30 Das Bayer Kultur-Magazin Essay | KUNST KONZERTE | Alles Mozart, oder was? TANZ | Von Menschen und Orten SCHAUSPIEL | Über das Leben Jugend | Puppenspiel meets New Media KONZERTE | Verbündete der Neugier Editorial wird digital(er), gewinnt an Spontaneität, verjüngt sich, steigert die Lebendigkeit und vor allem – den Austausch mit Ihnen! Denn ein Blog „ist ein elektronisches Tagebuch im Internet. Über Permalinks und Trackbacks können Verweise auf spezielle Beiträge anderer Seiten gesetzt und somit intensive Diskussionen geführt werden.“ (Gabler Wirtschaftslexikon). So sei es. Und wir freuen uns schon jetzt auf einen lebendigen Austausch mit Ihnen! Selbstverständlich empfehlen wir jedoch auch weiterhin den analogen Besuch bei uns. Schauen Sie im Mai unbedingt bei Moby Dick vorbei (Seite 16). Studierende der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ Berlin lassen in dieser Koproduktion mit Bayer Kultur die Puppen tanzen, entführen in mediale Welten und verwandeln die Bühne in eine große Playstation. Seien Sie dabei wenn es heißt „Puppenspielkunst meets New Media“! Liebe Freunde von Bayer Kultur, Mit diesem KUNSTstoff halten Sie die 30. Ausgabe des Magazins in Händen. Sechs Spielzeiten lang haben wir die Vorstellungen im Erholungshaus mit Essays, Artikeln, Hintergrundberichten, Interviews und vielem mehr begleitet. Externe Autoren, Kollegen und kulturelle Weggefährten haben uns dabei mit ihrem Wissen unterstützt, sind in die Tiefen der Materie eingetaucht und haben hinter die Kulissen geschaut. Unser Anliegen war, Ihnen einige der Aufführungen und die Künstler, die bei uns auftreten, ein Stück näher zu bringen, und wir denken, dies ist uns ganz gut gelungen. Frei nach dem deutschen Aphoristiker Peter Rudl – „Manchmal muss man Schluss machen, damit es nicht aufhört“ –, haben wir uns nun jedoch entschlossen, dass die 30. Ausgabe gleichzeitig unsere letzte sein soll. Zumindest in gedruckter Form. Denn genauso wenig wie Sie (hoffen wir), wollen wir (wissen wir) auf die Zusatzinformationen und das „Dahinter“ verzichten. Daher heißt es demnächst – Vorhang auf für unseren Blog! Bayer Kultur 2 Wer es etwas ruhiger mag, dem sei die Deutsche Erstaufführung von Der Vater ans Herz gelegt. Der großartige Volker Lechtenbrink und die Theater- und Filmschauspielerin Johanna Christine Gehlen brillieren in diesem Stück über Alzheimer als Vater-Tochter-Gespann. Lechtenbrinks Sicht auf das Leben sowie das Vergessen an sich erfahren Sie in einem Interview mit ihm auf Seite 14. Wer sich der Klassik verschrieben hat, kommt an ihm nicht vorbei: Kristian Bezuidenhout (Seite 8). Der Pianist mit südafrikanischen Wurzeln hat Mozart zu seinem Lieblingskomponisten erklärt und erfreut einen Sommerabend lang mit eben jenem Tonsetzer. „Einer der führenden und wohl brillantesten Pianisten unserer Zeit“, betitelte The London Times Bezuidenhout sehr treffend. Ihn sollten Sie sich auf gar keinen Fall entgehen lassen. Und nun bleibt uns, Ihnen viel Vergnügen beim Lesen dieser Lektüre zu wünschen! Auf bald im Erholungshaus und in der digitalen Welt, Ihr Team von Bayer Kultur 30 Mai – Juni 15 Essay Der zweideutige Spiegel Zu Wahrheiten in Philosophie und Kunst Seite 4 KONZERTE Kristian Bezuidenhout … … und sein Mozart-Spiel Seite 8 TANZ Als Tanzbotschafter unterwegs Das Bundesjugendballett verbindet Menschen an unterschiedlichsten Orten Seite 12 SCHAUSPIEL Der Vater Ein Gespräch mit Volker Lechtenbrink Seite 14 Jugend | SCHAUSPIEL Moby Dick Ein Klassiker wird virtuell Seite 16 KONZERTE Masaa Ein wahrlich guter Abend Seite 18 Das Bayer Kultur-Magazin 3 Mischa Kuball, image apparatus_polaroid, 2011, 57 Unikatfotografien, je 58 x 66,5 cm 4 Der zweideutige Spiegel Zu Wahrheiten in Philosophie und Kunst Text: Ludwig Seyfarth · Fotos: Mischa Kuball und Wikimedia Wahrheiten lautet das Spielzeit-Motto von Bayer Kultur, wohlweislich in der Mehrzahl. Denn wenn von Wahrheit die Rede ist, welche Wahrheit ist überhaupt gemeint? Diese Frage stellt sich nicht erst in postmodernen, allen ontologischen Gewissheiten skeptisch gegenüberstehenden Zeiten. Die Geschichte der Philosophie kennt verschiedene „Schulen“ der Wahrheit. So gibt es die Korrespondenz- oder Adäquationstheorie, die Wahrheit als Übereinstimmung von Verstand und Sache (adaequatio rei et intellectus) auffasst, vertreten schon in der Antike etwa von Aristoteles und von vielen mittelalterlichen Denkern, etwa Thomas von Aquin. Der Wahrheitsbegriff der Logik beruht auf der Kohärenz, der Widerspruchsfreiheit von Aussagen. Die Vorstellung, dass eine mathematische oder sprachliche Struktur eine Wahrheit hinter der Erscheinung der Dinge verkörpere, leitet zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch noch den frühen Ludwig Wittgenstein, der die Welt durch Aussagesätze vollständig zu beschreiben suchte. Wittgensteins berühmter Satz „Die Welt ist alles, was der Fall ist“ könnte auch lauten „Wahr ist alles, was der Fall ist“, und damit auch für den handlungsorientierten Pragmatismus angelsächsischer Schule oder den radikalen Konstruktivismus gelten, der allen ontologischen Wahrheitsbegriffen den Rücken kehrt. Hier ist der Fall, was Menschen in ihrem Denken und Handeln leitet, und Wahrheit ist das, was viele Menschen für wahr halten: definiert durch gesellschaftlichen Konsens und durch die Gewohnheit der sprachlichen Verständigung. Dieser Meinung war schon Friedrich Nietzsche: „Logisch geht es also jedenfalls nicht bei der Entstehung der Sprache zu, und das ganze Material, worin und womit später der Mensch der Wahrheit, der Forscher, der Philosoph arbeitet und baut, stammt, wenn nicht aus Wolkenkuckucksheim, so doch jedenfalls nicht aus dem Wesen der Dinge.“ Der radikale Atheist Nietzsche und die Konsenstheoretiker haben sich am weitesten entfernt von einer spirituellen oder religiösen Wahrheit, die sich nicht durch intellektuelle Leistung erfassen lässt, sondern nur durch die Kraft des Glaubens erreichbar ist. Dass mit der Wahrheit etwas gesucht wird, das hinter der Erscheinung der Dinge liegt, hat auch eine anhaltende Skepsis gegenüber dem Bild erzeugt. Bekanntlich existieren in vielen Religionen Bilderverbote. „Kein Bild ist wahr", verkündete der mit- telalterliche Gelehrte Thomas von Aquin. In Europa gipfelte die Bildfeindlichkeit in der calvinistischen Variante des Protestantismus. Aber schon im Altertum war Platon die abbildende Tätigkeit der Künstler so suspekt, dass er sie gleich doppelt abqualifizierte. Abbilder seien weniger wahr als die Dinge selbst, die er wiederum nur als unvollkommene Abbilder göttlicher Ideen ansah. Die Künstler haben allerdings längst gelernt, die Kritik an ihrer Distanz zur Wahrheit und an ihrem „nur“ fiktiven Charakter geschickt zu parieren. So äußerte Pablo Picasso 1923: „Wir wissen alle, dass Kunst nicht Wahrheit ist. Kunst ist eine Lüge, die uns die Wahrheit begreifen lehrt, wenigstens die Wahrheit, die wir als Menschen begreifen können. Der Künstler muss wissen, auf welche Art er die anderen von der Wahrhaftigkeit seiner Lügen überzeugen kann.“ Und aus dem Munde eines dialektisch geschulten Philosophen klingt es so: „Kunst ist Magie, befreit von der Lüge, Wahrheit zu sein“, schrieb Theodor W. Adorno in seiner 1951 publizierten Minima Moralia. Die marxistische Widerspiegelungstheorie, die auch einen zentralen Ausgangspunkt für Adornos Denken darstellt, sieht die Wahrheit in einer Übereinstimmung von menschlichem Bewusstsein und objektivem Sein, so dass Wahrheit und Wirklichkeit tendenziell synonym werden. Dies gilt auch für einen Wahrheitsbegriff, der direkt mit der Oberfläche der Dinge verbunden ist und ihre getreue Abbildung meint. Dieser verzeichnete vor allem mit der Erfindung des „Gefrierspiegels“ (Umberto Eco) der Fotografie eine Hochkonjunktur. Aber was der Spiegel abbildet, war schon immer zweideutig, wie es der Arzt und Mathematiker Raphael Mirami 1582 in wenigen vielzitierten Sätzen auf den Punkt brachte: „Für einige, sage ich, waren Spiegel die Hieroglyphe der Wahrheit, weil sie alles enthüllen können, was sich ihnen zeigt, so wie es der Wahrheit Brauch ist, die nicht verborgen bleiben kann. Andere dagegen halten Spiegel für Symbole der Falschheit, weil sie Dinge oft anders zeigen, als sie sind.“ Dies könnte auch als Motto für die vielbeschworene Wahrheit der Fotografie gelten. Die Natur selbst schien das fotografische Bild auf die Fotoplatte oder -schicht gepresst zu haben, so wie der Schweiß Christi sein Antlitz als „vera icon“, als wahres Bild, auf Das Bayer Kultur-Magazin 5 das Schweißtuch der Veronika. Der Zeichenstift der Natur, von dem der Fotopionier Henry Fox Talbot metaphorisch sprach, wurde nicht von einem Maler, Zeichner oder Stecher geführt. Die Bilder entstanden mittels einer Apparatur „von selbst“, was ihnen Zeugenschaft für das Abgebildete verlieh. Diese „Wahrheit“ wurde jedoch nicht erst durch die Möglichkeiten des Computers, sondern schon in der Frühzeit der Fotografie oft in Frage gestellt. Retuschen beseitigten, was man nicht oder nicht mehr sehen wollte, etwa Falten aus einem Gesicht oder Menschen ganz aus dem Meister der Heiligen Veronika, etwa 1420, Alte Pinakothek, München 6 Bild, wie sowjetische Parteifunktionäre, die bei Stalin in Ungnade gefallen waren. Andererseits tauchten auf Fotos regelmäßig Geister Verstorbener oder unbekannte Flugobjekte auf, deren Ablichtung als Beleg für ihre tatsächliche Existenz herhalten sollte. Das war absichtlicher Betrug am Betrachter, sofern die Fotografen nicht selbst daran glaubten, was sie mit der Kamera eingefangen hatten. Dass die Fotografie lüge, aber aus ganz anderen Gründen, meinte der Bildhauer Auguste Rodin. Sie könne das Leben nicht wirklich darstellen, weil sie aus seinem organischen Fluss nur einen Moment herausgreife, wie Rodin 1911 in einem der von Paul Gsell aufgezeichneten Gespräche mit dem Künstler darlegte. Rodin bezieht sich auf seine Skulptur Johannes der Täufer von 1978: „Während mein Täufer mit beiden Füßen auf der Erde dargestellt ist, würde eine Momentphotographie nach einem Modell in derselben Stellung den hinten stehenden Fuß schon erhoben und im Begriff vorgezogen zu werden zeigen. Oder man könnte vielleicht das Gegenteil sehen, dass der vordere Fuß noch nicht die Erde berühren würde, wenn das nach rückwärtsgerichtete Bein auf der Photographie dieselbe Stellung wie an meiner Statue einnähme. Dieses photographische Modell würde also den wunderlichen Anblick eines plötzlich gelähmten und in seiner Stellung wie zu Stein gewordenen Menschen gewähren...“. Für Rodin stand fest: „Der Künstler ist wahr und die Photographie lügt; denn in Wirklichkeit steht die Zeit nicht still...“. Der französische Fotokurator Régis Durand folgte noch Jahrzehnte später Rodins Kritik an der Momentaufnahme, als er 1997 den Betrachtern von Fotografien eine Neigung zur Regression vorwarf: „Eine isolierte Aufnahme verspricht, mehr noch als die beweglichen Bilder des Kinos, bis heute einen authentischen Moment individueller Erkenntnis. Da die meisten Menschen sich Wahrheit nur noch schwer als den fortdauernden Zustand denken können, in dem sie leben, lebt die Photographie vom nur langsam schwindenden Mythos ihrer momenthaften Zufälligkeit und abstraktionsfreien Alltagsnähe nicht schlecht.“ Rodins Skepsis standen aber auch die begeisterten Modernisten gegenüber, für die das fotografische Bild aufgrund seiner vermeintlichen Objektivität eine Wahrheit verkörperte, welche die traditionellen Künste nie erreichen konnten. So behauptete der russische Künstler Alexander Rodtschenko in den 1920 er Jahren, dass die Malerei immer sofort zur Idealisierung führe und die Wirklichkeit verfälsche: „Gegen die Kunst muss jeder kultivierte Mensch kämpfen. Lügt nicht! Fotografiert! Fotografiert!“ Dieses Verdikt eines Künstlers gegen die künstlerische Fiktion setzt Wahrheit und technisch-wissenschaftlichen Fortschritt in eins. Eine ähnlich radikale Haltung vertrat Laszlo Moholy-Nagy, der damals in der deutschen Fortschrittsfabrik der Künste, dem Bauhaus, lehrte. Nicht alle Kollegen folgten seinen Anschauungen. So schrieb Lyonel Feininger in einem Brief an seine Frau: „Immer und immer wieder wird von Kino, Mechanik, Projektion und Fortbewegung geredet. Klee war gestern ganz beklommen, als er von Moholy-Nagy sprach.“ Während Moholy-Nagy in sichtbaren technischen Strukturen nicht nur eine Wahrheit, sondern auch eine neue Schönheit entdeckte, lag für Paul Klee, der sich eher in der Tradition der Romantik sah, das Wahre und Schöne hinter der äußeren Erscheinung: „Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar.“ Schon die Romantiker folgten einem Schönheitsbegriff, der untrennbar mit einer gefühlten metaphysischen Wahrheit verbunden war. Friedrich Schlegel hatte seinerzeit ähnlich formuliert, was Wassily Kandinsky 1910 in seiner Schrift Das Geistige in der Kunst niederschieb. Schön sei, „was einer inneren seelischen Notwendigkeit entspricht.“ Über die Notwendigkeit, die auf seelischen Empfindungen beruhen, rational zu sprechen, ist jedoch schwierig. Was in den Schriften Kandinskys oder Klees noch einigermaßen klar daherkommt, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem oft haltlosen Geschwafel über das, was die Künstler aus ihrem vermeintlichen Inneren heraus auf der Leinwand oder anderswo zum Ausdruck brachten. Mitte der 1960 er Jahre begannen einige jüngere Künstler sozusagen die Reißleine zu ziehen. Sie wollten grundsätzlich wieder klarstellen, was beim künstlerischen Prozess geschieht, den sie analog zur Struktur der verbalen Sprache auffassten. Die konsequenteste „sprachliche“ Analyse der künstlerischen Mittel vollzog Joseph Kosuth, der sich als Wortführer der frühen New Yorker Konzeptkunst sah. In One and Three Chairs präsentierte Kosuth einen realen Stuhl, seine fotografische Ab- bildung sowie die Definition des Begriffs „Stuhl“ aus einem Wörterbuch gleichwertig nebeneinander. Solche Annäherungen von Kunst, Philosophie und Linguistik fanden nicht überall Anklang. Konzeptkunst sei doch keine „wahre“ Kunst, sondern nur Zeigen auf Dinge, meinte etwa der Farbfeldmaler Al Held. Aber was ist „wahre“ Kunst? Geht es Künstlern heute überhaupt noch um Wahrheit? Oder stellen sie nicht vielmehr Wahrheitsansprüche infrage, etwa diejenigen der Wissenschaft? Sie suchen nicht nach „der“ Wahrheit, sondern stellen andere Sichtweisen der Dinge als die gewohnten zur Diskussion. Dies gilt auch für die Künstlerinnen und Künstler der Ausstellung Substanzieller Einfluss. Sie nutzen technische und wissenschaftliche Mittel und Verfahren, um daraus ästhetische Erfahrungsmöglichkeiten zu generieren. Ob das, was uns dann vorgeführt wird – etwa die mit einem Computertomographen gemachten Aufnahmen einer Sofortbildkamera bei Mischa Kuball – ein „wahreres“ Bild der Dinge und der Welt liefert als die Bilder, die wir bisher kannten, ist vielleicht gar keine relevante Frage. Der heutige künstlerische Umgang mit wissenschaftlichen und anderen Wahrheiten entspricht eher der skeptischen Sichtweise, die Friedrich Nietzsche 1873 in Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne anschaulich beschrieb: „Die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen, in Betracht kommen.“ Die andere Sicht, die durch die künstlerische Bearbeitung des Metalls neben die gewohnte tritt, verleiht auch wertund kraftlos erscheinendem Material gleichsam neues Leben. Diese sozusagen alchimistische Fähigkeit der Kunst ist aber auch das, was sie den moralischen Verächtern des schönen Scheins immer wieder als Lüge verdächtig gemacht hat. Im außermoralischen Sinne betrachtet, wie Nietzsche es vorschlägt, steht der Gegensatz von Wahrheit und Lüge plötzlich radikal in Frage. Und so sind die Perspektiven, welche die Kunst der gewohnten – und vielleicht nur deshalb für wahr gehaltenen – Sicht der Dinge immer wieder hinzufügt, ebenso relevant wie die vermeintlichen Fakten, die wir von den so genannten Hard Sciences erhalten. Das Bayer Kultur-Magazin 7 Kristian Bezuidenhout … … und sein Mozart-Spiel Text: Carsten Dürer · Foto: Marco Borggreve 8 K. Bezuidenhout Heutzutage scheint es weniger ungewöhnlich, wenn sich ein Pianist auf der Bühne an einen historischen Hammerflügel setzt, als noch vor 20 Jahren. Dennoch war es ein eher zufälliger Weg, der den 1979 in Südafrika geborenen Kristian Bezuidenhout zum Spiel auf historischen Tasteninstrumenten brachte. Aufgewachsen in Australien, ging er 1998 in die USA, um dort ein klassisches PianistenStudium zu absolvieren. Dort lernte er Malcolm Bilson kennen, einen der wichtigsten Lehrer für Hammerflügel. Und sogleich verliebte er sich in die klanglichen Möglichkeiten dieser Instrumente. Da seine Liebe schon immer besonders Mozarts Musik galt, war der Hammerflügel das perfekte Mittel für Bezuidenhout: „Ich liebte Mozart immer schon mehr als alles andere. Und ich fand es so frustrierend, diese Musik auf einem modernen Flügel zu spielen. Und jeder Lehrer schrie mich an, ich sollte mit besserer Phrasierung spielen, deliziöser. Und plötzlich traf ich dann Malcom Bilson und diese wundervollen alten Instrumente“, erklärt Bezuidenhout über seine ganz persönliche Entdeckung der historischen Tasteninstrumente. „Auf diesen alten Instrumenten Mozart zu spielen, war so erfrischend, ich brauchte keine Angst mehr davor zu haben, zu laut oder zu aggressiv zu spielen, es funktionierte plötzlich.“ Dennoch war das Hammerflügelspiel in den USA immer noch ein wenig exotisch … Neben Bilson fand er in Arthur Haas einen Cembalolehrer, der ihm „viel über Zeitgefühl und über die Präzision, mit beiden Händen zu spielen“ beibrachte. Nachdem Bezuidenhout mit 21 Jahren in Brügge einen internationalen Wettbewerb für Hammerflügel gewann, war der Weg in die europäische Musik-Szene für den Südafrikaner geebnet und er ließ sich in Europa nieder, wo sein Weg an die Spitze der Mozart-Interpreten begann. Ab 2010 konnte Kristian Bezuidenhout seiner Leidenschaft für Mozart dann auch auf internationaler Ebene Ausdruck verleihen, als er begann, sämtliche KlavierSolo-Werke des Salzburger Meisters auf CD einzuspielen – selbstredend auf einem Hammerflügel. Die Fachwelt erkannte, wie sehr dieser noch junge Pianist die Musik Mozarts durchlebt, sie „sprechend“ und „singend“ darzustellen versteht. Mozart klang und klingt neu bei Kristian Bezuidenhout – frisch und unverbraucht, auch bei den bekanntesten Werken dieses viel interpretierten Komponisten. Kein Wunder, dass Bezuidenhout sagt: „Wenn ich Mozart spiele, ist er mit seinen Melodien das Schönste für mich, was jemand für Klavier schreiben kann. Selbst wenn Beethoven eine schöne Melodie schreibt, hat sie für mich niemals dieselbe Perfektion wie die von Mozart.“ Bezuidenhout liebt und lebt Mozarts Musik und ist fest davon überzeugt, dass dem Komponisten auch die Sängerinnen, von denen er beständig umgeben war, geholfen haben, die wundervollen Melodien zu schreiben. Der Pianist erklärt: „Das moderne Klavier gibt einem ein besseres Verständnis davon, wie man den Klang formt, wie man Tonfarben kreiert. Das ist auf einem Hammerflügel schwieriger, da die Mechanik vollkommen anders geartet ist.“ Doch von diesen „Schwierigkeiten“ hört man in Bezuidenhouts Spiel nichts, sondern wird eingefangen von der Leichtigkeit, von einer Selbstverständlichkeit der Klanggabe und des Spielflusses, so dass man meint, einige Feinheiten in Mozarts Musik höre man zum ersten Mal. Mittlerweile ist Kristian Bezuidenhouts Mozart-Spiel bereits so etwas wie ein Status-Quo geworden, etwas, woran andere Pianisten – gleichgültig, auf welchem Instrument sie spielen – sich messen müssen. Dies liegt aber nicht nur an Bezuidenhouts famoser Melodie-Gestaltung, sondern vor allem daran, dass er die Besonderheiten des Klangs der Instrumente so natürlich zu behandeln weiß, dass man schon nach ein paar Sekunden seines Spiels den Hammerflügel als das beste Instrument empfindet, mit dem man Mozarts Musik ausdrücken und hören sollte. Natürlich hat sich das wunderbare Hammerflügelspiel Bezuidenhouts mittlerweile in aller Welt herumgesprochen, und so ist er mit allen bekannten Orchestern und Dirigenten der Alte-Musik-Szene aufgetreten und hält Gastprofessuren an der berühmten Schola Cantorum Basiliensis sowie der Eastman School of Musik in den USA. Doch Kristian Bezuidenhout ist vor allem eines: Ein moderner Botschafter des Hammerflügelspiels und ein perfekter Mozart-Interpret. Gut, dass er auch einen Abstecher nach Leverkusen macht und auf einem Flügel von Michael Rosenberger spielt, der um 1800 in Wien gebaut wurde. Der Autor Carsten Dürer ist Musik-Journalist und Herausgeber der Magazine PIANOnews und ENSEMBLE. Kristian Bezuidenhout DI16.06 | 20:00 | Historische Stadthalle, Wuppertal MI17.06 | 19:30 | Bayer Kulturhaus, Leverkusen Das Bayer Kultur-Magazin 9 Wir danken allen Küns Spielzeit 2014/15! 10 stlern für eine wunderbare Das Bayer Kultur-Magazin 11 Als Tanzbotschafter unterwegs Das Bundesjugendballett verbindet Menschen an unterschiedlichsten Orten Text: Daniela Rothensee · Fotos: Silvano Ballone Wortlose Verständigung als Ideal zwischenmenschlicher Beziehungen gilt als Ausdruck von großem Vertrauen. Der Tanz ist nonverbale Kommunikation – und damit ein ideales Mittel, um Verständigung durch Emotionen zu schaffen. Zwischen Menschen aus verschiedenen Ländern, zwischen Jung und Alt, Groß und Klein, Arm und Reich. „Der zentrale Aspekt unserer Arbeit ist es, zu zeigen, dass Tanz wesensmäßig menschlich ist“, erläutert der Intendant des Bundesjugendballett John Neumeier. 2011 gründete er die Compagnie aus acht fertig ausgebildeten Profitänzerinnen und -tänzern zwischen 18 und 23 Jahren. Die Finanzierung kommt aus Kulturmitteln des Bundes, die nächsten vier Spielzeiten sind gesichert. Unter der künstlerischen und pädagogischen Leitung von Kevin Haigen, international bekannter ehemaliger Erster Solist, hat die Compagnie einen besonderen Auftrag: Bewusst Orte aufzusuchen, an denen Ballett bislang nicht zu Hause war, und Menschen zu erreichen, die mit Tanz selten in Berührung kommen. Auf dem Spielplan stehen Workshops in Schulen und integrativen Sportgruppen neben Vorstellungen in Seniorenheimen oder sozialen Einrichtungen. 2012 zum Beispiel setzten die Tänzer Rap-Songs von Gefängnisinsassen in Bewegungen um und präsentierten sie gemeinsam mit den Rappern vor Häftlingen in Gefängnissen bundesweit. Musikalische Kooperationen sind zum Markenzeichen geworden, kaum ein Auftritt kommt ohne Live-Musik aus. Für alle Projekte steht die Begegnung zwischen Menschen im Vordergrund, zwischen Künstlern unterschiedlicher Sparten. Es ist eine Arbeit, die auf einen offenen Austausch setzt. Das Streben nach größtmöglicher Ehrlichkeit durch Bewegung funktioniert aber auch auf großer Bühne. Durch die Tänzerkörper spricht dann die Seele des jeweiligen Choreographen, von den Bewegungen lässt sich sein individuelles Verständnis von Tanz ablesen. Das Bundesjugendballett ist seit seiner Gründung als kreierende Compagnie angelegt, die mit wechselnden Choreographen ständig neue Werke schafft. Das Projekt ist also gleichsam eine Nachwuchsförderung junger Choreographie-Talente, teilweise aus den Reihen der Tänzer selbst. Neben Einstudierungen klassischer bis moderner Stücke etablierter Choreographen, besteht das Repertoire größtenteils aus 12 Balletten, die junge Gast-Choreographen exklusiv mit den Tänzern im Ballettsaal erarbeiten. Geprägt ist dieses Selbstverständnis als Ausbildungsstätte für Tanz und Choreographie von der Vision John Neumeiers, der seit 42 Jahren als Chefchoreograph an der Spitze des Hamburg Ballett steht und in seiner Karriere mehr als 150 Choreographien geschaffen hat. „Das Herz meiner Arbeit ist die Kreation“, fasst er zusammen. „Die Instrumente sind Tänzer, die mich neben ihrer Technik vor allem durch ihre Persönlichkeit und Kreativität inspirieren.“ Wenn das Bundesjugendballett im Mai 2015 im Bayer Kulturhaus auftritt, bringt es verschiedene Stücke aus seinem aktuellen Repertoire mit. Darunter das 2014 uraufgeführte, imposante Kriegspoem The Swirl of Snow Remains der slowakischen Choreographin Natalia Horecna und eine Choreographie John Neumeiers zu Beethovens Streichquartett Nr. 13 in B-Dur opus 130. John Neumeier ließ für die Uraufführung des Stücks 2012 einige Sätze des Streichquartetts choreographisch unbearbeitet, gab seinem Stück den Beititel Work in Progress. Wie auch die junge Compagnie, für die das Ballett geschaffen wurde, befinde sich sein Stück mitten im Entstehungsprozess, entwickle sich immer weiter. Ein Schlüsselwerk für das Selbstverständnis der jungen Compagnie, die davon lebt, dass immer neue Tänzer für maximal zwei Jahre die Werke des Repertoires durch ihre individuellen Interpretationen prägen. Die besonderen Orte stellen aufgrund ihrer unterschiedlichen Gegebenheiten immer wieder neue Herausforderungen an die Wandelbarkeit und Adaptionsmöglichkeit der Stücke. Neumeiers Beethoven-Choreographie kam auch schon in einer Hamburger Diskothek zur Aufführung, Natalia Horecnas Kriegsessay in einem für die Reinigung leergepumpten Schwimmbecken. Und jetzt also im Bayer Kulturhaus. Das Publikum darf einen Abend ehrlicher Tanzfreude erwarten – darauf können Sie vertrauen. Die Autorin Daniela Rothensee ist Presse- und Kommunikationsreferentin am Hamburg Ballett – John Neumeier und Bundesjugendballett. Bundesjugendballett SA 30.05 | 19:30 | Bayer Kulturhaus, Leverkusen Beethovens Streichquartett in B-Dur, Choreographie von John Neumeier, Bundesjugendballett Das Horecna, Bayer Kultur-Magazin 13 The Swirl of Snow Remains, Choreographie von Natalia Bundesjugendballett Der Vater Ein herzliches Gespräch mit Volker Lechtenbrink Interview: Reiner Ernst Ohle · Foto: Jim Rakete 14 V. Lechtenbrink, J. C. Gehlen Der deutsche Schauspieler, Sprecher, Regisseur, Intendant, Texter und Schlagersänger Volker Lechtenbrink blickt auf eine lange Karriere zurück: Schon mit 10 Jahren stand er erstmals auf der Bühne, weltberühmt wurde er als 14-Jähriger durch den Antikriegsfilm Die Brücke. Von 1962 bis 1963 spielte der Ausnahmekünstler in der Fernsehserie Alle meine Tiere an der Seite von Gustav Knuth und ist seitdem regelmäßig im deutschen Fernsehen und auf der Bühne zu sehen. Volker Lechtenbrink lebt in Hamburg – wo er seit 1975 am Hamburger Ernst-Deutsch-Theater als Schauspieler und Regisseur sowie von 2004 bis 2006 als Intendant tätig war – und bezeichnet die Stadt als „seine Heimatstadt“. Seine sehr markante, sonore Stimme macht den Künstler darüber hinaus zu einem gefragten Hörbuch- und Synchronsprecher. So erhielt er 2007 den Deutschen Hörbuch Preis (Bester Interpret) für Die Brücke, und 2008 wurde das Hörbuch Das Feuerschiff von Siegfried Lenz mit dem Preis der deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet. Außerdem war er unter anderem die deutsche Stimme von Kris Kristofferson und Dennis Quaid. Nach Leverkusen kommt Volker Lechtenbrink mit dem St. Pauli Theater und der deutschen Erstaufführung des Stücks Der Vater (Autor Florian Zeller, Inszenierung Ulrich Waller), das 2012/2013 erfolgreich am Pariser Théâtre Hébertot uraufgeführt wurde. Das Stück stellt die Alzheimer-Krankheit und den damit eingehenden Orientierungsverlust eines Menschen in den Mittelpunkt. Die Faszination für den Zuschauer liegt nicht nur darin, dass hier ein zentrales Problem einer alternden Gesellschaft auf anrührende und eindringliche Weise geschildert wird. Vielmehr erlebt der Zuschauer wirkungsvoll, wie sich der Alltag aus der Sicht des alten Mannes in ein verwirrendes Labyrinth verwandelt. Der Protagonist erkennt seine Mitmenschen nicht mehr oder verwechselt sie und verwickelt sich in absurde Gespräche. Reiner-Ernst Ohle: „In einem Interview haben Sie einmal gesagt: ‚Alle wollen alt werden, aber keiner will es sein‘. Und Ihre Autobiographie aus dem Jahre 2010 trägt den schönen Titel Gib die Dinge der Jugend mit Grazie auf! Mein Leben. Wie erleben Sie das Alter? Wie haben Sie sich auf die Rolle des Vaters vorbereitet?“ Volker Lechtenbrink: „Was heißt es, alt zu sein? Manche sehen schon mit 30 sehr alt aus. Andere sind mit 90 noch gut dabei. Ich freue mich, wenn ich gesund bin und weiß genau, dass ich dafür etwas tun muss. Sehr diszipliniert absolviere ich ein Kieser-Training, um meinem Rücken etwas Gutes zu tun. Im Übrigen bin ich nicht der Typ für tiefsinnige Grübeleien. Ich versuche, entspannt zu bleiben und freue mich, gesund zu sein. Mit dem Thema Demenz bin ich durch die Erkrankung meiner Mutter drei Jahre lang unmittelbar konfrontiert worden. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen kann ich nur Eines sagen: ich bin total fasziniert davon, was dem Autor gelungen ist. Das Stück von Florian Zeller ist phantastisch geschrieben – es ist richtig komisch und tragisch zugleich. Ich wollte es unbedingt spielen!“ REO: „Was ist und bedeutet Glück für Sie?“ VL: „Glück ist für mich, wenn ich mit meiner Familie zusammen bin.“ REO: „Sie haben vier Tage Zeit für einen Kurztrip – wo fahren Sie hin?“ VL: „Wenn ich vier Tage am Stück zur freien Verfügung habe, fahre ich nach Hiddensee – besonders gerne in der Nebensaison. Zweimal haben wir dort Weihnachten verbracht. Unvergesslich sind mir die Abende mit dem alten Pfarrer, in dessen Krippenspiel die Kinder die Schafe spielten.“ REO: „Was sollte ein Hamburg-Besucher als Gast sehen?“ VL: „Unbedingt die Gewässer, die die Stadt bestimmen: Alster und Elbe!“ REO: „Was ist Ihr Lieblingsplatz in Hamburg außerhalb Ihrer eigenen vier Wände?“ VL: „Der Stadtpark vor meiner Haustür, der in jeder Jahreszeit ein Platz der Ruhe, der Entspannung und der Sammlung sein kann.“ REO: „Worüber und wann lachen Sie am liebsten?“ VL: „Ich kann herzlich über Dinge lachen, die zufällig passieren. Oder über kleine Sprachwitze, wie zum Beispiel den, den mir gestern Uwe Bohm erzählt hat: ‚Kommt ein Pferd in einen Blumenladen und fragt die Verkäuferin: Haben Sie ma geritten?‘“ (lacht) REO: „Was sollte die Zukunft bringen, für Sie persönlich und global?“ VL: „Alles überstrahlt im Moment der große Wunsch nach Frieden, auf dass es im internationalen Miteinander gelingt, einen erneuten Weltenbrand zu verhindern. Persönlich wünsche ich mir nichts weiter als Gesundheit. Sie ist das A und O!“ Der Vater DE DO 14.05 | 18:00 | Bayer Kulturhaus, Leverkusen Eine Koproduktion des St. Pauli Theater Hamburg und der Ruhrfestspiele Recklinghausen. Das Bayer Kultur-Magazin 15 Moby Dick Ein Klassiker wird virtuell Text: Friedrich Kirschner · Foto: Ubisoft Pressematerial Das erste Mal, dass ich Moby Dick gelesen habe, war vor ein paar Jahren, auf einer Veranda auf Martha’s Vineyard, nur wenige Kilometer entfernt von Nantucket, dem Ort an dem die Geschichte des Buches beginnt. Am Vormittag zuvor war ich mit den Kindern (12 und 14) meiner Gastgeber per Kajak auf eine kleine Insel gerudert, hatte mich durch dichtes Gestrüpp geschlagen, versucht, giftigem Efeu aus dem Weg zu gehen, und verschiedene Lichtungen für einen Abenteuergeburtstag ausgespäht. Auf dem Nachhauseweg dann kaufte ich das Buch aus Restbeständen einer kleinen Bibliothek, mit ausgefranstem Einband, gebleichten Seiten und dem ein oder anderen Eselsohr. Der Kontext konnte nicht stimmiger sein: Der Ausblick auf das Meer, die ein- und ausfahrenden Fischkutter, die Forschungsboote des MIT Oceanographic Institute sowie der Tag im Kajak verbanden sich zu einem großen Gefühl von Abenteuer und Entdeckung aus den Seiten von Melvilles Roman. Ich musste allerdings auch unweigerlich an einen Vortrag denken, den ich wenige Jahre zuvor in New York gehört hatte. In diesem Vortrag ging es um Videospiele. Videospiele als Abenteuerspielplatz Die Argumentation des Vortrags (Hanna Rosin hat zu einem ähnlichen Thema im Guardian einen großartigen Artikel – The overprotected Kid – geschrieben) war folgende: Kinder und Jugendliche brauchen Freiräume, in denen sie, außerhalb der Seh- und Hörweite der Eltern, selbständig spielen, eigene Regeln aushandeln und einen Ort in Beschlag nehmen, der ganz ihnen gehört. In einer sicherheitsbewussten Gesellschaft werden diese Freiräume kleiner. Baumhaus, Waldlager oder Gestrüpp mit Abenteuergeburtstagslichtung und Gift-Efeu sind in vielen Städten auch schlichtweg nicht mehr vorhanden. Videospiele, so entwickelte sich die Argumentation weiter, können zwar auf keinen Fall ein Ersatz für diese Lücke sein, jedoch erlauben sie Jugendlichen, einen Ort für sich selbst zu beanspruchen, an dem sie ihre eigenen Regeln aushandeln. Nun bieten Videospiele zumeist keine neutralen Orte, die von Jugendlichen besetzt werden – vielleicht mit Ausnahme des Spieles Minecraft, das mehr an Lego als an ein 16 herkömmliches Computerspiel erinnert und sich sicherlich auch deswegen extremer Beliebtheit erfreut. Oft genug basieren die Spiele bereits auf Konflikten, die mehr oder weniger subtil in die Umgebung eingebaut worden sind. Ähnlich wie in Romanen, Comics und Filmen basieren viele Spiele auf vereinfachten Darstellungen von rechtschaffen und böse, antiquierten Rollenbildern von Mann und Frau und weiteren dramatischen Vereinfachungen, die Abenteuergeschichten spannend machen und Spielenden ihren grundlegenden Handlungsraum vorgeben. Der große Unterschied zwischen Büchern, Filmen und Spielen ist natürlich, dass es in Spielen den Spielenden selbst überlassen ist, wie dieser Handlungsraum navigiert wird. Besonders in Mehrspielerumgebungen mit eher trivial gestrickten narrativen Elementen (Polizisten vs. Terroristen, Ritter vs. Monster etc.) entwickelt sich so oft ein kreativer Umgang mit dem zugrunde liegenden Material. Ja, ein Videospiel ist kein Abenteuerspielplatz. Auch modernste Entwicklungen in Grafik und Eingabegeräte werden diesen Fakt nicht in Frage stellen. Aber ein Videospiel ist zunehmend zum Spielplatz geworden, in dem eigene Regeln etabliert werden und kreativer Umgang mit den zugrunde liegenden Systemen stattfindet. Videospiele werden von den Spielenden zum Spielplatz gemacht. Auf diesen Spielplätzen werden eigene Regeln des Miteinanders formuliert, Gemeinschaften geschlossen – und auch aufgelöst. Moby Dick als Spiel, als Theater Wieso also Moby Dick als Spiel? Es ist nicht nur die Abenteuergeschichte, die in modernen Spielen ihre Entsprechung findet. Es ist der inherent soziale Konflikt auf der Pequod, der sich in den gemeinschaftlichen Aushandlungsprozessen in Mehrspielerumgebungen wiederfindet. Es ist die fast enzyklopädische Beschreibung des Walfangs, der der Faszination und dem bei den Spielenden vorhandenen Fachwissen über moderne Videospiele sowie ihrer zugrundeliegenden Regelsysteme entspricht. Um diese Übertragung auf der Bühne zu verwirklichen, ist nicht nur eine neue Interpretation des ursprünglichen Textes notwendig. Dieselbe Videospiel-Technologie, die im Stück besprochen wird, wird auch auf der Bühne eingesetzt, um eine virtuelle Pequod zu erschaffen. In Kombination mit live-geführten Puppen entsteht ein graphisches Moby-Dick-Computerspiel, das als Grundlage für eine moderne Interpretation des klassischen Stoffes dient. Das Spiel wird als Ort sichtbar, im Entstehungsprozess wie im systematischen Aufbau. Die Darstellerinnen und Darsteller navigieren als Spielende diesen Ort als Abenteuerraum. Sie formen ihre eigenen Regeln des sozialen Miteinanders, schließen sich zu einer Gemeinschaft zusammen und verhandeln die sozialen Grenzen zwischen Spiel und Realität. Friedrich Kirschner ist Professor für digitale Medien an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin. Zusammen mit Professorin Melanie Sowa, der Bühnenbildnerin Lena Fay und Studierenden des 3. Studienjahres zeitgenössische Puppenspielkunst inszeniert er Moby Dick als Theaterstück für Jugendliche ab 12 Jahren. Moby Dick UA SO10.05 | 18:00 | Bayer Kulturhaus, Leverkusen MO11.05 | 19:30 | Bayer Kulturhaus, Leverkusen DI12.05 | 11:00 | Bayer Kulturhaus, Leverkusen Videospiele wie Assasin’s Creed - Black Flag werden zunehmend nicht nur als Abenteuer, sondern auch Das Bayer Kultur-Magazin 17 als kreativer Spielplatz wahrgenommen. Masaa Ein wirklich außergwöhnlicher Abend Text: Arthur Horváth · Foto: Masaa Masaa Rabih Lahoud und Masaa (deutsch: Abend) berühren mit Musik die Welt. Lahoud legt ihr seinen poetischen und menschlichen Kosmos zu Füßen. Mühelos und ohne, dass man auch nur ein Wort arabisch spricht, begreift man, fühlt man und weiß man sofort und ganz genau, wovon er singt. Freedom Dance ist das erste Stück von Masaa, auf das ich vor drei Jahren im Internet gestoßen bin, bevor sich die Band für den Wettbewerb future sounds beworben hatte. Ein Meisterwerk dieses Kollektivs, welches sich aus jenem Rabih Lahoud (Gesang), Marcus Rust (Trompete) Clemens Pötzsch (Klavier) und Demian Kappenstein (Schlagzeug) zusammensetzt. Das Quartett spielt – erfrischend befreiend jenseits der ausgetretenen Ethno-Jazz-Pfade und üblicher Verdächtiger – eine Fusion aus Improvisation (ohne die verkopfte Angst vor Melodie und Struktur), Orient (ohne sich darin zu verlieren), westlichem Jazz (außerhalb des Radars der ermüdenden, gestrigen „Jazzpolizei“) und „Volksmusik“ im allerbesten Sinne. Rabih Lahouds gesungene arabische Poesie ist der Ausgangspunkt. Oft ist es ein Satz, eine Phrase, eine Redewendung, die Rabih wie ein Mantra wiederholt, phrasiert und die dem des arabisch nicht mächtigen Zuhörer trotzdem das Gefühl gibt, immer wieder neue Worte zu hören, einer Geschichte lauschen zu dürfen, die über Strophen, einen Refrain, einen C-Teil, auf ein großes Finale zusteuert und eine Geschichte zu Ende erzählt. Rabihs Gesang verlässt 18 dabei monotone Orient-Pfade, die einfach nur exotisch klingen wollen. Seine Töne und Laute kommen aus dem innersten des Menschseins. Klagend, befreiend, drängend, beruhigend. Aber immer: wunderschön und einnehmend. In dieser Band haben sich an ihren Instrumenten hochbegabte Verbündete der Neugier zusammengefunden, die allesamt ihre eigenen Exkursionen in die Welt (von Indien über Israel, von Beirut bis Dresden) und ihre Persönlichkeiten, ihre Herkunft, ihre Wurzeln und ihre Identität einbringen in ein stimmiges, schwebendes und authentisches Stück Energie. Allesamt zeichnet eine starke, heilende Empathie, eine emotionale Intelligenz aus, die in dieser Welt, gerade in der heutigen Zeit, dringend gebraucht wird. Ein Glücksfall für den Jazz, davon zeugen dann auch die zahlreichen Auszeichnungen. Vom Bremer Jazzpreis 2012, über den Förder-RUTHWeltmusikpreis des MDR 2014 und nicht zuletzt auch der 2. Platz bei unseren future sounds, die Siggi Loch, Chef des größten und wichtigsten Jazzlabels Europas (Act) kürzlich in einem Interview als relevantesten deutschen Jazzpreis für den Nachwuchs geadelt hat. Der Autor Arthur Horváth ist Liedermacher/Singer-Songwriter und Initiator sowie Jurymitglied des deutschen Jazzpreises future sounds. Masaa DO 18.06 | 19:30 | Bayer Kulturhaus, Leverkusen Kulturkalender 30 Mai – Juni 15 Mai.15 SA02.0515:00 Die verlorene Melodie -8+xBK DO07.0519:00 Il Futuro – Die Zukunft FilmFo SA09.0519:30Reason of Respect II -16+xBK SO10.0518:00 Moby Dick UA -16+xBK MO 11.05 19:30 Moby Dick -16+x BK DI 12.05 11:00 Moby Dick -16+x BK DO14.0518:00 Der Vater DE SCHmBK SA16.0519:30 My Fair Lady BBBK SO17.0518:00 My Fair Lady BB BK MO18.05 11:00Ein Leben für die Bühne: A. Krichel Mm!BK DO21.0519:00 Sâdhu – Auf der Suche nach der Wahrheit FilmFo DO28.0519:00 Searching for Sugar Man FilmFo DO28.0519:30 Benjamin Schaefer & Quiet Fire JazzBK SA30.0519:30Bundesjugendballett TANZBK Juni.15 SO07.0611:00 After you, Mr. Gershwin! KLMBK SO07.0618:00 Bayer-Philharmoniker | Silver-Garburg SKFO DI16.0620:00 Kristian Bezuidenhout KLWu MI17.0619:30 Kristian Bezuidenhout KLBK DO18.0619:30Masaa JazzBK Änderungen vorbehalten! Herausgeber: Bayer AG Communications | Bayer Kultur Leitung: N.N. Redaktion: Kerstin Heber Texte: Ludwig Seyfarth Der zweideutige Spiegel – Zu Wahrheit in Philosophie und Kunst (Originalbeitrag), Carsten Dürer Kristian Bezuidenhout … und sein Mozart-Spiel (Originalbeitrag), Daniela Rothensee Als Tanzbotschafter unterwegs. Das Bundesjugendballett verbindet Menschen und Orte (Originalbeitrag), Friedrich Kirschner Moby Dick. Ein Klassiker wird virtuell (Originalbeitrag), Arthur Horváth Masaa. Ein wahrlich guter Abend (Originalbeitrag) Weitere Texte: Kerstin Heber, Reiner Ernst Ohle Redaktionelle Mitarbeit: Regina Bernt Designkonzept: Büro Kubitza, Leverkusen Layout und Realisation: wedeldesign, Bochum Titelbild: Matthias Masaa/privat Bildnachweis S. 2: Behrendt & Rausch Druck: Ollig-Druck, Köln Auflage: 3.000 © Bayer AG Communications | Bayer Kultur | 2015 Redaktion KUNSTstoff c/o Bayer Kultur Bayer Kulturhaus Nobelstr. 37 51373 Leverkusen Telefon: 0214 30-41277 Telefax: 0214 30-41282 kultur.bayer.de
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