„Je geringer die Bildung der Eltern, desto schlechter geht es den

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„Je geringer die Bildung der Eltern,
desto schlechter geht es den Kindern“
Studie: Mangelernährung in unteren Schichten / Lebenserwartung geringer als bei gut situierten Familien
n Eine neue Studie des Uniklinikums
Leipzig offenbart erschreckende Ergebnisse: Je geringer das Einkommen
und die Bildung der Eltern sind, desto
schlechter ist die Gesundheit der Kinder. Hinzu kommen deutlich verminderte Bildungschancen. „Für diese
Kinder steht die Ampel bereits auf
Gelb“, warnt Professor Wieland Kiess,
Chef der Uni-Kinderklinik und Betreuer der Forschungsarbeit. Denn
die Langzeitwirkung sei verheerend:
„Die Lebenserwartung ist deutlich
geringer als bei Kindern, die aus gut
situierten Familien stammen.“
Im Rahmen des Großforschungsprojektes
LIFE waren für die Studie 2200 Kinder
zwischen zwei und 19 Jahren untersucht
worden. Dem Forscherteam ging es dabei
insbesondere um die Hämoglobin-Werte
und den Eisen-Haushalt. Das Resultat: Die
Werte von Kindern aus einkommensschwachen und weniger gebildeten Familien weisen bereits bedenkliche Defizite auf.
„Man wird müde, ist unkonzentriert, weist
Lernschwächen auf und verfügt über weniger Ausdauer beim Sport“, erklärt der
Leipziger Kinder-Spezialist die Folgen. Aus
anderen Studien ist bekannt, dass Kinder
aus unteren Schichten erheblich schlechtere Kalzium- und Vitamin-D-Werte aufweisen. „Eine der Ursachen ist die Ernährung,
hinzu kommt Bewegungsmangel“, macht
Kiess klar und spricht von einem „verheerenden Kreislauf“.
Eine weitere Studie, die an der Leipziger
Hochschule für Technik, Wirtschaft und
Kultur (HTWK) angefertigt wurde, macht
für gesundheitliche Defizite auch das
Wohnumfeld verantwortlich. „Wir haben
festgestellt, dass Kinder, die in benachteiligten Stadtteilen aufwachsen, eine höhere
Wahrscheinlichkeit für Übergewicht und
eine reduzierte Motorik aufweisen, daneben hängen die schulischen Leistungen zurück“, sagt die HTWK-Sozialpädagogin
Ulrike Igel. So seien Kinder aus Stadtteilen,
die einen überdurchschnittlichen Anteil
von Hartz-IV-Empfängern aufweisen, in
einem viel schlechterem gesundheitlichen
Zustand als in besseren Vierteln.
Als Konsequenz aus den Leipziger Ergebnissen mahnt Sachsens Sozialministerin
Barbara Klepsch (CDU): „Für mich steht
Aufklärung an erster Stelle. Denn auch
ohne großen finanziellen Aufwand kann
man Kinder gesund ernähren, sie zu Bewegung an frischer Luft animieren und ihnen
Anregungen für ihre mentale Entwicklung
bieten.“ Deshalb habe die Landesregierung
etwa Gesundheitsziele ausgegeben und fördere verschiedene Programme. „Denn ‚Gesund aufwachsen‘ beginnt auch in unseren
Kitas“, erklärt Barbara Klepsch. Ihre Thüringer Amtskollegin Heike Werner (Linke)
sieht in Kita-Modellprojekten des Landes
für mehr Bewegung und gesunde Ernährung einen ersten Schritt. „Maßnahmen
für die Kindergesundheit und den Kinderschutz müssen aber stetig weiterentwickelt
werden“, so die Sozialministerin. Hierbei
seien insbesondere auch die Gesundheitspolitiker gefordert. „Wir müssen gemeinsam alle Anstrengungen unternehmen, damit Kinder und Jugendliche die
Eisen-Werte, denn auch in den Cerealien
ist Eisen enthalten. Viele Menschen denken: Hauptsache Fleisch, dann klappt es
mit dem Eisen-Haushalt. Doch das hat
keine Allgemeingültigkeit. Menschen mit
einem geringeren Bildungshintergrund
und weniger Einkommen essen häufig viel
Fleisch, doch diesen Menschen fehlen diejenigen Stoffe, die das Eisen binden und
transportieren. Auch die Umgebung, das
Zuhause, spielt eine nicht zu unterschätzende Rolle.
Ulrike Igel: Wir haben Stadtteile untersucht, in denen der Anteil von SozialgeldEmpfängern bei 70 Prozent liegt – die
Kinder sind in einem viel schlechteren gesundheitlichen Zustand als in besseren
Vierteln. Nicht nur mangelhafte, unausgewogene Ernährung ist hier weit verbreitet,
sondern auch die Neigung zu starkem
Übergewicht. Es spielt sicherlich vieles hinein – etwa Ernährung, Wohnumfeld und
Bewegung.
In schlechter situierten Familien bleiben Kinder oftmals sich selbst überlassen – mit Folgen auch für
ihre Gesundheit.
Foto: dpa
n Das heißt, diese Kinder verfügen auch
über geringere Chancen, in der Bildung
aufzusteigen?
angehören. Wir haben 2200 Kinder zwischen zwei und 19 Jahren untersucht, und
die Werte werden schlechter, je schlechter
es den Kindern zu Hause geht. Das Tragische ist: Hier wird der Grundstein für die
weitere gesundheitliche Entwicklung gelegt. Diese Kinder werden schon heute –
und als Erwachsene erst recht – länger
brauchen, um sich beispielsweise nach einer Infektion oder einer Operation zu erholen. Letztlich bedeutet das auch: Die
Lebenserwartung ist erheblich geringer als
bei Kindern, die aus gut situierten Familien stammen.
Wieland Kiess: Ja, und für uns heißt das,
die Zusammenhänge noch besser zu erklären. Ein Elternhaus mit geringerem
Einkommen und geringerer Bildung beeinträchtigt nicht nur die Gesundheit,
sondern reduziert auch die Möglichkeiten
einer besseren Bildung für die Kinder. Das
ist ein verheerender Kreislauf. Schon jetzt
ist festzustellen, dass die Schere zwischen
Arm und Reich auseinanderklafft: Es gibt
einerseits Familien, denen es sehr gut geht
– andererseits bewegen sich viele Familien
zunehmend am Existenzminimum, meist
mit einhergehender niedriger Bildung.
n Hinzu kommen noch Umwelteinflüsse,
die Sie ebenso erforschen.
Ulrike Igel: Wir haben festgestellt, dass
Kinder, die in benachteiligten Stadtteilen
aufwachsen, eine höhere Wahrscheinlichkeit für Übergewicht und eine reduzierte
Motorik aufweisen, daneben hängen die
Schulleistungen zurück. Es liegt also nicht
nur an der Bildung der Eltern, sondern
auch am Einfluss der näheren Umgebung.
Deshalb muss nicht nur gegen eine Gentrifizierung, sondern auch gegen eine
Ghettoisierung gearbeitet werden. Wichtig
wäre eine gesunde Mischung von allen
Schichten, statt bestimmte Stadtteile zu
stigmatisieren.
bestmöglichen Chancen für eine optimale
Entwicklung haben – und zwar unabhängig von ihrer sozialen Lage.“
Je geringer das Einkommen und die Bildung der Eltern, desto schlechter die Gesundheit und Bildungschancen der Kinder
– das offenbart die Studie des Leipziger
Universitätsklinikums. Wieland Kiess, der
Chef der Uni-Kinderklinik, und Ulrike
Igel, Sozialpädagogin von der HTWK
Leipzig, erklären diese Entwicklung.
n Frage: Professor Kiess, was ist die Botschaft der neuen Studie, die Sie gemeinsam
mit Ihrem Team und vor allem der Doktorandin Kristin Rieger angefertigt haben?
Prof. Wieland Kiess: Je höher der Wohlstand und die Bildung der Eltern ist, umso
besser sind die Hämoglobin-Werte und
der Eisen-Haushalt der Kinder – und desto gesünder sind die Kinder. Oder anders:
Je geringer das Einkommen und die Bildung der Eltern sind, desto schlechter geht
es den Kindern. Für diese untersuchten
Kinder steht die Ampel bereits auf Gelb.
Ganz ehrlich: Als ich die Werte zum ersten
Mal gesehen habe, war ich schockiert.
n Welche Konsequenzen hat der EisenMangel?
Wieland Kiess: Man wird müde, ist unkonzentriert, weist Lernschwächen auf,
verfügt über weniger Ausdauer beim
Sport, ja, man schläft in der Schule vielleicht ein. Diese Kinder haben aufgrund
des Elternhauses erheblich schlechtere
Chancen, sowohl die Bildung als auch die
Gesundheit betreffend.
n Gibt es bereits Krankheitsmuster?
Wieland Kiess: Wichtig ist: Die Kinder
sind noch nicht krank – doch sie sind in
einem deutlich schlechteren Zustand als
Kinder, die nicht den unteren Schichten
Wieland Kiess: Ja, in einem EU-Projekt, in
dem wir gemeinsam mit schwedischen
Wissenschaftlern arbeiten, untersuchen
wir jetzt die Einflüsse von Weichmachern
in Verpackungen und Spielzeugen auf die
Gesundheit. Die Hinweise sind sehr stark,
dass Kinder, die mit diesen Weichmachern
konfrontiert werden, unter gravierenden
Langzeitfolgen leiden. Dazu gehört unter
anderem eine verminderte Sprachentwicklung. Auch die Fruchtbarkeit kann
später beeinträchtigt werden. Insgesamt
schließt sich der Kreis wieder zu Einkommen und Bildung: Wer über einen geringeren Wohlstand verfügt, kauft aufgrund
des Preises häufiger eingeschweißte Waren, statt sich durch frische Produkte zu
ernähren. Das Gleiche gilt für Plastespielzeug, das in unteren Schichten weit verbreitet ist.
n Worin sehen Sie die Ursachen für diese
schlechte gesundheitliche Entwicklung?
Wieland Kiess: Es gibt nicht die eine Erklärung. Eine der Ursachen ist sicherlich
die Ernährung, hinzu kommt in vielen
Fällen auch Bewegungsmangel. Wenn ein
Kind mehr Zucker isst als Cerealien, also
Getreideprodukte wie Müsli, sinken die
n Die Mieten in Plattenbausiedlungen
sind geringer als in guten Wohnlagen. Eine
bessere Mischung wird kaum möglich
sein.
Ulrike Igel: Daran muss aber gearbeitet
werden. Hier sind unter anderem die
Stadtplaner gefragt. Denn es ist genauso
bedenklich, wenn nur finanziell Bessergestellte in bestimmten Stadtteilen leben,
und in anderen überwiegend Arme. Menschen müssen Erfahrungen und auch Lebensmodelle austauschen, ansonsten
grenzen sich die Schichten voneinander
ab. Für das Gemeinwesen, für die Gesellschaft hat das gefährliche Folgen. Die Anzeichen sind bereits deutlich zu sehen.
Interview: Andreas Debski
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