Leseprobe PDF - Safeta Obhodjas

Sandra (Ausschnitte aus dem Roman „Die Bauchtänzerin)
von Safeta Obhodjas
An diesem herrlichen Sommertag kamen wir in der
Kosmopolitischen Straße Nummer 23 früher als die anderen Gäste
an. Ivo wollte sich ein bisschen umsehen, um schöne
Hintergrundmotive für seine Aufnahmen auszuwählen.
Dort angekommen, lief ich sofort in den Garten, der in dieser
Jahreszeit in voller Blüte stand. Die Herrin dieser bunten Pracht war
Tante Haruna, deren Wohnung sich im zweiten Stock des Hauses
befand. Sie trug wie immer ihre bosnische Tracht mit Pluderhose und
Spitzenkopftuch; deshalb fotografierte ich sie gern. Der Garten war
ihr ganzer Stolz, und sie war immer entzückt, wenn sich jemand für
ihre Blütenpracht interessierte. In der Sonne leuchteten das Orange
der Kürbisse, das Rot der am Zaun hängenden Schotenbohnen, im
üppigen Kartoffelgrün wiegten sich weißlila Blüten. Meine
Bewunderung rief nur Harunas Seufzer hervor, ach, wenn die
Familie ihres Bruders so dächte und ein bisschen Dankbarkeit für
frisches Gemüse aus dem Garten zeigen würde. Alle waren nämlich
überzeugt, es sei billiger, wenn man es auf dem Markt einkauft.
Als ich mich gerade fragte, ob Vildana sich vor mir versteckte,
erschien sie an der Tür zwischen den benachbarten Gärten, die den
Mulićs und Savićs gehörten. Ich hatte sie noch nie zuvor mit so
düsterer Miene gesehen.
- Lächeln, bitte! - rief ich und drückte den Auslöser, ehe sie es
schaffte, ihre schlechte Laune zu verbergen. Ich machte gern
Überraschungsfotos, weil ich später damit meine Modelle ärgern
wollte. Einige mürrische Gesichter boten mir Geld an, um ihre
hässlichen Bilder in meinem Archiv vernichten zu dürfen. Ich hatte
mir immer gewünscht, Vildana einmal in schäbigen Klamotten zu
erwischen. An diesem Tag war sie, wie üblich, wie für den Laufsteg
herausgeputzt. Sie trug ein dunkelrotes Kleid, mit tiefen Schlitzen
auf beiden Seiten des Rockes, und viele silberne Armbänder, die bei
jeder Bewegung klirrten. Egal ob abends oder morgens, in der
Schule oder zu Hause, man sah sie niemals nachlässig gekleidet.
- Wo sind deine Gäste? - fragte ich neugierig.
- Sie sind nicht meine Gäste - erwiderte sie grob und überging
meinen Versuch, sie herzlich zu begrüßen. - Ich will in die Stadt
gehen, möchtest du mit?
Aber bevor sie sich aus dem Staub gemacht hatte, erschien ihre
Mutter am Küchenfenster und befahl ihr, den Tisch auf der Veranda
zu decken.
- Ich soll diese Kreaturen auch noch bedienen, mich bedanken, weil
sie mir jeden Sonntag kaputt machen! Diese Fremden sind meinen
Eltern wichtiger als ich - nörgelte Vildana und pflückte die ersten
roten Früchte von den niedrigen Ästen des Kirschbaums. Sie
bewegte sich erst in Richtung Veranda, nachdem ihr Edina mit einer
Strafe gedroht hatte.
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Ich ging hinter ihr her, neugierig zu erfahren, warum Vildana Amars
Kommilitonen so verabscheute.
Am Tisch, den sie decken sollte, saß ein junger Mann und las in
einem Buch mit arabischer Schrift. Er überhörte meinen Gruß,
sprang auf und wollte seinen Platz verlassen. Aber Vildana reagierte
schnell, verrückte den Tisch und versperrte ihm den Weg. Er stand
eng an der Wand, sie aber setzte sich auf den Tisch direkt vor ihn hin
und schaute ihn herausfordernd an. Aus dieser Falle konnte er sich
nicht befreien, ohne sie beiseite zu schieben. Der Junge senkte den
Kopf, und das Rot, das durch seinen dunklen Teint loderte, ließ
deutlich erkennen, wie peinlich ihm die Situation war. Ich fragte sie
leise, welcher Teufel in sie gefahren sei.
- Isa, das ist meine Freundin Sandra. Sandra, darf ich dir Isa, Amars
Freund vorstellen? Zusammen mit seiner Schwester studiert er
Medizin an der Uni in Sarajevo. Seit einem Jahr lebt er in unserem
Land und, kannst du dir das vorstellen, bis jetzt hat er nicht gelernt,
wie man sich bei uns begrüßt. Mädchen begrüßt er überhaupt nicht,
sie sind es nicht wert … Isa, gib meiner Freundin deine Hand, sie
wird sie nicht abbeißen. Sag, du freust dich, sie kennenzulernen!
Isa stand wie angewurzelt da, und ich versuchte Vildana zum
Aufstehen zu bewegen. Sie weigerte sich und klappte sein Buch zu.
- Wie kann man das lesen? Hat diese Schrift überhaupt Buchstaben?
- Das sind Buchstaben wie bei der lateinischen Schrift - über seine
Stirn liefen Schweißtropfen. Aber er sprach ziemlich deutlich.
- Wer hätte das gedacht, er kann sprechen!
Er wischte die Stirn mit dem Ärmel und beugte sich nach vorne, als
ob er den Tisch überspringen wollte. Sein Atem wurde immer lauter.
- Eure Sprache ist schwierig - murmelte er.
- Dein Pech, du musst meine Sprache lernen, ich deine nicht. Etwas
interessiert mich. Fühlst du dich wohl in unserem Land?
- Ja, das Land ist schön, und ich studiere gern hier.
- Nur studieren? Hier ist es schön zu leben! Hier kann man viel Spaß
haben, mit Mädchen ausgehen. Gefällt dir meine Freundin Sandra?
- Vildana, lass ihn in Ruhe! Edina hat gesagt, wir sollen … - ich hatte
Mitleid mit diesem Jungen. Meine Proteste waren ihr jedoch egal.
- Ihr seid in unserem Land, seid Gäste in meinem Elternhaus. Bei
uns sind Menschen unerwünscht, die nicht lachen können. Ein
Lächeln, bitte, Sandra will dich fotografieren!
Isa Daraj sprang hoch, stieß den Tisch samt Vildana beiseite, und sie
landete auf dem Boden, wobei sie mit dem Arm gegen das Tischbein
schlug. Sie schrie auf vor Schmerz und rief Isa Beschimpfungen
hinterher.
Amar kam im Morgenmantel aus dem Haus gelaufen, ein Handtuch
auf dem Kopf - offensichtlich war er gerade unter der Dusche
gewesen -, packte seine Schwester an der Schulter, zog sie hoch und
verabreichte ihr einen Klaps.
- Lass meine Freunde in Ruhe, du verwöhnte Göre, sonst bekommst
du eine Tracht Prügel!
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- Papa, Papa, er bedroht mich, dein Sohn schlägt mich - rief Vildana
aus vollem Hals, dann beschimpfte sie ihren Bruder. - Ich sage dir,
schlepp sie nie mehr hierher, sie leben noch hinter dem Mond!
Im letzten Moment rettete Besim Vildana vor dem Zorn seines
Sohnes.
- Papa, sag deiner verwöhnten Tochter, sie soll meine Freunde nicht
heruntermachen! Mein Freund Isa ist ein frommer Muslim, für ihn
sind islamische Bräuche heilig. Sie erlauben ihm nicht, sich mit
einem Mädchen zu unterhalten. Und sie benimmt sich wie ein
Straßenmädchen und zerstört unsere Gastfreundschaft.
- Ich habe genug von deinen Heiligen! Und von deiner
Inkonsequenz! Unser Onkel Murat war für dich wegen seiner
Frömmigkeit ein Mensch aus dem Mittelalter. Und diesem Fremden
sollen wir unsere Ehre erweisen!
Ich musste lachen, weil Vildana einen gesunden Verstand besaß und
jeden mit seinen eigenen Waffen schlagen konnte. Onkel Murat, der
unlängst verstorbene Ehemann von Tante Haruna, war in der Familie
immer gehänselt und ausgelacht worden, weil er Freude an
islamischen Bräuchen, am Fasten und Beten empfand.
- Mein Onkel war ein lieber, humorvoller Mensch, der uns alle mit
dem Musizieren auf seiner Saz beglückte. Fromm oder nicht, Amars
Kommilitonen lachen nie, sitzen da wie Mumien!
Obwohl sich Vildana trotzig aufführte und Amars Gastfreundschaft
laut verfluchte, umarmte ihr Vater sie und versuchte sie zu
beruhigen. Liebevoll belehrte er sie über die Situation ihrer Gäste.
Es schien, diese Fremden stammten gar nicht aus einer SultansSippe, wie man in der Čaršija vermutete. Besim beschrieb sie als
unglückliche Menschen, die heimatlos geworden waren. Von einer
sorglosen Jugend, die junge Leute in unserem freien Land genießen
durften, konnten sie nur träumen. Unsere Regierung unterstütze alle
Befreiungsbewegungen gegen Diktatoren und Okkupanten in der
Welt. Das sei praktisch die Grundlage ihrer Außenpolitik, dadurch
sei unser Land berühmt geworden und habe in der politischen Szene
Glaubwürdigkeit gewonnen. Deshalb gäbe sie zum Beispiel jungen
Menschen aus Palästina eine Chance, an den Universitäten hier im
Land zu studieren.
- Liebe Tochter, Gott bewahre uns vor dem, was unsere Gäste in
ihrem Land durchmachen mussten - ergänzte Besim seine lange
Rede, nachdem er alle Argumente aufgeführt hatte.

Warum ziehst du jetzt Gott hinein? Du glaubst doch gar nicht
an ihn! Das hast du mir neulich erst gesagt und auch behauptet, es
sei dir egal, ob du ein Muslim oder ein Außerirdischer bist - lachte
die Tochter ihn aus.
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Vildana
Gerade in jener Zeit, als ich es in der Čaršija zu etwas gebracht hatte,
fiel der Schatten von Amars „Prinzessin aus der Ferne“ über mich.
Besim nahm die Geschwister Daraj auf, als ob sie unsere armen
Verwandten oder seine begabten Schützlinge aus dem Jugendheim
wären. Am Tag, als ihr Besuch angekündigt wurde, brachte er
mehrere Kisten mit Fleisch, Gemüse und Obst nach Hause. Alles war
frisch, direkt von Bauern gekauft, damit Edina und Haruna sie
richtig bekochen konnten. Früher mal wurde bei uns am Esstisch
über ein paar obdachlose Kinder geredet, jetzt aber sprach man vom
Schicksal eines ganzen obdachlosen Volkes.
Eines Tages konnte ich solche Gespräche nicht mehr ertragen. Ich
hasste alle, die unsere häusliche Ruhe störten. Doch offensichtlich
merkte keiner, wie die Anwesenheit der Geschwister die Atmosphäre
in meinem Elternhaus niederdrückte. Wenn sie in der Tür erschienen,
wich aus meinem Zuhause jede Freudigkeit und Spontaneität,
verstummte jedes Lachen. Alle änderten sofort ihr Verhalten, es kam
mir vor, als ob mit den Darajs zwei Schwerkranke ins Haus
gekommen wären, die wir mit unserer Hingabe und Pflege vor dem
Tod bewahren sollten. Und ich selbst wurde in Rashidas Schatten
unsichtbar.
- Mama, hallo Edina, ich habe heute wunderbar getanzt, deshalb
wurde ich in die erste Gruppe hochgestuft. Unsere Choreographin
Dara Miač, die deine Ethnoperlen nicht mochte, du kennst sie, sie
sagte …
- Kind, darüber sprechen wir später, ich will jetzt hören, was Isa und
Rashida von ihrer Heimat erzählen.
- Papa, Papa, du hast versprochen, mir das Geld für den Nähkurs zu
spendieren. Ich habe gesehen …
- Tochter, wir werden morgen darüber reden. Jetzt muss ich mich um
unsere Gäste kümmern. Meine Lieben, möchtet ihr etwas trinken?
Eine selbst gemachte Limonade oder Harunas Rosenwasser?
Jedes Mal hatten die Darajs eine Fortsetzung ihrer Horrorgeschichte
im Gepäck, an deren Wahrheit jeder gesunde Verstand zweifeln
musste.
Wenn es um seine Heimat ging, war Isa sehr redselig, da konnte er
plötzlich fließend Bosnisch sprechen. Wahrscheinlich, weil er diese
ewig abgedroschenen Schlagworte und Parolen schon auswendig
kannte: Feinde seines Landes, Feinde seines Volkes, Bürgerkrieg,
Heiliger Krieg, Befreiungskrieg, Krieg gegen Zivilisten, Leid der
Vertriebenen in den Flüchtlingslager … Alles, was er erzählte,
saugten Amar und Besim auf, als ob es sich um die schönsten
Märchen aus „Tausendundeine Nacht“ handelte. Wenn die DarajGeschwister es versäumten, uns am Wochenende mit ihrem Besuch
zu beglücken, bemühte sich Besim, mit ihrem Geist zu
kommunizieren. Er verfolgte die Berichte über die Lage im Vorderen
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Orient im Fernsehen oder in den Zeitungen und kommentierte sie
lautstark, damit ihr Drama uns in jeder Ecke des Hauses erreichen
konnte.
- Was machen die Gnadenlosen mit diesem Volk? Schon wieder
haben sie Beirut bombardiert! Das war eine Weltmetropole, das sage
ich euch! Diese Verbrecher, sie haben die Stadt in Schutt und Asche
verwandelt.
Er verfluchte die Politik der Weltmächte, die die Völker des Orients
seit jeher aufhetzten, sich gegenseitig zu bekämpfen. Die Vereinten
Nationen bezeichnete er als einen Tiger ohne Zähne. Deren Appelle
hätten nie Menschenleben gerettet, sie seien nicht fähig, wirklich
etwas zu unternehmen, um einen Genozid der kleinen Völker zu
verhindern.
- Besim, beruhige dich, bitte, was können wir dagegen tun? - Edina
war immer realistischer als er. - Sogar unsere Regierung kann nicht
helfen. Amars Freunde tun mir leid, aber die Weltpolitik geschieht
weit weg von uns.
- Ich denke, die zwei sollten glücklich sein, aus dieser Hölle
entkommen zu sein - kommentierte ich. - Papa, sag Amars Freunden,
sie sollen ihre alte Heimat vergessen und das Leben in unserem
Land, wo Freiheit und Frieden herrschen, genießen!
- Vildana, behalte deine dummen Sprüche für dich. Wer kann seine
Verwandten in Not vergessen, oder seine unglückliche Kindheit.
Misch’ dich nicht in Sachen ein, die du mit deinem Spatzenhirn nicht
erfassen kannst – fuhren sie mich einstimmig an. - Du musst das
nicht verstehen, mach nur, was man dir sagt, und halte den Mund!
Das aber wollte ich gerade nicht. In Anwesenheit unserer Gäste
sollte ich still sein, mich artig benehmen und anständig kleiden.
Erwünscht waren nur lange Röcke und bis zum Hals zugeknöpfte
Blusen. Die ganze Familie empörte sich plötzlich, wenn ich einen
Minirock oder ein T-Shirt mit tieferem Ausschnitt anzog. Haruna
klärte mich auf, warum es für ein Mädchen beschämend sei, sich mit
nackten Beinen und herausgestreckten Brüsten vor einem Heiligen
zu zeigen. Ich durfte ihn nicht in Versuchung bringen.
- Warum habe ich meine schönen Beine, wenn ich sie nicht zeigen
darf? Er kann mir seine Beine zeigen, ich habe nichts dagegen. Das
sind nur Körperteile - verlachte ich ihre Argumente. Aber Edina hatte
die passende Erziehungsmethode parat, um mich gefügig zu machen:
entweder einen langen Rock am Wochenende, wenn diese Kreaturen
bei uns gastierten, oder zwei Mal keine Tanzprobe.
Das Tanzen war meine ganze Glückseligkeit, und ich wollte nicht
riskieren, auf meine Tanzstunden verzichten zu müssen. Deshalb
schlüpfte ich in die vorgeschriebenen langen Röcke, machte aber auf
beiden Seiten hohe Schlitze. Ich wollte den Heiligen provozieren und
mich dabei für meine gestohlene unbeschwerte Jugend rächen.
Wer hätte das gedacht - der erste, dessen Nerven und Geduld vor der
Hartnäckigkeit und Engstirnigkeit des Studenten aus der Fremde
kapitulieren sollten, war Besim. An einem Samstag nach dem
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Mittagessen deckte Edina den Kaffeetisch auf der Veranda. Zum
Kaffee servierte Tante Haruna die traditionellen Kuchen, Baklava
und Hormašica.
Das Gespräch am Tisch nervte mich, wie immer. Ich setzte mich auf
die Schaukel im Hof, die Besim für meine kleinen Cousinen gebaut
hatte. Nachdem ich meinen Kuchen aufgegessen hatte, war mir eine
kleine Gemeinheit eingefallen: Ich begann kräftig zu schaukeln und
freute mich darauf, dass das Knarren der ungeölten Scharniere die
Familie und die Gäste bei ihrem politischen Geplapper stören würde.
Mein Vater versäumte nie, sich über sämtliche Weltkatastrophen zu
informieren. Vorige Woche hatte man in den Nachrichten einen
Bericht aus den palästinensischen Gebieten und dem Libanon
ausgestrahlt. Zwei Lager, in denen vertriebene Palästinenser aus
Israel lebten, wurden dort von wilden Soldaten und Milizen
vernichtet, wobei Tausende Zivilisten umgekommen waren. Besim
wollte Isa seine Solidarität beweisen, aber diesmal grollte er nicht
gegen die Vereinten Nationen und gegen die Weltmächte, sondern
gegen die Diktatoren und Führer im Nahen Osten.
Ich schaukelte schneller, weil ich das Gerede übertönen wollte: Ein
Flug nach vorne ganz hoch, wo sich für eine Sekunde der Blick auf
den leicht bewölkten Himmel über den Dächern öffnete. Auf dem
Flug zurück schaute ich in die Krone des Kirschbaums, an dessen
Ästen sich die Früchte schon rötlich färbten.
Immer mehr Wortfetzen meines Vaters drangen an mein Ohr. Ich
verlangsamte mein Schaukeln, wollte ich doch verstehen, warum er
plötzlich so laut wurde. Auch das war nichts Neues, er beschuldigte
die Diktatoren wegen ihres Nichtstuns: Sie hätten nicht einen Finger
krumm gemacht, um das Massaker zu verhindern und achttausend
Unschuldige zu retten!
Ich flog wieder in Richtung Čaršija. Eine Wolke am Himmel hatte
die Gestalt einer Bühne. Ich dachte: Schade, die Ketten an der
Schaukel sind zu kurz, sie können mich nicht hoch genug tragen. Ich
möchte so gern auf dieser Wolke tanzen, damit mich die ganze Stadt
bewundern kann.
- Papa, Papa, du musst mir eine größere Schaukel bauen! Ich will
über die Stadt fliegen! - rief ich, um seine Aufmerksamkeit auf mich
zu lenken. Aber er hörte mich nicht und benahm sich äußerst
merkwürdig. Mit den Händen fuchtelte er um seinen Kopf herum, als
ob er ihn vor einem Wespenschwarm schützen wollte. Ich unterbrach
meinen Flug, weil ich fürchtete, ein Insekt hätte ihn gestochen. Nein,
Besim schäumte nur vor Wut und brüllte auf Isa ein, endlich die
Augen zu öffnen und diese Verlogenheit zu durchschauen. Der Junge
solle endlich zugeben, dass die palästinensischen Führer eine infame
Rolle in diesem Bürgerkrieg gespielt hätten. Sie seien alles andere
als unschuldig, im Prinzip seien sie Feiglinge und Verräter des
eigenen Volkes.
Isa sprang auf, gestikulierte wild und schrie Besim an: Er könne
keinem Menschen erlauben, seine Führer zu beleidigen. Keiner in
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Europa kenne die Situation dort. Ohne seine führenden Häupter wäre
sein Volk längst untergegangen.
Die Szene auf der Veranda versprach, interessant zu werden. Ich gab
mein Schaukeln auf, um diesen Streit miterleben zu können. Vaters
Schreien begeisterte mich.
Papa, verjag sie von unserem Hof, dachte ich. Schick sie weg, weg,
endlich weg, sie haben unsere Gastfreundschaft missbraucht!
Doch wieder enttäuschte mich mein Vater. Er wollte sie nicht
hinauswerfen, sondern nur dem Jungen einiges klarmachen. Er fragte
ihn, ob die palästinensischen Führer etwa Heilige seien, die man
nicht kritisieren dürfe. Es sei doch offensichtlich, dass sie im
Libanon nur an die Rettung ihrer eigenen Haut gedacht hätten; das
Schicksal der Vertriebenen sei ihnen egal gewesen. Diese Gauner
hätten das Elend des Volkes ausgenutzt und sich die Taschen mit
Gütern der humanitären Hilfe vollgestopft. Dieser unverdiente
Reichtum gäbe ihnen die Möglichkeit, in jedem Land der Welt, sogar
in Amerika, angenehm zu leben.
- Herr Besim, was erzählen Sie da, was wissen Sie von unserem
Land? - Isa war tief beleidigt.
- Mehr als du! Meine Gattin ist Historikerin, sie kennt die
Geschichte eures Landes besser als ihr. Eure Führer sollten die
Strategie unserer Befreiungskämpfer lernen. Unsere Antifaschisten
haben während des Zweiten Weltkriegs zuerst die Schwächeren
beschützt. 1943 haben Titos Einheiten viertausend Verwundete und
unzählige Zivilisten aus der Belagerung der Faschisten gerettet. Nur
weise und moralbewusste Ideologen und Führer können einem Volk
dazu verhelfen, sich von der Herrschaft Fremder zu befreien und
über das eigene Schicksal zu bestimmen.
- Besim, bitte, kannst du nicht etwas leiser reden, die ganze
Nachbarschaft kriegt das mit! - mahnte ihn seine Schwester.
Isa war so aufgeregt, dass er nicht mehr Bosnisch sprechen konnte.
Alles, was er über die Lippen brachte, war nur noch ein Stottern und
Zischen, und er sah Amar hilfesuchend an. Mein Bruder mied seinen
Blick und lächelte verlegen, weil er nicht Partei ergreifen wollte.
Dann mischte er sich doch in die Diskussion ein, versuchte aber,
neutral zu bleiben:
- Papa, bitte, beruhige dich, du bist nicht in deinem Büro, und Isa ist
nicht dein Sekretär. Hör zu, was er zu sagen hat!
Ich verhielt mich mucksmäuschenstill auf meiner Schaukel und
genoss Vaters Ärger mit Isa.
Sie werden uns bestimmt nie mehr besuchen, triumphierte ich.
- Die Führer, die nicht an Allah glauben, können auf keinen Fall
bessere Beschützer ihres Volkes sein als diejenigen, die durch ihren
Glauben stark geworden sind - Isa hatte leider seine Zunge wieder
im Griff. – Wir haben jetzt vielleicht verloren, aber unser Glaube an
Allah und seinen Segen wird uns wieder stark machen; wir werden
eines Tages unseren Feind besiegen und einen unabhängigen Staat
Palästina gründen.
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Sooft Isa Gottes Segen als Argument benutzte, sprang Besim hoch,
als ob er Stromschlägen ausgesetzt wäre:
- Mein Junge, mit diesen Männern werdet ihr eine ganze Ewigkeit
darauf warten müssen. Allahs Wille allein kann das nicht schaffen.
Alle, die so denken wie du, haben keine Ahnung von der
Wirklichkeit. Gott wird nicht helfen, wenn man nur betet, aber nichts
unternimmt, um die eigene Lage zu verbessern. So steht es auch im
Koran, ich habe das Heilige Buch gelesen. Du darfst dein Schicksal
nicht nur Gott überlassen. Zuerst müssen die Menschen begreifen,
was Humanität und Moral bedeuten. Nur wenn sie sich verteidigen
und um Gerechtigkeit kämpfen, können sie auf Gottes Hilfe hoffen.
Besim predigte weiter: Die Menschen dürften nicht vergessen, dass
es in der Welt viel Bosheit gebe; der liebe Allah könne einfach nicht
überall sein und alle Schurken unter Kontrolle halten und sie
bestrafen. Für Isa war Vaters Meinung eine Sünde, eine
Gotteslästerung.
- Nur Menschen, die an ihrem Glauben festhalten, können eines
Tages Sieger werden - posaunte er seine Weisheit laut hinaus.
- Dann sage mir: Wo waren dein Allah und deine Führer, was taten
deine Heiligen in den Tagen, als Paramilizen die Leute in den
Flüchtlingslagern niedergemetzelt haben? Wo haben sie sich
versteckt, als Frauen und Kinder totgeschlagen wurden?
Besims Worte trafen Isa wie ein Dolchstoß ins Herz, er schwitzte,
und seine Lippen zitterten. Er wusste nicht, was er antworten sollte,
und wiederholte noch einmal, es sei Gottes Wille, dass sein Volk jetzt
so leiden müsse. Aber durch dieses Leid werde es stärker werden,
und eines Tages …
An dieser Stelle mischte sich Amar wieder ein, weil er Mitleid mit
seinem Freund empfand:
- Papa, behalte deine Argumente für dich. Jeder hat seine eigene Art,
mit den Ungerechtigkeiten dieser Welt klarzukommen. Er glaubt an
Gott, du an Vernunft, Moral und Humanität. Vielleicht ist es ja
dasselbe. Rashida und ich, wir glauben an die medizinische
Entwicklung. - Geschickt wechselte er das Thema.
- Ich habe euch noch nicht erzählt, wie der Professor sie gestern mit
Lob überschüttete. Mama, weißt du, was der Pathologe über meine
Kommilitonin gesagt hat? Er beneide ihre zukünftigen Patienten,
weil Rashida durch die menschliche Haut hindurchsehen könne.
Keine Krankheit bliebe ihr verborgen.
Rashida lächelte, froh, dass Amar die Auseinandersetzung zwischen
Isa und Besim beendet hatte. Sie machte ihren Mund nur dann auf,
wenn jemand sie direkt ansprach. Nun erhielt sie die Möglichkeit zu
erzählen, weshalb sie gestern im Obduktionssaal den Professor so
beeindruckt hatte.
Medizin? Dieses Thema interessierte mich noch weniger als die
Diktatoren des Vorderen Orients. Plötzlich hörte ich Musik aus
Jelenas Garten, ich sprang von der Schaukel und wollte
verschwinden.
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- Vildana, wohin willst du?- rief mich Edina zurück.
- Wohin ich will? Sie reden nur von Toten, das kann ich nicht mehr
ertragen - antwortete ich trotzig und umtanzte den Kirschbaum in
einem Reigen, dessen Schritte wir vor einigen Tagen bei einer
Tanzprobe im Folkloreverein eingeübt hatten. Rashida unterbrach
ihren Satz und schaute mich verwundert und neugierig an.

Was gafft sie so? - dachte ich und tanzte den ganzen Weg
entlang, bis ich in Jelenas Garten gelangte. Mutters Befehl, ich solle
zurück in die Küche gehen und dort aufräumen und spülen,
überhörte ich.
Vildana
Ich hoffte, Jasenko würde irgendwo anders feiern, weil ich in seiner
Anwesenheit immer einen Krampf im Magen verspürte. Obwohl ich
in der Disziplin „Ich ignoriere dich“ inzwischen Übung hatte,
schaffte er es öfter, meine Nerven nur mit seinen Blicken
anzuspannen. Ständig wechselte er die Taktik: Ein paar Mal warf er
mir nur kurze, feindliche Blicke wie Dolchstiche zu, danach fixierte
er mich anhaltend, einen weiteren Blick begleitete er mit einem
zynischen Lächeln, das sich als Frage deuten ließ: Warum bist du
noch da, was willst du von mir? Aber am Ende der letzten Probe, als
wir uns mit einem Saft erfrischten, versuchte er mich mit dem
verführerischen Funkeln seiner Augen zu verzaubern. Er steckte mir
sogar einen Zettel in die Tasche mit den Worten: Ich bewundere
deinen Tanz. Durch meine Abwehr hindurch spürte ich die Macht,
die er ausstrahlte: Ich bin wieder hier, du kannst mir nicht verbieten,
in deiner Nähe zu sein. Ich hasste es, so ohnmächtig dazustehen,
konnte und durfte aber nichts dagegen unternehmen, weil jeder laute
Protest das Tuscheln in der Čaršija nur noch verstärken würde. Und
natürlich würden das alle als Beweis dafür werten, dass ich ihm
nachlaufe, nicht er mir.
Wenn er zur Silvesterparty kommt, gibt es nur ein Mittel: ihn
ignorieren und noch einmal ignorieren, ihm nie in die Augen
schauen, redete ich mir gut zu, obwohl mir bewusst war, dass dies
ein schwieriges Unterfangen sein würde.
Der Anfang der Party verlief ähnlich wie in guten alten Zeiten.
Festlich gekleidete Gäste betraten das Motel, die Besitzerin hieß sie
willkommen und wünschte ihnen einen angenehmen Abend. Mit
seiner Band spielte Danijel als neutrale Einleitung den Song „Grüne
Felder“. Durch die Säle sauste die Fotografin, deren Kamera wie
immer bereit war, jede Kreatur um ihrer Eleganz willen zu
bewundern. Sogar die hässlichsten Personen fühlten sich von der
Kamera geschmeichelt, sie glaubten daran, in dieser Nacht schön
und wertvoll genug zu sein, um sich für das Album der schönsten
Erinnerungen fotografieren zu lassen.
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Meine Mädchen und ich zählten die bekannten Gesichter im Raum,
doch mehr als zwanzig konnten wir nicht finden.
- Bei Gott, Vildana, in den nächsten Jahren wirst du viel zu tun
haben. Nein, zehn Jahre reichen nicht, um solche Gäste zu
kultivieren und ihnen die Grundregeln der einfachsten Pflege
beizubringen - sagte Melita, und alle kicherten.
- Warum nicht, wenn sie mich dafür gut bezahlen, werde ich mich
bemühen, eine Kosmetikecke in meiner Boutique einzurichten. Aber
heute Abend können wir uns auf ihre Kosten gut amüsieren antwortete ich.
Wir bildeten eine Jury und sortierten nach Hässlichkeit. Als schönste
Bäuerin wählten wir ein dickes Mädchen mit rosa bemalten Lippen
und einem schwarzen Schnurrbart. Der schönste Bauernbursche
wurde ein Junge mit dicken Koteletten und vielen Zahnlücken. Wir
schickten Sandra, sie zu fotografieren.
Ich versuchte, diese Leute als meine zukünftige Klientel zu sehen.
Das machte mir richtig Spaß, weil sie für ihre „Kultivierung“ viel
Geld würden ausgeben müssen. Ich entwickelte ein Programm für
sie: Erste Phase: Pflegeberatung und Pflegekosmetik. Zweite Phase:
Make-up, um sie attraktiv zu machen. Dann die Kleidung, um die
neue Persönlichkeit zur Geltung zu bringen. Um so viel Hässlichkeit,
Brüllen und Kreischen in den Räumen ertragen zu können, trank ich
ein Glas Wein. Leider war das der falsche Weg, der Wein stieg mir
zu Kopf und benebelte meinen Verstand. In wenigen Augenblicken
wusste ich nicht mehr, wo ich mich befand.
Frau Barlov hatte einen anderen Tick, sie ermahnte ständig ihr
Personal, die Küche zu überwachen, weil sie kein Vertrauen zu ihren
Gästen hatte.
- Ich erkenne hier viele Leute mit langen Fingern - murmelte sie und
bekreuzigte sich.
- Mit langen Klauen - korrigierte sie jemand.
Durch diese Atmosphäre, aber wahrscheinlich auch durch den
Kampf gegen die Verzweiflung, entwickelte sich bei uns eine
hysterische Heiterkeit. Das Publikum mochte unser Programm nicht,
alles, was wir auf der Bühne machten, verfolgten sie mit BuuuuuhGebrüll. Es war wie in einem Affentheater, sie schlugen sich
gegenseitig auf die Schultern, grinsten, grunzten, tranken Šljivovica
direkt aus der Flasche, mehrere Gruppen hatten Lammbraten am
Spieß mitgebracht und wollten das Partymenü nicht auf dem Tisch
haben. Durch die Führung meiner Boutique hatte ich gelernt, mich
unter Kontrolle zu halten. Und so lächelte ich bald meine neuen
Bekannten an, die unsere Kleider musterten und fragten, wo man
diese Eleganz kaufen konnte. Ich gab ihnen prompt die Zettelchen
mit meiner Adresse und Telefonnummer.
- Das habt ihr nötig - sagte ich jedes Mal.
Häufig begrüßten mich mir flüchtig bekannte junge Männer mit
derselben Frage, nämlich ob sie heute Nacht endlich meinen
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„Chaostanz“ erleben dürften. Ich antwortete freundlich: Lassen wir
uns überraschen, und ärgerte mich über die Uhrzeiger, die sich kaum
bewegten.
- Wir haben keine Lust zu tanzen - beschwerten sich meine
Tänzerinnen.
- Wirklich? Die neue Zeit fragt nicht, ob du Lust hast oder nicht.
Jeder tut das, was er muss - ich mimte die strenge Lehrerin, und das
Lächeln erstarrte auf meinen Lippen.
Nach dem ersten Auftritt war Danijel verärgert:
- Was ist los mit euch? Ihr tanzt wie Omas mit Leistenbruch!
- Für diese Neandertaler im Publikum ist das gut genug - gab Melita
zurück.
- Mädchen, es reicht. Das Publikum hat Eintritt bezahlt - beruhigte
ich sie. - Wir müssen unser Bestes geben, damit sie wiederkommen.
Eine Stunde vor Mitternacht tauchte Jasenko an der Bar auf. Ich
hatte gerade vor, mit den Mädchen das dritte Mal auf die Bühne zu
klettern. Danijel kam zu mir mit der Mitteilung, er lasse das Lied
„Ja, Mustafa“ aus, es sei zu provokant.
- Aber warum? Was hat dich plötzlich gestochen? - fragte ich
wütend.
- Das ist ein muslimischer Name. Wir haben gesagt, keine
nationalistische Provokation.
- Du hast alles falsch verstanden. Dieses Lied singt man weltweit.
- Weltweit ja, aber das ist nur der Balkan. Wir wollen keine
Probleme provozieren, deshalb spielen wir heute Nacht nur „Schöne
Haare hast du, mein Mädchen.“
- Aber dieses Lied heißt in Wahrheit „Schau mich mal an, Anatolka.“
- Vildana, hör auf! Wir nehmen keine türkischen Lieder ins
Programm. Balkanmusik ist angesagt - Danijel schaute mich an und
lachte nervös. - Was können wir dagegen tun? Freie Konkurrenz,
hast du gesagt. Diese Medaille hat auch eine andere Seite. Keiner
will mehr türkischen Kaffee trinken.
- Mein lieber Freund, das ist dieselbe Melodie, dieselbe Musik! - ich
konnte seinen Scherz nicht verstehen.
- Ich weiß, ich bin nicht dumm. Aber heute Abend ist das ein
Balkanlied, verdammt noch mal! Du musst das akzeptieren!
- Uns war immer egal, wessen Lied es ist!
- Das weiß ich auch! Aber das war einmal, als dein Vater in dieser
Stadt regierte. Jetzt hat sich alles verändert. Und jetzt ab auf die
Bühne, das Publikum wartet auf uns!
Die Musiker ergriffen ihre Instrumente, die Musik ertönte, aber ich
hatte keine Orientierung mehr, wusste gar nicht, was wir tanzen
sollten. Auf der Bühne stieß ich mit Melita zusammen.
- Vildana, hallo, was machst du, du führst uns in die falsche
Richtung! - Die Freundin zwickte mich in den Arm, um mich in die
Wirklichkeit zurückzuholen.
Ich wandte den Kopf Richtung Bar und sah wieder seinen Rücken.
- So, wieder dasselbe Spielchen. Du bist Luft für mich, du, Mistkerl!
Leseprobe „Die Bauchtänzerin“ von Safeta Obhodjas
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Wir tanzten einen Reigen, aber bei jeder Umdrehung flog mein Blick
zu Jasenkos Silhouette an der Bar.
- Du wirst mich sehen, das sage ich dir!
Er trank sein Bier und plauderte mit dem Mann mit Pferdeschwanz.
Plötzlich machte etwas Klick in meinem Kopf, und ich gab den
Mittänzerinnen ein Zeichen, Platz für mich zu machen. Ich hob die
Arme, und ein Zittern lief durch meinen Körper. Danijel drohte mir
mit seiner Gitarre und zischte:
- Spiel nicht mit dem Feuer, das Publikum ist unberechenbar.
Die Leute im Saal interessierten mich nicht.
- Musik - rief ich. – „Schöne Haare hast du, mein Mädchen“, oder
auch „Schau mich mal an, Anatolka“, wie ihr wollt. Ich will tanzen!
Die Faszination des „Chaostanzes“ durchströmte meinen Körper,
Eruptionen sprangen von den Hüften zu den Brüsten, meine Arme
hatten keine Knochen mehr. Ich vergaß, wo sich die Bühne befand,
wer im Publikum saß, alle Frustrationen und Enttäuschungen des
letzten Jahres verschwanden hinter einem nebeligen Vorhang. Ich
hatte keine Angst mehr, weder vor den Kontrollen des Finanzamtes
noch vor der immer rascher galoppierenden Inflation. In meiner Welt
gab es keine Künstlergattin und keinen Jasenko Barlov. Mein Körper
bewegte sich vollkommen frei, wie es ihm beliebte. Warum und
wofür hatte ich mein Tanzen geopfert? Nein, ich würde mein
Geschäft aufgeben, nach Paris gehen und dort Bauchtänzerin
werden. Was suchte ich noch auf dem Balkan?
Das waren meine letzten klaren Gedanken, an die ich mich später
erinnern konnte. Danach ergab ich mich dem Wirbel und Rashidas
wildem Bauchtanz, die ganze Energie meines Wesens drang in
meinen Körper. Ich konnte nicht mal die Musik hören, weil tief in
meinem Bauch eine Rassel erklang, die in den Brüsten und den
Hüften den richtigen Rhythmus erzeugte.
Ich wusste nicht, wie lange dieser Zustand anhielt, nicht länger als
zwei, drei Minuten wahrscheinlich. Zuerst kam es mir vor, als ob ich
mich in einem Vakuum bewegte, dann registrierten meine Ohren,
dass die Musik verstummt war.
- Vildana, was hast du gemacht? - rief Danijel in mein Ohr. - Jetzt
sind sie wild geworden, jetzt kriegen wir sie nicht mehr in den Griff.
Mein Blick irrte in die Menge vor der Bühne, und im Nu war ich
wieder bei Sinnen. Kein Gast war mehr auf seinem Platz, alle
drängten sich in unsere Richtung: Pfiffe, Schreie, Applaus: tanze
weiter, tanze weiter!
Instinktiv zog ich mich in den Schatten hinter den Instrumenten
zurück. Die Musiker wussten nicht, was sie tun sollten, und ihre
Ohnmacht rief Panik bei mir hervor. Hinter mir die Wände, vor mir
Hunderte hochgereckter Arme, die mir den Fluchtweg versperrten.
Danijel gab mir ein Zeichen, die Bühne zu verlassen, aber als ich das
versuchte, brüllte die Menge noch lauter.
Ich nahm sein Kommen nicht wahr. Er sprang einfach auf die Bühne,
nahm das Mikrophon und sagte etwas, ich verstand kein Wort. Dann
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wendete er sich zu mir, ergriff meine Hand und half mir, die Bühne
zu verlassen. Er legte den Arm um meine Schultern und führte mich
zwischen den Menschen hindurch, die sich zurückzogen, um uns den
Weg frei zu machen. Ich konnte nicht mehr denken, ich ging wie
eine Marionette neben ihm und spürte nur einen bohrenden Schmerz
im Nacken.
Wir erreichten die Bar, wo er während des Tanzes gestanden hatte.
Ich zitterte. Er bedeckte meine Schultern mit seiner Jacke und
bestellte mir ein Getränk. Die Musiker fingen an, eine wilde KoloMusik zu spielen, die Gäste fassten sich bei den Händen, und der
Tanzmeister wirbelte die Schlange durch den ganzen Saal. So eine
Massenfolklore hatte ich noch nie gesehen. Sie überboten sich
gegenseitig darin, wer höher und weiter springen und schneller mit
den Beinen trampeln konnte. Widerlich, dachte ich, alles in diesem
Saal ist widerlich, ich will weg, weg, weg!
Ich sah dem Reigen zu, um Jasenko leichter ignorieren zu können.
Aber zu meinem Erstaunen legte er diesmal nicht jene
Überheblichkeit an den Tag, mit der er mich monatelang verrückt
gemacht hatte. Sein Gesicht strahlte Verliebtheit und Besorgnis aus.
Ich war verlegen, wusste nicht, wie ich reagieren sollte.
- Es ist interessant zu sehen, wie diese Neureichen toben – ich wollte
die Angst überspielen, die mir noch immer in den Knochen saß.
Wegen des Lärms konnten wir uns kaum verständigen.
Er fragte mich, ob ich mich umziehen wolle, und bot mir an, mich
zum Büro zu begleiten.
Nach einigen Minuten war ich wieder fähig, auf den Beinen zu
stehen. Ich bedankte mich bei ihm für seine Hilfe und wollte mich
von ihm verabschieden.
- Lass mich jetzt in Ruhe, ich gehe nach Hause! - rief ich in sein Ohr.
- Allein? Nein, ich begleite dich zum Auto - er schlang seinen Arm
um meine Taille. Das war die klare Botschaft an die anderen Männer,
er habe die Tänzerin diese Nacht für sich erobert. Ich wollte das
nicht, konnte mich aber nicht dagegen wehren. Über seine Schulter
sah ich die entsetzten Augen seiner Mutter, die in diesem Moment
aus der Küche kam.
Jasenko winkte der Mutter und führte mich weiter. Seine Nähe
irritierte mich, besonders sein Duft, eine Mischung von
Moschusrasierwasser und männlichem Schweiß. Mir wurde
schwindlig, ich musste mich an ihn lehnen. Er brachte mich zum
Büro und versprach mir, er würde draußen auf mich warten.
Ich hatte Mühe, das durchnässte Tanzkostüm auszuziehen, wollte
dringend unter die Dusche, aber es gab keine. Irgendwie gelang es
mir, in das Abendkleid und den Mantel mit dem Pelzkragen zu
schlüpfen. Meine Knochen und Muskeln fühlten sich an wie aus
Gallerte, und ich bewegte mich wie in Zeitlupe. Wünsche ich mir das
wirklich?, fragte ich mich. Möchte ich morgen nach dem Aufwachen
sein Gesicht auf dem Kissen neben mir sehen? Nein!
Ich lief zum Fenster, kletterte auf einen Stuhl und sprang nach
Leseprobe „Die Bauchtänzerin“ von Safeta Obhodjas
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draußen. Doch da wartete eine große Überraschung auf mich.
Während der Silvesternacht hatte es die ganze Gegend eingeschneit.
In meinen dünnen Schuhen konnte ich wohl kaum durch den
matschigen Schnee laufen.
- Jasenko, bitte, hilf mir. Ich bin hier, hinter dem Gebäude! - rief ich,
aber meine Stimme war kaum hörbar. Ich besann mich und lief so
schnell ich konnte zum Parkplatz, wo ich meinen Golf geparkt hatte.
Er erreichte mich, als ich meinen Wagen unter der Schneebedeckung
erkannte.
- Vildana, bist du verrückt? Warum läufst du vor mir weg, ich bin
kein Monster! Du brauchst dich nicht zu fürchten. Ich möchte dich
nur nach Hause fahren, in Sicherheit. Mein Ehrenwort!
- Danke, aber ich will allein fahren. Gute Nacht! - sagte ich und
wühlte in meiner Handtasche, um die Schlüssel zu finden.
Er nahm mich in den Arm und hielt mich eine Weile fest. Ich dachte
nur an meine eiskalten Füße.
Es begann wieder zu schneien, die Schneeflocken glänzten in seinem
Haar. Die Fichtenzweige im Wald hinter dem Motel ächzten unter
heftigen Windböen. Irgendwo in der Dunkelheit ertönten Schüsse
aus einem automatischen Gewehr. Das war volkstümliches Knallen,
wie immer in der Silvesternacht, aber auch anlässlich anderer
Feierlichkeiten pflegten Leute ihre Ausgelassenheit und Freude in
Richtung Himmel zu schicken. In diesem Augenblick jedoch erlebte
ich es als Bedrohung, ich hatte das Gefühl, jemand aus dem Wald
hätte uns ins Visier genommen, und in der nächsten Sekunde würden
uns die Kugeln treffen.
- Gehen wir, bitte, lass uns gehen - ich hatte eine Panikattacke und
wühlte in meiner Tasche nach den Schlüsseln. - Ich friere, ich will
nach Hause. Eine verdammte Nacht, und ich habe vergessen, dass
mein Auto noch immer Sommerreifen hat.
- Gehen wir zurück ins Motel, ich lebe allein in der kleinen Wohnung
- lautete sein Vorschlag.
- Bist du verrückt? Was würde deine Mutter morgen sagen?
Er küsste meinen Hals, und ich legte meine Handfläche auf seinen
Nacken. Mir wurde in dem Moment klar, wie lange ich davon
geträumt hatte, ihm so nah zu kommen und seinen Nacken zu
streicheln. Vielleicht seit dem Augenblick, als ich das erste Mal
seinen Rücken im Spiegel bewundert hatte.
- Meine heiß begehrte Tänzerin, ist das Traum oder Wirklichkeit? flüsterte er und berührte mit seiner Zunge meine Ohrläppchen.
- Ich weiß es nicht, Jasko, ich weiß es nicht, ich brauche Zeit, um zu
begreifen, was das ist. Du hast mich monatelang genervt, und ich
habe dich noch vor einer Stunde gehasst.
- Jasko! So nannte mich meine erste Liebe.
Die Schneeflocken wurden immer dichter, im Nu waren unsere
Wagen völlig eingeschneit. Ich spürte meine Füße nicht mehr, sie
hatten sich in zwei Eiszapfen verwandelt. Wo wird unser Platz heute
Nacht sein?, fragte ich mich zähneklappernd.
Leseprobe „Die Bauchtänzerin“ von Safeta Obhodjas
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Als wir zu seinem Wagen gingen, blieben meine Schuhe im Matsch
stecken, und ich konnte sie nicht mehr finden. Er nahm mich auf
seine Arme und trug mich zum Auto. Als er mich auf den Vordersitz
gleiten ließ, feuerte wieder jemand im Wald in den Nachthimmel.
- Frohes Neues Jahr! - Er bückte sich über mich und küsste mich mit
trunkener Leidenschaft.
Ich wurde von Vogelgetrippel auf dem Fenstersims und dem Gurren
der Tauben geweckt. Fast eine Minute lang inspizierte ich, noch
schlaftrunken, unter halb geöffneten Lidern den Raum. Ich hatte
keine Ahnung, in welchem Hotelzimmer ich eingeschlafen war. Im
Halbdunkel kamen mir einige Umrisse bekannt vor: War das etwa
meine Nähmaschine? Ich erkannte auch den Ständer mit dem
Frauenkopf darauf, der mit einem Hut geschmückt war. Ich war im
Hinterzimmer meiner Boutique, konnte mich aber nicht erinnern,
warum ich hier übernachtet hatte. Habe ich gestern lange gearbeitet?,
fragte ich mich. Nein, das sicher nicht, ich habe mich doch zur
Silvesterparty zurechtgemacht!
Ein Körper neben mir bewegte die Arme und versuchte, mich zu
umschlingen. Wer sollte das sein? Ich wich ihm aus und warf einen
Blick auf sein Antlitz. Jasenko Barlov! Warum hatte ich ihn hierher
gebracht? War ich von allen guten Geistern verlassen? Bis jetzt
wachte ich mit den Männern immer in einem Hotelzimmer auf,
damit ich weggehen konnte, wann ich wollte. Wann wurde er wach?
Wie konnte ich ihn am schnellsten loswerden?
Langsam kamen die Erinnerungen an den Schneesturm und meine
Fahrlässigkeit hoch. Wie hatte mir das passieren können? Ich hatte
vollkommen vergessen, meinen Wagen winterfest zu machen.
Jasenko hatte mich wirklich nach Hause fahren wollen, aber die
Straßen waren unpassierbar gewesen. Die Fahrt nach der
Silvesterparty hatte in einem verschneiten Graben geendet, zum
Glück nicht weit weg von meinem Laden. Mit viel Mühe konnten
wir zu Fuß hierherkommen. Er musste mich tragen, weil ich die
Schuhe unterwegs verloren hatte.
Jetzt schlief er neben mir auf dem ausgezogenen Sofa, ich spürte
seine Wärme und lauschte seinem Atmen.
Ich bewegte mich nicht, weil ich ihn nicht wecken wollte, obwohl
ein fester Gegenstand mir zwischen die Rippen drückte. Keine
Ahnung, was das sein konnte, das Sofa war neu, und es war
unwahrscheinlich, dass die Federn schon die Füllung durchgebohrt
hatten.
Ich erinnerte mich an seinen Arm um meiner Taille. Würde er mich
jetzt als seinen Besitz betrachten? Kaum wahrscheinlich, eher würde
er sich rasch anziehen und noch rascher verschwunden sein. Das
wäre für uns beide das Beste. Wer brauchte noch eine Erklärung,
warum etwas geschehen war, was nicht hätte geschehen dürfen?
Ich versuchte, mich an unser Gespräch in der letzten Nacht zu
erinnern. Was hatte er gesagt, als wir hier eintrafen? Wir hatten gar
Leseprobe „Die Bauchtänzerin“ von Safeta Obhodjas
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nicht miteinander gesprochen, sondern uns geküsst, mit einer
Leidenschaft, die während der langen Herbstmonate glühend heiß
geworden war. Habe ich wirklich auf diesen Mann gewartet?, fragte
ich mich.
In mein Grübeln versunken, bemerkte ich nicht, dass er wach
geworden war. Sein Flüstern erschreckte mich.
- Vildana, wach auf, jemand beobachtet uns.
Ich folgte seinem Blick.
- Nein, das ist nur ein Modellkopf mit Hut - lachte ich. Die Vorhänge
waren zugezogen, nur durch die Tür fiel ein Lichtstrahl auf uns,
sodass ich ihm in die Augen schauen konnte.
- Oh, jetzt weiß ich, wo wir sind - sein Unterton war spöttisch. - In
deinem Laden zwischen deinen Lappen. Warum sind wir gerade
hierher gekommen?
- Lappen? Sofort nimmst du dieses Wort zurück! Ich erlaube dir
nicht, dich über die Herren Armani und Versace lustig zu machen.
Ich verkaufe auch ihre Kreationen. Ich bin Modemacherin, falls es
dich interessiert. Das ist eine Boutique mit dem besten Ruf, eine
bessere kannst du in der Stadt nicht finden.
Er verzichtete auf weitere Ironie.
Vielleicht sucht er nach dem rettenden Satz, dachte ich. Nicht doch,
er ist kein Anfänger. Aber nein, er kann auch ohne einen Satz
weggehen. Was sage ich meinen Studenten beim Abschied:
Vielleicht sehen wir uns, vielleicht auch nicht, wer weiß.
- Wie laufen deine Geschäfte, bist du zufrieden? - Seine Masche war
mir bekannt, über alles andere sprechen, nur nicht über uns. Auch
nicht darüber, was in der letzten Nacht passiert war.
- Ich kann mich nicht beklagen.
Meine
Stimme
wurde
von
dem
Brummen
eines
Schneeräumfahrzeugs übertönt, das die Straße entlangfuhr und gegen
die Schneemassen kämpfte.
- Ach, jetzt erinnere ich mich. Wir sind in einer Schneewehe
gelandet! Wo haben wir das Auto gelassen?
- In der Parallelstraße. Zum Glück war es sehr nah, sonst hätten wir
im Wagen übernachten müssen – ich versuchte, freundlich zu sein.
- Mach das Licht an, ich will sehen, wo ich mich befinde. Es kommt
mir wie ein Puppentheater vor.
- Weißt du was, andere haben auch versucht, mein Geschäft zu
unterschätzen. Ich habe sie gefragt: Was habt ihr im Leben
geschafft? Mehr als ich? Besseres als ich? Wenn du so genial bist,
warum bist du in dieses Kaff zurückgekehrt?
Er umarmte mich und presste mich fest an sich.
Ich ertastete das harte Stück unter meiner Wirbelsäule und holte es
heraus. Auf meiner Handfläche glänzte ein goldenes Kreuz,
geschmückt mit einem Edelstein. Er nahm das Kreuz aus meiner
Hand, suchte und fand im Bettlaken seine zerrissene Goldkette. Ich
stand auf, weil ich Kaffeedurst verspürte. In der kleinen Kochnische
setzte ich einen Kaffee auf.
Leseprobe „Die Bauchtänzerin“ von Safeta Obhodjas
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- Du bist katholisch, nicht wahr? – Ich wagte nicht, ihn anzusehen.
- Spielt das eine Rolle?
- Ich weiß nicht, früher habe ich nie darüber nachgedacht. Aber ich
habe gemerkt, deine Mutter bekreuzigt sich oft. Sie ist sehr gläubig,
nicht wahr?
- Nein, das ist mehr eine Angewohnheit, sie geht selten zur Messe.
Gläubig oder nicht, wir haben nichts gemeinsam, wollte ich laut
sagen, aber irgendwie war mir das peinlich. Ich wartete auf seine
Entscheidung.
Ich hatte nur einen dünnen japanischen Kimono an und klapperte mit
den Zähnen. Der elektrische Heizkörper war lauwarm, weil ich
Strom sparte. Ich nahm die Džezva von der heißen Kochplatte,
schüttete vier Löffelchen Kaffeepulver ins Wasser und stellte sie
wieder auf die Platte. Aber meine Gedanken waren irgendwo anders.
In letzter Sekunde rettete ich den Kaffee vor dem Überkochen.
Er verfolgte jede meiner Bewegungen und lachte.
- Du hast wunderschöne Hände. Ich habe mir immer gewünscht, sie
zu küssen.
Ich servierte den Kaffee, und Jasenko schlürfte ihn sofort aus seiner
Tasse. Er verbrannte sich die Zunge, ich reichte ihm ein Glas Wasser.
Eine Weile schwiegen wir. Draußen beschimpfte jemand das Neue
Jahr und die Götter im Himmel, die uns gerade am Feiertag mit den
Schneemassen zugeschüttet hatten.
- Der Himmel hat es mit uns beiden gut gemeint - lachte Jasenko.
Das machte mir Angst, weil ich noch keine Ausrede gefunden hatte.
Ich trank den Kaffee und überlegte mir, wie ich ihn wegschicken
könnte.
- Von wem hast du diesen Tanz erlernt?
Ich zuckte mit den Schultern, das ging ihn nichts an.
- Ich habe gehört, von einer professionellen Tänzerin in der Türkei.
- Lass mich in Ruhe, das ist meine Sache. Dieser Tanz ist weltweit
bekannt, den tanzen die Frauen im Westen. Überall. Nur bei uns ist
das etwas Besonderes.
Er zündete sich eine Zigarette an und machte es sich in den Kissen
bequem. Offensichtlich genoss er den ersten Morgen mit mir.
- Ich bin mir sicher, im Westen oder in einer Großstadt in unserem
Land hättest du damit viel Geld verdienen können. Dein Tanz war
schlicht professionell. Wenn ich noch Hotelmanager wäre, hätte ich
dich sofort eingeladen, in unserem Hotel aufzutreten.
- Ach was, ich halte nicht viel von Träumereien. Du bist nur ein
Tagedieb, und ich keine Tänzerin. Der Tanz ist mein Hobby, davon
kann man nicht leben.
- Aber ich wollte dich fragen, warum du in so einem Provinzloch
geblieben bist. Mit all deinen Begabungen …
- Ich fühle mich wohl hier. Warum bist du zurückgekehrt? Du hattest
draußen eine bessere Chance als ich.
Ich wartete auf eine Antwort, aber vergeblich.
- Was für eine Nacht! Alle bösen Geister waren wach - nach langem
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Schweigen wechselte ich das Thema.
- Nein, bei allen Göttern, das war für mich wie eine Filmnacht. Es ist
wirklich phantastisch, so etwas zu erleben. Die letzte Nacht werde
ich nie vergessen. Ja, man kann auch sagen, das war Liebe für eine
Nacht, deren Vorbereitungen einige Monate gedauert hatten.
Jasenko trank seinen Kaffee aus, dann zog er sich schnell an. In der
Jeans und einem weißen Rollkragenpulli machte er eine gute Figur.
Er beugte sich herab, um seine Schuhe zu binden, und ich sah seinen
Rücken direkt vor mir. Mir fiel wieder ein, wer dieser Mann wirklich
war. Jasenko Barlov, den ich noch vor einigen Tagen gehasst hatte.
- Warum hast du noch nicht geheiratet?
- Dieselbe Frage wollte ich dir stellen.
- Wartet jemand dort am Meer auf dich?
Wir schauten uns gegenseitig an und beschlossen, nicht weiter zu
bohren.
- Ich habe gehört, dein Bruder sei ein exzellenter Doktor, seine
Diagnosen stimmten immer. Und er wolle Facharzt werden.
- Brauchst du einen Doktor?
- Nein, mein Herz ist noch immer heil.
- Mein Bruder ist kein Herzschmerz-Spezialist. Deshalb ist er noch
immer solo. Amar wird bald Chirurg werden.
- Meine Mutter - ich weiß nicht, ob du es bemerkt hast - sie sieht
immer schlechter aus. Sie klagt nie, aber es geht ihr nicht gut. Kannst
du sie überreden, sich von deinem Bruder untersuchen zu lassen?
- Wahrscheinlich hat sie Sorgen wegen des Motels. Ich werde mit
ihm sprechen, vielleicht lässt sich etwas arrangieren. Mein Bruder
liebt seine Rolle als Retter.
Er stand auf in der Absicht, endlich wegzugehen.
- Wie kommst du nach Hause? – Er klang besorgt.
- Keine Sorge. Ich nehme mir ein Taxi. Geh ruhig. Ich wünsche dir
viel Glück im neuen Jahr. Tu etwas für deine Mutter und ihr Motel.
Er nahm den Hut vom Ständer, setzte ihn auf den Kopf, nahm ihn
wieder ab und verbeugte sich tief vor mir. Ich winkte nur, ich habe
verstanden, du bist kein plumper Čaršija-Tölpel, sondern ein
Weltmann mit guten Manieren. Aber leider werden wir nie
zusammenpassen.
- Danke für die Filmnacht - flüsterte ich, nachdem er den Laden
verlassen hatte. Eigentlich wollte ich möglichst schnell alles
vergessen.
Ich rief meine Mutter an, um ihr zu sagen, wo ich mich befand.
- Ich bleibe länger, weil ich eine Inventur machen muss. Heute habe
ich die Zeit dafür - fügte ich hinzu. Statt mich anzuziehen und mit
der Arbeit anzufangen, flüchtete ich mich zurück aufs Sofa. Ich
wollte mich vor allem verstecken.
An meiner Tür tuckerte der Schneepflug vorbei. Es schien mir, als
sei ich das einsamste Lebewesen auf der Erde. Ein Gefühl, das ich
vorher nie gekannt hatte.
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