Exzessives Trinken

RISIKOPRÜFUNG AKTUELL
Exzessives Trinken –
harmlose Schwäche oder ein Kater zu viel?
Autor
Reece Hodgson
Senior Risk Management Specialist
[email protected]
Hinweis
Der vorliegende Text beschreibt die
Risikosituation ausschließlich auf
Basis der Datenlage in Großbritannien. Grundlegende Erkenntnisse
­lassen sich jedoch – zumindest
bedingt – auch auf andere Märkte
übertragen und liefern wertvolle
­Hinweise zur generellen Risiko­ein­
schätzung.
Festtage wie Weihnachten, Silvester oder auch Anlässe wie der Karneval sind
für viele Menschen mit einem hohen Alkoholkonsum verbunden. Auch der
Stress des Alltags lässt manche schnell mal zu einem alkoholischen Getränk
greifen, um ­besser abschalten zu können. Doch wie schädlich sind Alkoholexzesse für unsere Gesundheit? Und wie ehrlich sind wir, wenn es um die tatsächlich getrunkenen Mengen geht?
Starkes Trinken ist in der britischen Gesellschaft seit Jahrhunderten weit verbreitet und Bestandteil zahlreicher sozialer und beruflicher Gepflogenheiten.
Bedenken im Hinblick auf Alkoholmissbrauch sind daher nichts Neues. Mitte
des 18. Jahrhunderts hatte der Gin-Konsum in London einen Höhepunkt
erreicht und galt damals als Auslöser für viele Verbrechen in der Hauptstadt.
So wurde im Jahr 1751 das sogenannte Gin-Gesetz erlassen, um den Konsum
zu verringern. Heute lösen Umfang und Folgen des sogenannten Komasaufens erneut Bedenken aus. Der Begriff beschreibt exzessives Trinken, lässt
jedoch offen, was genau darunter zu verstehen ist.
Was versteht man unter exzessivem Trinken?
Ab welcher Alkoholmenge man von exzessivem Trinken spricht, ist nicht klar
definiert. Der National Health Service1 und das Office for National Statistics in
Großbritannien setzen als Grenzwert einen Alkoholkonsum pro „Sitzung“ an,
der das Doppelte dessen übersteigt, was die behördlichen Richtlinien als
­Alkoholmenge mit niedrigem Risiko angeben.
Diesen Richtlinien zufolge ist das Risiko gering, wenn der regelmäßige
­Alkoholkonsum bei Männern nicht mehr als drei bis vier Einheiten und bei
Frauen nicht mehr als zwei bis drei Einheiten beträgt. Regelmäßig bedeutet in
diesem Zusammenhang: jeden Tag oder an den meisten Tagen der Woche.
Von exzessivem Alkoholkonsum wird gesprochen, wenn täglich mehr als das
Doppelte der als unbedenklich erachteten Menge getrunken wird. Dies entspricht bei Männern mehr als acht Einheiten Alkohol (etwa drei halbe Liter
Starkbier) und bei Frauen mehr als sechs Einheiten Alkohol (etwa zwei große
Gläser Wein).
Welche Auswirkungen hat exzessives Trinken?
Exzessives Trinken führt zu zahlreichen akuten und chronischen gesundheit­
lichen Folgeschäden, Verletzungen eingeschlossen. Der Zusammenhang
­zwischen dem Risiko für alkoholbedingte Morbidität und Mortalität und
sowohl der Gesamtmenge an konsumiertem Alkohol als auch dem Trink­
muster wurde wissenschaftlich untersucht.
Munich Re
RISIKOPRÜFUNG AKTUELL
Exzessives Trinken
Seite 2/4
Die Studien zeigen:
Exzessives Trinken erhöht das Risiko koronarer Herzerkrankungen.2
−−Es besteht ein Kausalzusammenhang zwischen exzessivem Trinken und
Schlaganfall sowie plötzlichem Herztod.3
−−Exzessives Trinken erhöht das Krebsrisiko. Betroffen sind insbesondere
Leber, Darm, Brust, Mund, Rachen, Kehlkopf und Speiseröhre. Alkohol ist die
Ursache von ca. vier Prozent der pro Jahr in Großbritannien auftretenden
Krebsfälle.4
−−Exzessives Trinken steht außerdem im Verdacht, das Brustkrebsrisiko bei
Frauen um ca. das 1,5-Fache zu erhöhen.5
Studien zeigen aber auch, dass ein niedriger bis gemäßigter Durchschnittskonsum im Vergleich zur Alkohol­abstinenz das Risiko für koronare Herzerkrankungen und das Mortalitätsrisiko senkt.6 Bei Männern und Frauen, die an fünf
oder sechs Tagen pro Woche ein bis zwei Drinks zu sich nahmen, war das
Risiko schwerer koronarer Ereignisse um zwei Drittel verringert. Bei höheren
Verzehrmengen kehrte sich das Risikoverhältnis um.
Wie viel Alkohol trinken wir wirklich?
Ob beim Beantworten von Umfragen zu Gesundheit und Lebensweise oder
beim Ausfüllen eines Lebensversicherungsantrags: Es besteht seit Langem
der Verdacht, dass Menschen die Angaben zum eigenen Alkoholkonsum
­niedriger halten, als es der Realität entspricht. Im Jahr 2013 versuchte ein
­Wissenschaftlerteam am University College London (UCL) zu bestimmen,
wie weit solche Angaben und der tatsächliche Alkoholkonsum in England
­auseinanderklaffen.
Die Forscher fanden heraus, dass bis zu 75 Prozent der britischen Bevölkerung
vermutlich mehr als die empfohlene Tagesmenge an Alkohol zu sich nehmen –
das ist ein weitaus größerer Bevölkerungsanteil als bisher angenommen.7
Abgeleitet wird diese Erkenntnis, die auf ein hohes Maß an exzessivem
­Alkoholkonsum schließen lässt, aus der Abweichung zwischen den Alkohol­
verkaufszahlen und der in Umfragen angegebenen Konsummenge.
Internationalen Schätzungen zufolge wird der eigene Alkoholkonsum leicht
um 40 bis 60 Prozent unterschätzt.8 Die Wissenschaftler vermuten, dass der
Anteil der erwachsenen Bevölkerung mit exzessivem Alkoholkonsum in
­England zugenommen hat:
−−um 20 Prozent bei Männern, daraus ergibt sich ein geschätzter Gesamtanteil
von 52 Prozent,9
−−um 28 Prozent bei Frauen, daraus ergibt sich ein geschätzter Gesamtanteil
von 56 Prozent.10
Wer trinkt zu viel?
Betrachtet man die Daten zu den pro Woche konsumierten Alkoholeinheiten
nach Regionen, sind die Menschen im Nordwesten, im Nordosten, in Yorkshire
und im Humber-Gebiet die stärksten Trinker.11 In den West Midlands und im
Osten Englands wird am wenigsten Alkohol getrunken, wenngleich die
­Mengen nah am Grenzwert der Richtlinien liegen.
Munich Re
RISIKOPRÜFUNG AKTUELL
Exzessives Trinken
Seite 3/4
Frauen, vor allem mit hohem Einkommen und im Süden Englands lebend,
­neigen am stärksten zu exzessivem Trinken, genauso wie Vielverdiener oder
Bewohner sozial benachteiligter Gebiete. Die Gründe dafür sind weitgehend
ungeklärt.12
Ein Forschungsbericht zu den Auswirkungen von Alkoholexzessen in der
Jugend auf das Erwachsenenleben gelangte zu dem Schluss, dass exzessives
Trinken bei Jugendlichen ein Risikoverhalten darstellt, das mit erheblicher späterer Armut und sozialem Ausschluss verbunden ist.13 Personen, die im
Teenager­alter und mit Anfang 20 viel trinken, entwickeln sich in den folgenden
25 Lebensjahren mit einer im Vergleich zu gemäßigten Alkoholkonsumenten
um bis zur zweifach erhöhten Wahrscheinlichkeit zu exzessiven Trinkern.14
Bereits in der Vergangenheit haben Studien gezeigt, dass übermäßiger Alkoholkonsum im Alter ein zunehmendes Problem ist. In England trinken zurzeit
28 Prozent der ­Männer und 14 Prozent der Frauen über 65 Jahre mehr als fünfmal die Woche Alkohol.15 Starkes Trinken ist in dieser Altersgruppe eng mit
Depression und Angststörungen sowie langfristigen Gesundheitsproblemen
verknüpft.16
Sollten diese Ergebnisse bei der Risikobeurteilung berücksichtigt werden?
Nimmt man die laut der UCL-Studie zu niedrigen Mengenangaben wörtlich,
wäre es eine Überlegung wert, die Angaben der Versicherungsantragsteller
zum Alkoholkonsum nach oben zu korrigieren. Insbesondere bei Antragstellern
aus den bereits genannten Risikogruppen – also etwa bei Vielverdienern und
solchen aus sozial benachteiligten Gebieten.
Eine Herausforderung wird dabei immer die Bewertung von Lifestyle-Risiken
auf der Grundlage von Selbstauskünften bleiben. Wenn die Versicherungsbranche in Betracht ziehen dürfte, ungenaue Angaben nach oben zu korrigieren, wäre eine g
­ enauere Bewertung dieser Risiken unter Umständen möglich.
Worauf sollten Risikoprüfer achten?
Die Risikoprüfung bei einem Antragsteller mit Alkoholmissbrauch in der
­Vorgeschichte kann sich als schwierig erweisen. Die Angaben sind oftmals
spärlich oder unzuverlässig. Bisweilen ist die einzige Möglichkeit, zu einer
­einigermaßen begründeten Einschätzung zu kommen, vorgelegte Evidenz­
daten wie erhöhte Leberwerte oder immer wieder auftretende Magen­
beschwerden als Hinweise heranzuziehen. Aus der Sicht des Risikoprüfers
könnten sich bei der Suche nach Hinweisen auf starkes und insbesondere
exzessives Trinken folgende Gruppen als gefährdet erweisen:
−−Jugendliche, die exzessiv trinken;
−−Vielverdiener, insbesondere Frauen im Süden Englands;
−−Bewohner sozial benachteiligter Gebiete;
−−Menschen über 65 Jahre mit mentalen und chronischen Gesundheits­
problemen;
−−Antragsteller mit widersprüchlichen Auskünften zum Alkoholkonsum, die
man beim Vergleich aktueller und früherer Anträge/Teleinterviews oder
beim Blick in Krankenhausbriefe und medizinische Befunde mit dokumentiertem Alkoholpegel entdeckt.
Munich Re
RISIKOPRÜFUNG AKTUELL
Exzessives Trinken
Seite 4/4
Alle diese Faktoren können auf eine Person hinweisen, die mit erhöhter
­Wahrscheinlichkeit exzessiv trinkt und bei der deshalb ein viel höheres Risiko
zur Entwicklung von Krebs, Schlaganfall und kardiovaskulärer Erkrankung
besteht.
Wie sieht die Zukunft aus?
Es sieht so aus, als würden in der Branche künftig robustere Informationen
über den landesweiten Alkoholkonsum aus vielen Quellen benötigt, einschließlich der Alkoholverkaufszahlen und Konsumerhebungen. Die Angaben jedes
Antragstellers zum Alkoholkonsum bei der Risikoprüfung einfach um beispielsweise 40 Prozent nach oben anzuheben, scheint eine eher grobe und
ungenaue Methode zu sein.
Wenn bestimmte Gruppen ihren Alkoholkonsum bewusst niedriger angeben,
als es den Tatsachen entspricht, wären weitere Untersuchungen zur Identifizierung der betreffenden Gruppen und ihrer Beweggründe hilfreich. Eine
Überlegung wert ist auch die Frage, ob Menschen dazu neigen, dem medizinischen Fachpersonal anstelle der vollständigen Wahrheit einfach zu erzählen,
was dieses ihrer Ansicht nach hören möchte.
Auch die UCL-Studie betont, dass Umfragedaten allein kein vollständiges
Bild des Alkoholkonsums oder anderer Aspekte zeichnen. Als Versicherungs­
industrie sollten wir daher auch weiterhin unsere eigenen Erkenntnisse über
alkoholbedingte Risiken etwa aus der Schadenregulierung oder anderen
­vertraulichen Daten heranziehen.
Am Beispiel des Alkoholkonsums wird erkennbar, welchen Einfluss die sogenannten Lifestyle-Faktoren auf die Risikoprüfung haben könnten. Bei der
­Diskussion über die mögliche Verwendung von Informationen zum Alkoholkonsum in der Risikoprüfung sollte die Versicherungsbranche sich daher die
Fragen stellen, wie sicher die Angaben der Antragsteller zu diesem Risiko­
faktor sind und ob diese Angaben objektiv nachprüfbar sind.
Kontakt
Literatur
1http://www.nhs.uk/Livewell/alcohol/
Pages/Bingedrinking.aspx.Copyright
@2013, Wiedergabe mit freund­licher
Genehmigung des Health and Social
Care Information Centre. Alle Rechte
vorbehalten.
Ute Szesnat
Underwriting Consultant
Abteilung Leben Deutschland/Schweiz
Tel.: +49 89 38 91-62 45
Fax: +49 89 38 91-7 62 45
[email protected]
© 2015
Münchener RückversicherungsGesellschaft
Königinstraße 107, 80802 München
Bestellnummer 302-08275
NOT IF, BUT HOW
2, 3, 6
Alcohol-Related Morbidity and
­Mortality – Jürgen Rehm, Ph.D., Gerhard
Gmel, Ph.D., Christopher T. Sempos,
Ph.D., and Maurizio Trevisan, M.D., M.S.
4http://www.cancerresearchuk.org/
cancer-info/healthyliving/
alcohol//1/2014
5http://www.nhs.uk/Livewell/alcohol/
Pages/Effectsofalcohol.aspxcopyright
@2013, Wiedergabe mit freund­licher
Genehmigung des Health and Social
Care Information Centre. Alle Rechte
vorbehalten.
7, 9, 10, 11, 12
Boniface S, Shelton N. How is
alcohol consumption affected if we
account for under-reporting? A
­hypothetical scenario. Eur J Public Health
2013;23:1076-81.
8
Weltgesundheitsorganisation – Global
Status Report on Alcohol 2004
13Adult
outcomes of binge drinking in
­ dolescence: findings from a UK national
a
birth cohort – R M Viner, B Taylor
14http://www.ias.org.uk/resources/
factsheets/binge_drinking.pdf
15NHS
Information Centre (2011) Statistics
on Alcohol: England, 2011 [NS]. Office for
National Statistics.
16A
Qualitative Study of Alcohol, Health
and Identities among UK Adults in Later
Life – Graem B. Wilson, Eileen F S Kaner,
Jonathan Ling, Karen McCabe &
­Catherine A Haighton.