AKZENTUIERT DEM ZUFALL ENTGEGEN Ein Gastbeitrag von Saša Stanišić foto: Getty Images/Sean Gallup (S. 26 oben), ILLUSTRATION: ELLIOT BEAUMONT (S. 27) I n Bosnien hat es geschossen am 20. August 1992, in Heidelberg hat es geregnet. Es hätte auch Osloer Regen sein können; Heimat ist Zufall – dort wirst du geboren, hierhin vertrieben, drüben vermachtest du deine Nieren an die Wissenschaft. Glück hat, wer den Zufall beeinflussen kann. Wer sein Zuhause nicht verlässt, weil er muss, sondern weil er will. Heidelberg begann für mich als eine zufällige Stadt. Sie war temporär gedacht, als Rettung aus der wirklich gewordenen Unwirklichkeit des Krieges. Am 20. August 1992 kam nach dem Regen die Sonne. Meine Mutter wollte mir, dem verunsicherten Jungen, etwas Gutes tun. Das Geld reichte aber nur für eine Kugel Eis. Die andere schenkte uns der Eisverkäufer. Mit den Waffeln in der Hand spazierten wir neben einem Fluss, der wie alles namenlos war: die Straßen, die Gebäude, die Farben. Wir verstanden niemanden. Das einzige, was ich auf Deutsch sagen konnte, war „Lothar Matthäus“. Oberhalb der Altstadt thronte die blassrote Ruine eines Schlosses. Japaner kraxelten darauf herum und machten Fotos. Alles war so selbstverständlich: eine touristische Attraktion, Touristen, der Schokoladengeschmack vom Schokoladeneis. Auch wir schienen plötzlich selbstverständlich – eine Mutter und ein Sohn auf einem kleinen Platz, der bald nicht mehr namenlos sein würde: Karlsplatz. Wie andere Mütter und Söhne auf anderen Plätzen. Geflüchtet – angekommen. Innehaltend vor einem imposanten, fremdartigen Bauwerk. akzente 4/15 ZUR PERSON Saša Stanišić floh 1992 mit seinen Eltern vor dem Balkankrieg nach Heidelberg. 2014 erhielt der Autor den Preis der Leipziger Buchmesse. Der Anblick des Schlosses wird für mich immer nach Schokoladeneis schmecken. Und nach Sicherheit, die zum ersten Mal nach der Flucht fassbar wurde. Hier waren wir fremd, doch viel wichtiger, die Fremde war nicht lebensbedrohlich. Dieses Glück hatten viele nicht. Kein Zufall konnte sie retten, Willkür und Hass nahmen ihr Leben. 2015 jährte sich zum 20. Mal der Genozid in Srebrenica. Mehr als 8.000 bosnische Muslime wurden dort ermordet. Und Tausende sterben nach wie vor: in Syrien, im Jemen, in Libyen, in den Drogenkriegen von Mexiko. Auch vielen Flüchtenden gelingt das Überleben nicht. Das hat zu oft nicht mit Zufall zu tun, sondern mit dem mangelnden politischen Willen, sie zu schützen. Die im Mittelmeer ertrinkenden, erfrierenden Menschen und jene, die es an die Grenzen der EU schaffen, dort aber aufgehalten oder zurückgeschickt werden, entlarven die Realität der EU-Flüchtlingspolitik und überhaupt humanistischer Werte als Farce aus Uneinigkeit, Passivität und Ignoranz. Statt für legale Wege einer sicheren Einreise zu sorgen und in einzelnen Ländern sinnvolle Unterbringungsund Unterstützungsmodelle zu schaffen, wird die Hilfeleistung unterlassen und eine 27 humanitäre Katastrophe (noch) nur durch den Einsatz freiwilliger Helfer verhindert. Gerade in Deutschland mit dessen Geschichte von Flucht und Vertreibung wird das Thema in Teilen der Bevölkerung und der Politik enttäuschend restriktiv verhandelt. Es vergeht kaum eine Nacht, in der kein Anschlag auf ein Asylbewerberwohnheim verübt wird. Die sozialen Medien sind einerseits voll mit Menschen, die zu helfen bereit sind, andererseits voll mit Hass und Häme. Ich lebe seit 23 Jahren in Deutschland. In der ersten, der schwierigsten Zeit, bin ich Menschen begegnet, in der Nachbarschaft, in Behörden, die, ohne viel Aufhebens, bereit waren zu helfen. Ich trat zufällig in ihr Leben, sie reichten mir die Hand. Ohne sie wäre ich abgeschoben worden, diesen Text würden andere schreiben. Unser zufälliges Zusammenkommen werteten sie mit einer absichtsvollen Wohltat auf. Wie der Eisverkäufer in Heidelberg, der mich mit einfacher Großzügigkeit gelehrt hatte, dass wir nicht nur für das eigene Glück verantwortlich sind. Sondern auch für den fremden Zufall. Zusätzlich in der akzente-App: eine Bildergalerie zu Prominenten mit Fluchtgeschichte www.giz.de/akzente-app
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