern.
Einzel- und Gruppentherapie
Internationale wie nationale Studien zu Täterbehandlungen belegen übereinstimmend
die Wirksamkeit der Gruppenbehandlung von Gewalttätern. Im Jugendheim Aarburg
werden vor allem Einzeltherapien durchgeführt. Gruppentherapien mit pubertierenden
und frühadoleszenten Jugendlichen sind sehr asnpruchsvoll. Die Zusammensetzung
ist wichtig, oft ist es nötig, dass ein Jugendlicher, der bereits längere Zeit Erfahrung
mit Gruppentherapie hat und entsprechend motiviert ist, als Junior-Coach eingesetzt
wird.
Therapieprinzipien II
kognitiv-verhaltenstherapeutisches Konzept
hochstrukturiertes Programm
intensiv und langdauernd
hochmotivierte TherapeutInnen
Gruppenkohäsion
Ausrichtung auf kriminogene Faktoren
Identifikation von Risikofaktoren
Behandlungsinhalte der deliktorientierten Therapie DOT
Offenheit und Transparenz lernen
DOT unterstützt Klientinnen und Klienten darin, ihre Straftaten offenzulegen.
Steuerungsfähigkeit verbessern
Die Klientinnen lernen, ihre Selbstkontrolle zu erhöhen und damit das eigene
Verhalten besser zu kontrollieren.
Rekonstruktion von kriminellen Handlungen
Die Klientinnen und Klienten erzählen ihre Deliktgeschichte detailliert von Anfang
bis Ende. Dabei hilft ihnen die therapeutische Fachperson, Gedanken, Gefühle,
Wahrnehmungen oder Löcher zu orten und zum Ausdruck zu bringen.
Den Tatsachen ins Auge blicken
Die Klientinnen und Klienten werden darin gefördert, kognitive Verzerrungen,
Beschönigungen, Bagatellisierungen und Verdrängungen aufzuheben.
Schaffung eines Täterbewusstseins
Die Klientinnen und Klienten werden sich möglichst vieler Aspekte des Tatverhaltens
bewusst und werden so Experten ihres Handelns.
Perspektivenwechsel
Die Klientinnen und Klienten lernen neue Perspektiven zu sehen und entwickeln
Opferempathie.
Wachsamkeit erhöhen
Die Klientinnen und Klienten werden darin unterstützt, einen hohen
Wachsamkeitspegel zu erzeugen und diesen aufrechtzuerhalten. Das heisst, sie
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entwickeln eine ständige Aufmerksamkeit gegenüber allen tatrelevanten Aspekten,
um die mögliche Entstehung eines Risikos frühzeitig zu erkennen.
Fantasien kontrollieren
Die Klientinnen und Klienten arbeiten an ihren inneren Fantasien mit dem Ziel,
tatrelevante Fantasien zu kontrollieren und zu verändern.
Selbstverantwortung stärken
Durch die Arbeit an der eigenen Täteridentität erkennen die Klientinnen und Klienten
den inneren Deliktteil (Persönlichkeitsanteil). Sie lernen ihn zu steuern, merken,
dass sie ihn verändern können und lernen so, mehr Verantwortung zu übernehmen.
Soziale Kompetenz trainieren
Klientinnen und Klienten erlernen Fertigkeiten für kompetentes Verhalten in
unterschiedlichen Lebenssituationen. Dazu gehören z. B. Fertigkeiten für
Beziehungsverhalten oder für Verhalten in Konfliktsituationen in der Freizeit und am
Arbeitsplatz. Spezifischer Bestandteil dieses Behandlungsinhaltes ist das Erlernen
eines angemessenen Umgangs mit Aggressionen.
„Immer wenn ich mich schlecht fühlte, suchte ich mir einen kleinen Hund. Ich brachte
ihn in den ersten Stock unseres Hauses und warf ihn vom Balkon. Danach fühlte ich
mich besser“. Der heute 33 jährige, persönlichkeitsgestörte, forensische Patient
berichtet weiter, dass er als Heranwachsender Steine von Autobahnbrücken auf
Fahrzeuge warf. Schließlich tötete er seine Freundin, indem er einen schweren Stein
auf ihren Kopf fallen ließ. Hätte man das Leben dieser jungen Frau retten können,
wenn man – so wie im US amerikanischen Bundesstaat Kalifornien üblich - bereits
bei Auftreten der Tierquälereien diesen Patienten einer psychiatrischen Begutachtung
zugeführt hätte?
Seit den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts weist die kriminologische
Forschung immer wieder auf einen Zusammenhang zwischen Tierquälerei und
Gewaltdelinquenz hin. Inzwischen gehen moderne, amerikanische Autoren (Ascione,
2005) so weit, Tierquälerei bei Kindern und Jugendlichen als einen „person at risk
factor“ zu bezeichnen. Im Wesentlichen kann man bei Kindern und Heranwachsenden
drei Gruppen von „Tätern“ unterscheidet:
- Tierquäler aus Neugier (meist Kleinkindesalter),
- Tierquäler aufgrund mangelnder erzieherischer Autorität der Eltern (v. a. im
Kindesalter) und
- Tierquäler mit psychopathologischer Veranlagung (v. a. im Jugendalter).
Für die forensisch-psychologische und entwicklungspsychologische Forschung sind
letztere interessant. Es gibt zahlreiche Hinweise aus der Literatur, dass
Gewaltkriminelle mit hohem Rückfallrisiko sowie forensische Patienten mit schweren
Störungsbildern eine hohe Varianz der gewalttätigen Delikte zeigen, welche sowohl
Objekte (Sachbeschädigung, Diebstahl), also auch Tiere (vernachlässigen,
misshandeln, töten) und Menschen (Körperverletzungs-, Missbrauchs- und
Tötungsdelikte) einbeziehen.
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•
ausreichende Intelligenz / kognitive Leistungsfähigkeit
•
Introspektionsfähigkeit - Reflexionsfähigkeit
•
Mindestmass an Motivation
•
Problembewusstsein
•
Lebensführung, welche DOT erlaubt
Aus dieser Liste lässt sich nun auch festhalten, dass Jugendliche U80 für eine
deliktorientierte Therapie kaum in Frage kommen. Im Jugendheim haben wir
diesbezüglich auch keine Erfahrung. Monika Egli-Alge vom FORIO Frauenfeld hat
eine Gruppentherapieform für minderintelligente Sexualstraftäter entwickelt. In
diesem Zusammenhang zwei Links zum Thema.
www.curaviva.ch/files/PO6XBHE/10_10-Ein-Nein-ist-ein-Nein.pdf
http://www.neuewege-caritas-bochum.de/Fachtag/documents/Vortrag%20Monika%20EgliAlge.pdf
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VI. Zusammenfassung
•
•
•
Eingeschliffene Muster verlangen nach einschleifenden Massnahmen
Es gibt für schwieriges, delinquentes oder deviantes Verhalten keine schnellen
Lösungen
Nachhaltigkeit braucht Zeit
Mit unserem Marko hatten wir nur einen Teilerfolg. Er hat sich in der Therapie
geöffnet und Transparenz gelernt; er hat seine Steuerungsfähigkeit verbessert (im
JHA gab es keine Vorfälle mehr, er konnte sich anpassen), seine kriminellen
Handlungen konnten rekonstruiert werden; er hat auch den Tatsachen ins Auge
geblickt, er hat seine Sozialkompetenzen erweitert
aber er ist als Experte seines Handelns nicht weiter gekommen, weil er die Gewalt
weiterhin aufsuchte, der Perspektivenwechsel und die Opferempathie klappte
insofern, als dass er keine schwachen Gegner aussuchte.
Er wollte nicht besonders wachsam sein – weil er nach wie vor delinquieren wollte;
somit liess er seinen Fantasien freien Lauf und übernahm die Selbstverantwortung nur
zum Teil.
Wir sind davon ausgegangen, dass es für eine Täter-Opfer-Transition zwei
grundsätzliche Voraussetzungen braucht:
•
•
Dominanzverhalten als Muster
traumatische oder mind. traumatisierende Gewalterlebnisse
Die Traumas können in der Therapie aufgearbeitet werden und:
Wir beeinflussen unsere Gene – und die Gene der anderen, Gottfried Schatz, Biologe
im Beobachter Nr 9/2015:
'Wir wissen, dass unsere Gene keine unabänderlichen Gesetze sind, sondern dass wir
sie zum Teil durch unser Verhalten ändern können. Einige dieser Veränderungen
können sogar vererbt werden. Wir nennen diese Änderungen unserer Gene
'epigenetisch'. Diese Erkenntnis bedeutet, dass jeder von uns für seine Gene
mitverantwortlich ist. … Aber letztlich sind wir auch für die Gene von Menschen
mitverantwortlich, die von uns abhängen. Wenn wir also Untergebene misshandeln
oder Dauerstress aussetzen, können wir nicht nur ihren Genen, sondern vielleicht auch
denen ihrer Kinder Schaden zufügen.'
Es beginnt also alles bei unseren Gedanken – diese pflegen wir oder wir lassen es sein
– sie werden unterstützt von Gefühlen und anderen Verstärkern – wir formulieren sie
in Worte um – die Worte werden zu Taten (im Positiven wie auch im Negativen!)
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