Geschichten aus Walters Jugend Erzählt von Walter Wehrle, aufgeschrieben von Klaus Budmiger Im Herbst 2014 WALTERS GESCHICHTEN Wir wissen es alle. Walter hat viele Geschichten. Diejenigen aus seiner Jugend sind besonders interessant, weil er uns mit seiner klaren Erinnerung eine Zeit beschreibt, die für uns fast nur noch als Abhandlungen in den Geschichtsbüchern existiert. Ob wir seine Geschichten noch nie, oder schon mehrmals gehört haben, sie laufen Gefahr über die Zeit vergessen zu gehen. Deshalb hat Walter schon oft den Wunsch erhalten, "schreibe Deine Geschichten auf". Aber wir alle kennen ihn, er nimmt lieber handfesteres in seine Hände als einen Schreibstift, oder eine Tastatur. Aus diesem Grunde haben wir uns entschlossen, ein paar beeindruckende Erlebnisse aus seiner Jugend aufzuschreiben, so wie er sie uns erzählt hat. WIR WAREN FORELLENZÜCHTER Meine Mutter, Laura Baur wurde im Jahre 1891 in Konstanz geboren, mein Vater Albert im Jahre 1887 in Allensbach am Bodensee. Dort lebten die beiden nach ihrer Hochzeit. Gretel kam 1922 und Erich zwei Jahre später zur Welt. Die junge Familie lebte damals von der Forellenzucht in Allensbach die Vater zusammen mit Klaus Mahlbacher, Glos genannt, bewirtschaftete. Agnes, die Frau von Mahlbacher, war meine Tante, die Schwester meines Vaters. Ein Grossteil der Fische wurde in die Schweiz verkauft. Transport und Zoll waren kompliziert. Zu aufwändig war das Geschäft über die Grenze hinweg und so entschlossen sich die Eltern mit den beiden Kindern in die Schweiz zu ziehen. Nach Ingenbohl, bei Brunnen im Kanton Schwyz. Dort baute Vater mit Partnern eine neue Forellenzucht. Die Fische gediehen - die Familie auch. Mein Bruder Hans kam 1932 und ich 1934 zur Welt. Wir waren nun eine sechsköpfige Familie, In Ingenbohl verbrachte Gretel ihre ganze Schulzeit, Erich bis ins Jahr 1936, bis unser Vater der Mutter eröffnete, er habe seinen Anteil an der Fischzucht verkauft und eine andere, bestehende erstanden. Eine eigene, ohne Geschäftspartner. So kam es, dass wir in die Forelle nach Haigerach zogen. Das Restaurant die Fischzucht, das Schulhaus und Gengenbach, das waren die Orte meiner Kindheit. Der Gasthof Forelle war ein Schönwetter-Ausflugslokal. Die Kuchen buken meine Mutter und Gretel während der Woche. Wehe, wenn am Wochenende schlechtes Wetter herrschte, dann waren die Kuchen noch da und der Geldbeutel leer. Das Essen zu lagern war in der damaligen Zeit eine schwierige Sache, es gab keine Elektrizität, daher keine elektrische Kühlschränke und natürlich auch keine Frischhaltedosen zum Aufbewahren des Essens. Aber wir hatten einen einfachen Eisschrank im Keller, der durch eingeschobene Eisstücke kalt gehalten wurde. Das Eis kauften die Eltern in der Brauerei. Im Winter froren die Teiche zu und so konnten wir selber Eis sägen für den Fischfutterkeller. Das Eis wurde mit Torf abgedichtet und blieb bis zum Frühjahr. Erich hatte viele Fähigkeiten. Ich war überzeugt, dass eine besondere diejenige war, mich zu ärgern. Entsprechend schadenfreudig war ich, als er einmal im Winter, beim Eissägen in den kalten Teich fiel. Die Forellen verkaufte Vater dem Rössli im Reichenbach und anderen Restaurants in der Umgebung. Er hatte einen Opel, vermutlich Jahrgang 1936, einen Anhänger mit Fässern, Wasser und Sauerstoff für die Fische zur Auslieferung. Das Fischfutter stellten wir selber her: dazu wurden stinkende Meerfische in Kisten geliefert, oder Vater erhielt einen Telefonanruf aus Oberschopfheim und holte dort verendete Tiere vom Abdecker. Zum Beispiel wurde die Milz der Rinder an die Jungfische verfüttert. Aber während den Kriegsjahren wurde es zusehends schwierig Fischfutter herzustellen, weil die Menschen alles Essbare selbst benötigten. Der wenige Fisch der noch aus den Weihern gezogen werden konnte, wurde eingetauscht gegen Brot, Fleisch, Fett und Öl. Ich half mit, Baumnüsse zu sammeln. An den Abenden sassen wir alle um den Tisch in der Küche und knackten die Nüsse. Mit diesen musste ich mit dem Fahrrad nach Biberach in die Ölmühle fahren. DAS ALTE SCHULHAUS IM HAIGER Einen Kindergarten gab es damals nicht. Die Schulzeit dauerte acht Jahre. Das alte Schulhaus auf halbem Weg zwischen dem Haiger und Gengenbach ist heute ein Wohnhaus. Haigerach war keine bevorzugte Stelle für Lehrer. Einer wechselte den andern ab und manchmal war gar keiner da. Wir Kinder mussten dann zu Hause bleiben, oder die Eltern organisierten ein paar Schulstunden bei einem Bauern der Region, der uns so gut als möglich unterrichtete. Dann kam Lehrer Pfeiffer! Er wollte eigentlich Pfarrer werden, denn er war ein guter Katholik, aber er bildete sich zum Lehrer aus. Vor der ersten Schulstunde betete er jeweils mit uns. Das passte dem Hitlerregime nicht - anderes wohl auch nicht. Und so wurde Lehrer Pfeiffer straf versetzt - in unsere Schule. Sofort pflügte er den Schulhof um, setzte Obstbäume und zog Gemüse im Garten. So wurde er Selbstversorger. Er war uns ein guter Lehrer in der kleinen Schule mit insgesamt etwa 16 Schülern. Pfeiffer wurde später Rektor an einer höheren Schule in Breisach. DIE KRIEGSJAHRE PRÄGTEN MEINE GENERATION Wir hatten zwar in unserer Gegend das Glück, von den Greueln und Entsetzen weitgehend verschont zu bleiben. Aber wirtschaftliche Misere und menschliches Leid machten auch vor unserer Türe nicht halt. Die Alliierten bombardierten den Güterbahnhof in Gengenbach. Die Kinzig Brücke trafen sie aber nicht. Statt dessen wurden ein paar Häuser getroffen, darunter das Gengenbacher Rathaus. Hans, der in Gengenbach in eine höhere Schule ging, musste bei Bombenalarm oft in den Keller flüchten. Einmal mussten getroffene, amerikanische Flieger ihre Bomben im Gebiet Pfaffenbach und zuhinterst im Haiger notabwerfen. Meine Geschwister Gretel und Erich wurden in den Kriegsdienst eingezogen. Gretel leistete Frauenhilfsdienst. Ich weiss nicht mehr wie es ihr dort ergangen ist. Von Erich weiss ich, dass wir während einem halben Jahr keine Nachricht erhielten. Wir wussten nichts von ihm, bis wir endlich eine Karte erhielten mit der Notiz "mir geht es gut, ich sehe ihn jeden Tag". Hätte man das im Hauptquartier erfahren, es hätte Erich das Leben gekostet. Als er dann in den Urlaub kam, trug er eine Armbinde mit der Aufschrift "Führer Hauptquartier". Später wurde er in den Russland Feldzug geschickt. Ein doppelter Durchschuss durch beide Beine brachten ihn nach vielen Stationen wieder zurück nach Gengenbach, ins Lazarett des Klosters. Trotz der Pflege heilten seine Wunden nicht, die Ärzte wunderten sich. Aber wir kannten den Grund: "Für den halte ich den Kopf nicht mehr hin" sagte Erich. So zündete er nachts ein Streichholz an und steckte dieses in die Wunden. Das verzögerte die Heilung und hinterliess keine verdächtigen Spuren. Trotzdem, später wurde er wieder in den Krieg geschickt. Aber nur noch in die zweite Linie, nach Österreich. Um zu entrinnen, handelte er dort ein Militärfahrzeug gegen einen gefälschten österreichischen Pass um. Genützt hatte es ihm nichts. Er wurde von den Franzosen geschnappt und mit ein paar Kameraden in einem Stall eingesperrt. Das muss schrecklich gewesen sein. Schlussendlich wurden die Gefangenen auf Lastwagen gepfercht und nach Frankreich transportiert. Der Transport fuhr durch Gengenbach. Erich kritzelte auf dem Rücken eines andern Gefangenen ein paar Worte auf zwei Fetzen Papier, dass er am Leben sei und warf diese Nachrichten vom Lastwagen. Damit wussten wir, dass er noch lebte. Das nachfolgende halbe Jahr im Straflager in Frankreich muss entsetzlich gewesen sein. Erich überlebte. Wir sassen am Mittagstisch in der Forelle, als er plötzlich vor uns stand. Es war unter hoher Strafe verboten, andere Radiosender als denjenigen des deutschen Reiches zu hören. Ich habe manchmal gesehen, wie mein Vater im Versteckten die Frequenz des Radiosenders Beromünster aus der Schweiz einstellte und Nachrichten hörte: "ich muss wissen was die Wahrheit ist", hatte er mir gesagt. Es gab eine Zeit, als der Haiger einer der Standorte der deutschen Armee war. Zweiundzwanzig Militärbaracken standen im Wald und dienten als Feldküche, Werkstatt und Soldatenlager. Das Kommandobüro war in unserem Restaurant. Die Offiziere waren verhasste Gäste. Der Schlimmste unter ihnen war der General Gerlach. Während das Volk hungerte und vor einer Bäckerei Schlange stehen musste, um dann festzustellen, dass das letzte Brot verkauft war, wurde im Generalstab geschlemmt. Sie schenkten niemandem auch nur einen Bissen. Herr Ahne war einer ihrer Diener, ein gelernter Kellner aus dem Norden. Wenn die Offiziere in der Stube der Forelle, genug gegessen hatten, kam es vor, dass Ahne in die Militärküche ging und den Köchen befahl, zusätzliches Essen zu liefern, weil die Offiziere mehr verlangten. Dieses trug er dann nicht zum General, sondern heimlich zu uns. Wir liebten Ahne! Später, nach dem Krieg, kam dann Ahne wieder zurück, arbeitete hart in der Möbelfabrik Hukla und in andern Unternehmen. Er arbeitete sich nach oben, bis er sehr viel besass. So viel, dass die Gengenbacher manchmal von ihrer Stadt von Ahnebach sprachen. Es gibt noch ein Geschäft, das den Namen Ahne trägt. Als gegen Ende des Krieges die Franzosen Gengenbach immer näher rückten, sie waren bereits in Berghaupten, wurde dem General Gerlach geraten, sein Lager zu verlassen. Er hörte nicht auf die Warnungen und verliess die Forelle erst, als die Franzosen zwei Kilometer von Gengenbach entfernt waren. Er flüchtete in einem VW Kübelwagen, der mit Munition beladen war. Jahre später besuchte uns sein Fahrer in der Forelle und berichtete uns, dass der General auf der Flucht im Fahrzeug von einem Franzosen erschossen wurde. Der Fahrer rettete sich im letzten Moment mit einem Sprung aus dem explodierenden Wagen. Ein Meldefahrer wies uns an, dass wir alle Waffen, Schiesspulver, Radio und Feldstecher nach Reichenbach ins Rathaus bringen mussten. Vater verlud alles auf einen Anhänger und ich ging mit ihm. In diesem Wald sah ich zum ersten Mal Tote. Deutsche Soldaten, die ein Munitionslager sprengen mussten. Die Druckwelle der Explosion war zu gross. Vor dem Rathaus in Reichenbach stoppten uns französische Soldaten und nahmen uns alles ab, was wir im Wagen verstaut hatten. Und so konnte Vater lediglich aufzählen, um was die Franzosen nun reicher waren. Den leeren Wagen zogen wir wieder zurück Richtung Haiger. An der Stelle im Wald, wo das Munitionslager gesprengt wurde, lagen verstreut viele Säckchen mit Schiesspulver. Damit beluden wir den Karren wieder, legten eine Decke darüber und karrten das Pulver zurück in den Haiger, dicht gefolgt von vorrückenden französischen Soldaten, wohl keine 200 Meter hinter uns, mit ihren Gewehren im Anschlag. Wenn sie uns einholen, sagte Vater, werfen wir den ganzen Sprengstoff in den Bach. Aber wir erreichten den Haiger vor den Franzosen und konnten das Gut verstecken. Die Deutschen Offiziere waren also weg, dafür waren nun die Franzosen in der Forelle. Sie luden meine Eltern ein und gaben uns zu essen. Es waren freundliche Männer. Beim Aufwachen am nächsten Morgen staunte ich nicht schlecht, überall in unserer Wohnung lagen schlafende Soldaten. BÖLLERSCHÜSSE Aber auch diese Zeit ging vorüber, die Soldaten zogen ab, der Krieg war zu Ende, aber der Sprengstoff lag noch immer in unserem Hause versteckt. Nicht, dass wir ihn vergessen hätten. Nein, aber es gelang uns Knaben erst später, das Kriegsschiesspulver für das zu verwenden, was wir als seinen richtigen Verwendungszweck betrachteten. Erst als man wieder Zündschnur und Schwarzpulver kaufen konnte, war es uns möglich den Sprengstoff zu zünden. Wir fabrizierten selber Böller. Böller aus echtem Schiesspulver aus dem Krieg. Und es gab für Hans und mich keine bessere Gelegenheit, diese einzusetzen, als am Polterabend unseres Bruders Erich. Und es gab für uns beide keinen besseren Ort, als auf der Strasse vor dem Haus von Hagius, dem Meldeläufer der Gemeinde. Seine Frau hatte uns auf der Latte. Es beruhte selbstverständlich auf Gegenseitigkeit. Nun, unsere Böller krachten an Erichs Polterabend vor Hagius' Haus. Seine Frau war wie erhofft zu Hause. Alles ging nach Plan, jedoch hatten wir nicht mit einer derartigen Detonation gerechnet. Die Gewalt der Explosion hätte Hans und mir um Haaresbreite das gleiche Schicksal beschert, wie vor ein paar Jahren den deutschen Soldaten, von denen das Pulver in unsere Hände kam. Entsprechend gross muss der Schock von Hagius und seiner Frau gewesen sein. In welcher Ecke der Region Gengenbach diese Tat ersonnen wurde, ahnte Hagius offenbar schnell. Wütend wie er war, fragte er Erich, wer diese Explosion auf dem Gewissen hatte. Nun, er hatte den falschen gefragt. Unser älterer Bruder hatte selbstverständlich keine Ahnung. LEHR UND WANDERJAHRE Zusatz von Klaus Budmiger und Beatrice Zobrist Damit zurück zum noch jungen Leben von Walter. Die Böllerschüsse waren geschossen, die Schulzeit im Haiger vorbei. Walter lehrte im elterlichen Betrieb eineinhalb Jahre Forellenzüchter und noch einmal eineinhalb Jahre in einer Fichzucht in Stukenbrock, im Norden Deutschlands. Nach der Lehre blieb er ein Jahr als Geselle in Stukenbrock, bevor es ihn in die Schweiz zog. Zuerst in Stalden bei Konolfingen. Danach am schönen Blausee im Kandertal. Auf diesem Prospekt ging Walter durch die ganze Welt. Dort arbeitete er zwei Jahre. Wir sind alle froh, hatte er sich als junger Mann entschlossen, vom Blausee nach Rubigen in Wüthrichs Forellenzucht zu wechseln. PRINZ UND PRINZESSIN Wir sind auch alle froh, dass er häufig an den Bahnhof fahren musste. Das war nämlich die Voraussetzung, dass eine junge Frau, Isolde Schneider, aufmerksam auf ihn wurde. Aufmerksam auf den sportlichen, muskulösen und fröhlichen jungen Walter, der mehrmals die Woche Forellen in einen Güterwagen der SBB zu verladen hatte. Wie es zu einer guten Geschichte gehört, endet diese Geschichte mit der Prinzessin, die ihren Prinzen gefunden hat, Hochzeit feierte, dann nach einem Jahr, es war 1962, Dagmar, die erste Tochter das Licht der Welt erblickte. Fünf Jahre später, neues Glück, Beatrice die zweite Tochter war geboren und dann im Jahre 1969 war das Schloss gebaut, im Zaunacker in Rubigen. Eine gute Geschichte wäre hier zu Ende erzählt, aber diese Geschichte, diese wirklich gute Geschichte hört hier nicht auf.
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