GABRIELE WOHMANN, Die Klavierstunde Das hatte jetzt alles keine Beziehung zu ihm: die flaabreißen und ihn tragen, ein Baumblatt mit den Finckernden Sonnenkleckse auf dem Kiesweg, das Zit65 gern zerpflücken und den Geruch von Seife wegbetern des Birkenlaubs; die schläfrige Hitze zwischen kommen. den Hauswänden im breiten Schacht der Straße. Er Sie deckte den einmal gefalteten Waschlappen auf die 5 ging da hindurch ( es war höchstens eine feindselige Stirn und legte den Kopf, auf dem Bettrand saß sie, Beziehung) mit hartnäckigen kleinen Schritten. Ab und weit zurück, bog den Hals. Nochmal von vorne. Und zu blieb er stehen und fand in sich die fürchterliche 70 eins und zwei und eins. Die schwarze Taste, b, mein Möglichkeit, umzukehren, nicht hinzugehen. Sein Junge. Das hellbeschriftete Reklameband erleuchtete Mund trocken vor Angst: er könnte wirklich so etwas die dämmrigen Bewußtseinskammern: Kopfschmer10 tun. Er war allein; niemand der ihn bewachte. Er könnzen. Ihn wegschicken. Sie saß ganz still, das nasse te es tun. Gleichgültig, was daraus entstünde. Er hielt Tuch beschwichtigte die Stirn: sie las den hoffnungsstill, sah Fenster geradeaus und saugte Spucke tief 75 weckenden Slogan. aus der Kehle. Er brauchte nicht hinzugehen, er konnFeucht und hart der Lederhenkel in seiner Hand. te sich widersetzen . Die eine Stunde möglicher FreiSchwer zerrte das Gewicht der Hefte: jede einzelne 15 heit wog schwerer als die mögliche Unfreiheit eines Note hemmte seine kurzen Vorwärtsbewegungen. ganzen Nachmittags. Erstrebenswert: der ungleiche Fremde Wirklichkeit der .Sonne, die aus den WolkenTauschhandel; das einzig Erstrebenswerte jetzt in 80 flocken zuckte. durch die Laubdächer flackerte, absdieser Minute. Er tat so, als bemerke er nichts davon, trakte Muster auf den Kies warf, zitterndes Gesprendaß er weiterging, stellte sich überrascht, ungläubig. kel. Ein Kind; eine Frau, die bunte Päckchen im tief20 Die Beine trugen ihn fort und er leugnete vor sich hängenden Netz trug; ein Mann auf dem Fahrrad. Er selbst den Befehl ab, der das bewirkte und den er lebte nicht mit ihnen. gegeben hatte. 85 Der Lappen hatte sich an der Glut ihrer Stirn erwärmt: Gähnend. seufzend, streckte sie die knochigen Arme, und nicht mehr tropfig hörte er auf, wohl zu tun. Sie ballte die sehr dünnen Hände zu Fäusten; sie lag auf stellte sich vor den Spiegel, ordnete die grauen Haar25 der Chaiselongue. Dann griff die rechte Hand tastend fetzen Im Ohr hämmerte der jetzt auch akustisch wiran die Wand, fand den Bilderrahmen, in dem der kende Slogan. Stundenplan steckte; holte ihn, hielt ihn vor die trä90 Die Mappe loswerden. Einfach nicht hingehen. Seine nenden Augen. Owehowehoweh. Die Hand bewahrte Beine trugen ihn langsam, mechanisch in die Nähe den saubergeschriebenen Plan wieder zwischen Bild der efeubeklecksten Villa. 30 und Rahmen auf: müde, renitent hob sich der OberKopfschmerzen, unerträgliche. Sie klappte den körper von den warmen Kissenmulden. Owehowschwarzen Deckel hoch; rückte ein verblichenes Foto ehoweh. Sie stand auf; empfand leichten Schwindel, 95 auf dem Klaviersims zurecht; kratzte mit dem Zeigehämmernde Leere hinter der faltigen Stirnwand; setzte fingernagel ein trübes Klümpchen unter dem Dausich wieder, den nassen Blick starr, freudlos auf das mennagel hervor. Hinter dem verschnörkelten Eisen35 schwarze Klavier gerichtet. Auf einem imaginären gitter gediehen unfarbige leblose Blumen auf winzigen Bildschirm hinter den Augen sah sie den Deckel hochRondellen, akkuraten Rabatten. Er begriff, daß er sie klappen, Notenhefte sich voreinanderschieben auf 100 nie wie wirkliche Pflanzen sehen würde. dem Ständer; verschwitzte Knabenfinger druckten fest Auf den dunklen steifen Stuhl mit dem Lederpolster und gefühllos auf die gelblichen Tasten, die abgegriflegte sie das grüne, schwachgemusterte Kissen, das 40 fenen; er zeugten keinen Ton. Eins zwei drei vier, eins harte, platte. Sah auf dem imaginären Bildschirm die zwei drei vier. Der glitzernde Zeiger des Metronoms länglichen Dellen, die sein nackten Beine zurückliependelte beharrlich und stumm von einer auf die an105 ßen. dere Seite seines düsteren Gehäuses. Sie stand auf, Einfach nicht hingehen. Das Eisentor öffnete sich mit löschte das ungerufene Bild. Mit der Handfläche jammerndem Kreischlaut in den Angeln. 45 stemmte sie das Gewicht ihres Arms gegen die Stirn Kopfschmerzen, unerträgliche. Wegschicken Widerliund schob die lappige lose Haut in die Höhe bis zum cher kleiner Kerl. Haaransatz. Owehoweh. Sie entzifferte die verworrene 110 Die Mappe loswerden, nicht hingehen. Widerliche alte Schrift auf dem Reklameband, das sich durchs HalbTante . Sie strich mit den Fingern über die Stirn. Die dunkel ihres Bewußtseins schob: Kopfschmerzen. Klingel zerriß die Leuchtschrift, übertönte die Lockwor50 Unerträgliche. Ihn wegschicken. Etwas Lebendigkeit te. kehrte in sie zurück Im Schlafzimmer fuhr sie mit dem „Guten Tag“, sagte er. „Guten Tag“, sagte sie. Seine kalte Waschlappen über ihr Gesicht. 115 (von wem nur gelenkten?) Beine tappten über den Brauchte nicht hinzugehen. Einfach wegbleiben. Die dunklen Gang; seine Hand fand den messingnen TürUmgebung wurde vertraut: ein Platz für Aktivität. Er griff. Sie folgte ihm und sah die nackten braunem Bei55 blieb stehen, stellte die schwere Mappe mit den Noten ne platt und breit werden auf dem grünen Kissen; sah zwischen die Beine, die Schuhe klemmten sie fest. Ein die geschrubbten Hände Hefte aus der Mappe holen, Kind rollerte vorbei; die kleinen Räder quietschten; die 120 sie auf dem Ständer übereinanderschieben. Schreabstoßende Ledersohle kratzte den Kies. Nicht hingecken in den Augen, Angst vibrierte im Hals. Sie öffnete hen, die Mappe loswerden und nicht hingehen. Er das Aufgabenbuch, las: erinnerte mit dem (von wem 60 wußte, daß er nur die Mappe loszuwerden brauchte. nur gelöschten?) Bewußtsein. Eins zwei drei vier. TöDas glatte warme Holz einer Rollerlenkstange in den ne erzeugten seine steifen Finger; das Metronom tickHänden haben. Die Mappe ins Gebüsch schleudern 125 te laut und humorlos . und einen Stein in die Hand nehmen oder einen Zweig (In: G. Wohmann, Erzählungen. Langwiesche-Brandt Verlag, Ebenhausen 1966, S. 67-70) © EJP [WOHMANN, GABRIELE Die Klavierstunde.doc] Seite 1 von 1
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