KUNStstoff 30

30
Das Bayer Kultur-Magazin
Essay | KUNST
KONZERTE | Alles Mozart, oder was?
TANZ | Von Menschen und Orten
SCHAUSPIEL | Über das Leben
Jugend | Puppenspiel meets New Media
KONZERTE | Verbündete der Neugier
Editorial
wird digital(er), gewinnt an Spontaneität, verjüngt sich,
steigert die Lebendigkeit und vor allem – den Austausch
mit Ihnen! Denn ein Blog „ist ein elektronisches Tagebuch
im Internet. Über Permalinks und Trackbacks können
Verweise auf spezielle Beiträge anderer Seiten gesetzt und
somit intensive Diskussionen geführt werden.“ (Gabler
Wirtschaftslexikon). So sei es. Und wir freuen uns schon
jetzt auf einen lebendigen Austausch mit Ihnen!
Selbstverständlich empfehlen wir jedoch auch weiterhin
den analogen Besuch bei uns. Schauen Sie im Mai unbedingt bei Moby Dick vorbei (Seite 16). Studierende der
Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ Berlin lassen in dieser Koproduktion mit Bayer Kultur die Puppen
tanzen, entführen in mediale Welten und verwandeln die
Bühne in eine große Playstation. Seien Sie dabei wenn es
heißt „Puppenspielkunst meets New Media“!
Liebe Freunde von Bayer Kultur,
Mit diesem KUNSTstoff halten Sie die 30. Ausgabe des
Magazins in Händen. Sechs Spielzeiten lang haben wir
die Vorstellungen im Erholungshaus mit Essays, Artikeln,
Hintergrundberichten, Interviews und vielem mehr begleitet. Externe Autoren, Kollegen und kulturelle Weggefährten haben uns dabei mit ihrem Wissen unterstützt, sind in
die Tiefen der Materie eingetaucht und haben hinter die
Kulissen geschaut. Unser Anliegen war, Ihnen einige der
Aufführungen und die Künstler, die bei uns auftreten, ein
Stück näher zu bringen, und wir denken, dies ist uns ganz
gut gelungen.
Frei nach dem deutschen Aphoristiker Peter Rudl –
„Manchmal muss man Schluss machen, damit es nicht
aufhört“ –, haben wir uns nun jedoch entschlossen, dass
die 30. Ausgabe gleichzeitig unsere letzte sein soll. Zumindest in gedruckter Form. Denn genauso wenig wie Sie
(hoffen wir), wollen wir (wissen wir) auf die Zusatzinformationen und das „Dahinter“ verzichten. Daher heißt es
demnächst – Vorhang auf für unseren Blog! Bayer Kultur
2
Wer es etwas ruhiger mag, dem sei die Deutsche Erstaufführung von Der Vater ans Herz gelegt. Der großartige
Volker Lechtenbrink und die Theater- und Filmschauspielerin Johanna Christine Gehlen brillieren in diesem Stück
über Alzheimer als Vater-Tochter-Gespann. Lechtenbrinks
Sicht auf das Leben sowie das Vergessen an sich erfahren
Sie in einem Interview mit ihm auf Seite 14.
Wer sich der Klassik verschrieben hat, kommt an ihm
nicht vorbei: Kristian Bezuidenhout (Seite 8). Der Pianist
mit südafrikanischen Wurzeln hat Mozart zu seinem Lieblingskomponisten erklärt und erfreut einen Sommerabend
lang mit eben jenem Tonsetzer. „Einer der führenden und
wohl brillantesten Pianisten unserer Zeit“, betitelte The
London Times Bezuidenhout sehr treffend. Ihn sollten Sie
sich auf gar keinen Fall entgehen lassen.
Und nun bleibt uns, Ihnen viel Vergnügen beim Lesen dieser Lektüre zu wünschen!
Auf bald im Erholungshaus und in der digitalen Welt,
Ihr Team
von Bayer Kultur
30
Mai – Juni 15
Essay
Der zweideutige Spiegel
Zu Wahrheiten in Philosophie und Kunst
Seite 4
KONZERTE
Kristian Bezuidenhout …
… und sein Mozart-Spiel
Seite 8
TANZ
Als Tanzbotschafter unterwegs
Das Bundesjugendballett verbindet Menschen an
unterschiedlichsten Orten
Seite 12
SCHAUSPIEL
Der Vater
Ein Gespräch mit Volker Lechtenbrink
Seite 14
Jugend | SCHAUSPIEL
Moby Dick
Ein Klassiker wird virtuell
Seite 16
KONZERTE
Masaa
Ein wahrlich guter Abend
Seite 18
Das Bayer Kultur-Magazin
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Mischa
Kuball, image apparatus_polaroid, 2011, 57 Unikatfotografien, je 58 x 66,5 cm
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Der zweideutige
Spiegel
Zu Wahrheiten in Philosophie und Kunst
Text: Ludwig Seyfarth · Fotos: Mischa Kuball und Wikimedia
Wahrheiten lautet das Spielzeit-Motto von Bayer Kultur,
wohlweislich in der Mehrzahl. Denn wenn von Wahrheit
die Rede ist, welche Wahrheit ist überhaupt gemeint? Diese
Frage stellt sich nicht erst in postmodernen, allen ontologischen Gewissheiten skeptisch gegenüberstehenden Zeiten.
Die Geschichte der Philosophie kennt verschiedene „Schulen“ der Wahrheit. So gibt es die Korrespondenz- oder Adäquationstheorie, die Wahrheit als Übereinstimmung von
Verstand und Sache (adaequatio rei et intellectus) auffasst,
vertreten schon in der Antike etwa von Aristoteles und von
vielen mittelalterlichen Denkern, etwa Thomas von Aquin.
Der Wahrheitsbegriff der Logik beruht auf der Kohärenz,
der Widerspruchsfreiheit von Aussagen. Die Vorstellung,
dass eine mathematische oder sprachliche Struktur eine
Wahrheit hinter der Erscheinung der Dinge verkörpere,
leitet zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch noch den frühen Ludwig Wittgenstein, der die Welt durch Aussagesätze
vollständig zu beschreiben suchte. Wittgensteins berühmter Satz „Die Welt ist alles, was der Fall ist“ könnte auch
lauten „Wahr ist alles, was der Fall ist“, und damit auch für
den handlungsorientierten Pragmatismus angelsächsischer
Schule oder den radikalen Konstruktivismus gelten, der
allen ontologischen Wahrheitsbegriffen den Rücken kehrt.
Hier ist der Fall, was Menschen in ihrem Denken und Handeln leitet, und Wahrheit ist das, was viele Menschen für
wahr halten: definiert durch gesellschaftlichen Konsens
und durch die Gewohnheit der sprachlichen Verständigung.
Dieser Meinung war schon Friedrich Nietzsche: „Logisch
geht es also jedenfalls nicht bei der Entstehung der Sprache
zu, und das ganze Material, worin und womit später der
Mensch der Wahrheit, der Forscher, der Philosoph arbeitet
und baut, stammt, wenn nicht aus Wolkenkuckucksheim,
so doch jedenfalls nicht aus dem Wesen der Dinge.“
Der radikale Atheist Nietzsche und die Konsenstheoretiker haben sich am weitesten entfernt von einer spirituellen oder religiösen Wahrheit, die sich nicht durch intellektuelle Leistung erfassen lässt, sondern nur durch die
Kraft des Glaubens erreichbar ist. Dass mit der Wahrheit
etwas gesucht wird, das hinter der Erscheinung der Dinge liegt, hat auch eine anhaltende Skepsis gegenüber dem
Bild erzeugt. Bekanntlich existieren in vielen Religionen
Bilderverbote. „Kein Bild ist wahr", verkündete der mit-
telalterliche Gelehrte Thomas von Aquin. In Europa gipfelte die Bildfeindlichkeit in der calvinistischen Variante
des Protestantismus. Aber schon im Altertum war Platon
die abbildende Tätigkeit der Künstler so suspekt, dass er
sie gleich doppelt abqualifizierte. Abbilder seien weniger
wahr als die Dinge selbst, die er wiederum nur als unvollkommene Abbilder göttlicher Ideen ansah.
Die Künstler haben allerdings längst gelernt, die Kritik an
ihrer Distanz zur Wahrheit und an ihrem „nur“ fiktiven
Charakter geschickt zu parieren. So äußerte Pablo Picasso
1923: „Wir wissen alle, dass Kunst nicht Wahrheit ist.
Kunst ist eine Lüge, die uns die Wahrheit begreifen lehrt,
wenigstens die Wahrheit, die wir als Menschen begreifen
können. Der Künstler muss wissen, auf welche Art er die
anderen von der Wahrhaftigkeit seiner Lügen überzeugen
kann.“ Und aus dem Munde eines dialektisch geschulten
Philosophen klingt es so: „Kunst ist Magie, befreit von der
Lüge, Wahrheit zu sein“, schrieb Theodor W. Adorno in
seiner 1951 publizierten Minima Moralia.
Die marxistische Widerspiegelungstheorie, die auch einen zentralen Ausgangspunkt für Adornos Denken darstellt, sieht die Wahrheit in einer Übereinstimmung von
menschlichem Bewusstsein und objektivem Sein, so dass
Wahrheit und Wirklichkeit tendenziell synonym werden.
Dies gilt auch für einen Wahrheitsbegriff, der direkt mit
der Oberfläche der Dinge verbunden ist und ihre getreue
Abbildung meint. Dieser verzeichnete vor allem mit der
Erfindung des „Gefrierspiegels“ (Umberto Eco) der Fotografie eine Hochkonjunktur.
Aber was der Spiegel abbildet, war schon immer zweideutig, wie es der Arzt und Mathematiker Raphael Mirami
1582 in wenigen vielzitierten Sätzen auf den Punkt brachte:
„Für einige, sage ich, waren Spiegel die Hieroglyphe der
Wahrheit, weil sie alles enthüllen können, was sich ihnen
zeigt, so wie es der Wahrheit Brauch ist, die nicht verborgen
bleiben kann. Andere dagegen halten Spiegel für Symbole
der Falschheit, weil sie Dinge oft anders zeigen, als sie sind.“
Dies könnte auch als Motto für die vielbeschworene
Wahrheit der Fotografie gelten.
Die Natur selbst schien das fotografische Bild auf die Fotoplatte oder -schicht gepresst zu haben, so wie der Schweiß
Christi sein Antlitz als „vera icon“, als wahres Bild, auf
Das Bayer Kultur-Magazin
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das Schweißtuch der Veronika. Der Zeichenstift der Natur, von dem der Fotopionier Henry Fox Talbot metaphorisch sprach, wurde nicht von einem Maler, Zeichner
oder Stecher geführt. Die Bilder entstanden mittels einer
Apparatur „von selbst“, was ihnen Zeugenschaft für das
Abgebildete verlieh.
Diese „Wahrheit“ wurde jedoch nicht erst durch die Möglichkeiten des Computers, sondern schon in der Frühzeit
der Fotografie oft in Frage gestellt. Retuschen beseitigten, was man nicht oder nicht mehr sehen wollte, etwa
Falten aus einem Gesicht oder Menschen ganz aus dem
Meister der Heiligen Veronika, etwa 1420,
Alte Pinakothek, München
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Bild, wie sowjetische Parteifunktionäre, die bei Stalin in
Ungnade gefallen waren. Andererseits tauchten auf Fotos
regelmäßig Geister Verstorbener oder unbekannte Flugobjekte auf, deren Ablichtung als Beleg für ihre tatsächliche
Existenz herhalten sollte. Das war absichtlicher Betrug
am Betrachter, sofern die Fotografen nicht selbst daran
glaubten, was sie mit der Kamera eingefangen hatten.
Dass die Fotografie lüge, aber aus ganz anderen Gründen,
meinte der Bildhauer Auguste Rodin. Sie könne das Leben
nicht wirklich darstellen, weil sie aus seinem organischen
Fluss nur einen Moment herausgreife, wie Rodin 1911
in einem der von Paul Gsell aufgezeichneten Gespräche
mit dem Künstler darlegte. Rodin bezieht sich auf seine
Skulptur Johannes der Täufer von 1978: „Während mein
Täufer mit beiden Füßen auf der Erde dargestellt ist, würde eine Momentphotographie nach einem Modell in derselben Stellung den hinten stehenden Fuß schon erhoben
und im Begriff vorgezogen zu werden zeigen. Oder man
könnte vielleicht das Gegenteil sehen, dass der vordere
Fuß noch nicht die Erde berühren würde, wenn das nach
rückwärtsgerichtete Bein auf der Photographie dieselbe
Stellung wie an meiner Statue einnähme. Dieses photographische Modell würde also den wunderlichen Anblick eines plötzlich gelähmten und in seiner Stellung wie zu Stein
gewordenen Menschen gewähren...“. Für Rodin stand
fest: „Der Künstler ist wahr und die Photographie lügt;
denn in Wirklichkeit steht die Zeit nicht still...“.
Der französische Fotokurator Régis Durand folgte noch
Jahrzehnte später Rodins Kritik an der Momentaufnahme, als er 1997 den Betrachtern von Fotografien eine Neigung zur Regression vorwarf: „Eine isolierte Aufnahme
verspricht, mehr noch als die beweglichen Bilder des Kinos, bis heute einen authentischen Moment individueller
Erkenntnis. Da die meisten Menschen sich Wahrheit nur
noch schwer als den fortdauernden Zustand denken können, in dem sie leben, lebt die Photographie vom nur langsam schwindenden Mythos ihrer momenthaften Zufälligkeit und abstraktionsfreien Alltagsnähe nicht schlecht.“
Rodins Skepsis standen aber auch die begeisterten Modernisten gegenüber, für die das fotografische Bild aufgrund seiner vermeintlichen Objektivität eine Wahrheit
verkörperte, welche die traditionellen Künste nie erreichen
konnten. So behauptete der russische Künstler Alexander
Rodtschenko in den 1920 er Jahren, dass die Malerei immer sofort zur Idealisierung führe und die Wirklichkeit verfälsche: „Gegen die Kunst muss jeder kultivierte Mensch
kämpfen. Lügt nicht! Fotografiert! Fotografiert!“
Dieses Verdikt eines Künstlers gegen die künstlerische
Fiktion setzt Wahrheit und technisch-wissenschaftlichen
Fortschritt in eins. Eine ähnlich radikale Haltung vertrat
Laszlo Moholy-Nagy, der damals in der deutschen Fortschrittsfabrik der Künste, dem Bauhaus, lehrte. Nicht alle
Kollegen folgten seinen Anschauungen. So schrieb Lyonel
Feininger in einem Brief an seine Frau: „Immer und immer
wieder wird von Kino, Mechanik, Projektion und Fortbewegung geredet. Klee war gestern ganz beklommen, als er
von Moholy-Nagy sprach.“
Während Moholy-Nagy in sichtbaren technischen Strukturen nicht nur eine Wahrheit, sondern auch eine neue
Schönheit entdeckte, lag für Paul Klee, der sich eher in der
Tradition der Romantik sah, das Wahre und Schöne hinter der äußeren Erscheinung: „Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar.“ Schon die Romantiker folgten einem Schönheitsbegriff, der untrennbar mit
einer gefühlten metaphysischen Wahrheit verbunden war.
Friedrich Schlegel hatte seinerzeit ähnlich formuliert, was
Wassily Kandinsky 1910 in seiner Schrift Das Geistige in
der Kunst niederschieb. Schön sei, „was einer inneren seelischen Notwendigkeit entspricht.“
Über die Notwendigkeit, die auf seelischen Empfindungen
beruhen, rational zu sprechen, ist jedoch schwierig. Was in
den Schriften Kandinskys oder Klees noch einigermaßen klar
daherkommt, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem
oft haltlosen Geschwafel über das, was die Künstler aus ihrem vermeintlichen Inneren heraus auf der Leinwand oder
anderswo zum Ausdruck brachten. Mitte der 1960 er Jahre
begannen einige jüngere Künstler sozusagen die Reißleine
zu ziehen. Sie wollten grundsätzlich wieder klarstellen, was
beim künstlerischen Prozess geschieht, den sie analog zur
Struktur der verbalen Sprache auffassten. Die konsequenteste „sprachliche“ Analyse der künstlerischen Mittel vollzog Joseph Kosuth, der sich als Wortführer der frühen New
Yorker Konzeptkunst sah. In One and Three Chairs präsentierte Kosuth einen realen Stuhl, seine fotografische Ab-
bildung sowie die Definition des Begriffs „Stuhl“ aus einem
Wörterbuch gleichwertig nebeneinander. Solche Annäherungen von Kunst, Philosophie und Linguistik fanden nicht
überall Anklang. Konzeptkunst sei doch keine „wahre“
Kunst, sondern nur Zeigen auf Dinge, meinte etwa der
Farbfeldmaler Al Held.
Aber was ist „wahre“ Kunst? Geht es Künstlern heute
überhaupt noch um Wahrheit? Oder stellen sie nicht vielmehr Wahrheitsansprüche infrage, etwa diejenigen der
Wissenschaft? Sie suchen nicht nach „der“ Wahrheit, sondern stellen andere Sichtweisen der Dinge als die gewohnten zur Diskussion. Dies gilt auch für die Künstlerinnen
und Künstler der Ausstellung Substanzieller Einfluss. Sie
nutzen technische und wissenschaftliche Mittel und Verfahren, um daraus ästhetische Erfahrungsmöglichkeiten
zu generieren. Ob das, was uns dann vorgeführt wird –
etwa die mit einem Computertomographen gemachten
Aufnahmen einer Sofortbildkamera bei Mischa Kuball –
ein „wahreres“ Bild der Dinge und der Welt liefert als die
Bilder, die wir bisher kannten, ist vielleicht gar keine relevante Frage. Der heutige künstlerische Umgang mit wissenschaftlichen und anderen Wahrheiten entspricht eher
der skeptischen Sichtweise, die Friedrich Nietzsche 1873
in Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne
anschaulich beschrieb: „Die Wahrheiten sind Illusionen,
von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind,
Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall,
nicht mehr als Münzen, in Betracht kommen.“
Die andere Sicht, die durch die künstlerische Bearbeitung
des Metalls neben die gewohnte tritt, verleiht auch wertund kraftlos erscheinendem Material gleichsam neues Leben. Diese sozusagen alchimistische Fähigkeit der Kunst
ist aber auch das, was sie den moralischen Verächtern des
schönen Scheins immer wieder als Lüge verdächtig gemacht
hat. Im außermoralischen Sinne betrachtet, wie Nietzsche
es vorschlägt, steht der Gegensatz von Wahrheit und Lüge
plötzlich radikal in Frage. Und so sind die Perspektiven,
welche die Kunst der gewohnten – und vielleicht nur deshalb für wahr gehaltenen – Sicht der Dinge immer wieder
hinzufügt, ebenso relevant wie die vermeintlichen Fakten,
die wir von den so genannten Hard Sciences erhalten.
Das Bayer Kultur-Magazin
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Kristian
Bezuidenhout …
… und sein Mozart-Spiel
Text: Carsten Dürer · Foto: Marco Borggreve
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K. Bezuidenhout
Heutzutage scheint es weniger ungewöhnlich, wenn sich
ein Pianist auf der Bühne an einen historischen Hammerflügel setzt, als noch vor 20 Jahren. Dennoch war es ein
eher zufälliger Weg, der den 1979 in Südafrika geborenen
Kristian Bezuidenhout zum Spiel auf historischen Tasteninstrumenten brachte. Aufgewachsen in Australien, ging
er 1998 in die USA, um dort ein klassisches PianistenStudium zu absolvieren. Dort lernte er Malcolm Bilson
kennen, einen der wichtigsten Lehrer für Hammerflügel.
Und sogleich verliebte er sich in die klanglichen Möglichkeiten dieser Instrumente. Da seine Liebe schon immer
besonders Mozarts Musik galt, war der Hammerflügel
das perfekte Mittel für Bezuidenhout: „Ich liebte Mozart
immer schon mehr als alles andere. Und ich fand es so
frustrierend, diese Musik auf einem modernen Flügel zu
spielen. Und jeder Lehrer schrie mich an, ich sollte mit
besserer Phrasierung spielen, deliziöser. Und plötzlich traf
ich dann Malcom Bilson und diese wundervollen alten
Instrumente“, erklärt Bezuidenhout über seine ganz persönliche Entdeckung der historischen Tasteninstrumente.
„Auf diesen alten Instrumenten Mozart zu spielen, war
so erfrischend, ich brauchte keine Angst mehr davor zu
haben, zu laut oder zu aggressiv zu spielen, es funktionierte plötzlich.“ Dennoch war das Hammerflügelspiel in den
USA immer noch ein wenig exotisch … Neben Bilson fand
er in Arthur Haas einen Cembalolehrer, der ihm „viel über
Zeitgefühl und über die Präzision, mit beiden Händen zu
spielen“ beibrachte.
Nachdem Bezuidenhout mit 21 Jahren in Brügge einen
internationalen Wettbewerb für Hammerflügel gewann,
war der Weg in die europäische Musik-Szene für den Südafrikaner geebnet und er ließ sich in Europa nieder, wo
sein Weg an die Spitze der Mozart-Interpreten begann.
Ab 2010 konnte Kristian Bezuidenhout seiner Leidenschaft für Mozart dann auch auf internationaler Ebene
Ausdruck verleihen, als er begann, sämtliche KlavierSolo-Werke des Salzburger Meisters auf CD einzuspielen –
selbstredend auf einem Hammerflügel. Die Fachwelt
erkannte, wie sehr dieser noch junge Pianist die Musik
Mozarts durchlebt, sie „sprechend“ und „singend“ darzustellen versteht. Mozart klang und klingt neu bei Kristian Bezuidenhout – frisch und unverbraucht, auch bei den
bekanntesten Werken dieses viel interpretierten Komponisten. Kein Wunder, dass Bezuidenhout sagt: „Wenn ich
Mozart spiele, ist er mit seinen Melodien das Schönste für
mich, was jemand für Klavier schreiben kann. Selbst wenn
Beethoven eine schöne Melodie schreibt, hat sie für mich
niemals dieselbe Perfektion wie die von Mozart.“ Bezuidenhout liebt und lebt Mozarts Musik und ist fest davon
überzeugt, dass dem Komponisten auch die Sängerinnen,
von denen er beständig umgeben war, geholfen haben, die
wundervollen Melodien zu schreiben. Der Pianist erklärt:
„Das moderne Klavier gibt einem ein besseres Verständnis davon, wie man den Klang formt, wie man Tonfarben kreiert. Das ist auf einem Hammerflügel schwieriger,
da die Mechanik vollkommen anders geartet ist.“ Doch
von diesen „Schwierigkeiten“ hört man in Bezuidenhouts
Spiel nichts, sondern wird eingefangen von der Leichtigkeit, von einer Selbstverständlichkeit der Klanggabe und
des Spielflusses, so dass man meint, einige Feinheiten in
Mozarts Musik höre man zum ersten Mal.
Mittlerweile ist Kristian Bezuidenhouts Mozart-Spiel bereits so etwas wie ein Status-Quo geworden, etwas, woran
andere Pianisten – gleichgültig, auf welchem Instrument
sie spielen – sich messen müssen. Dies liegt aber nicht nur
an Bezuidenhouts famoser Melodie-Gestaltung, sondern
vor allem daran, dass er die Besonderheiten des Klangs
der Instrumente so natürlich zu behandeln weiß, dass man
schon nach ein paar Sekunden seines Spiels den Hammerflügel als das beste Instrument empfindet, mit dem man
Mozarts Musik ausdrücken und hören sollte.
Natürlich hat sich das wunderbare Hammerflügelspiel
Bezuidenhouts mittlerweile in aller Welt herumgesprochen, und so ist er mit allen bekannten Orchestern und
Dirigenten der Alte-Musik-Szene aufgetreten und hält
Gastprofessuren an der berühmten Schola Cantorum
Basiliensis sowie der Eastman School of Musik in den USA.
Doch Kristian Bezuidenhout ist vor allem eines: Ein moderner Botschafter des Hammerflügelspiels und ein perfekter Mozart-Interpret. Gut, dass er auch einen Abstecher
nach Leverkusen macht und auf einem Flügel von Michael
Rosenberger spielt, der um 1800 in Wien gebaut wurde.
Der Autor Carsten Dürer ist Musik-Journalist und Herausgeber der Magazine PIANOnews und ENSEMBLE.
Kristian Bezuidenhout
DI16.06 | 20:00 | Historische Stadthalle, Wuppertal
MI17.06 | 19:30 | Bayer Kulturhaus, Leverkusen
Das Bayer Kultur-Magazin
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Wir danken allen Küns
Spielzeit 2014/15!
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stlern für eine wunderbare
Das Bayer Kultur-Magazin
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Als Tanzbotschafter
unterwegs
Das Bundesjugendballett verbindet Menschen an unterschiedlichsten Orten
Text: Daniela Rothensee · Fotos: Silvano Ballone
Wortlose Verständigung als Ideal zwischenmenschlicher
Beziehungen gilt als Ausdruck von großem Vertrauen. Der
Tanz ist nonverbale Kommunikation – und damit ein ideales Mittel, um Verständigung durch Emotionen zu schaffen. Zwischen Menschen aus verschiedenen Ländern, zwischen Jung und Alt, Groß und Klein, Arm und Reich. „Der
zentrale Aspekt unserer Arbeit ist es, zu zeigen, dass Tanz
wesensmäßig menschlich ist“, erläutert der Intendant des
Bundesjugendballett John Neumeier. 2011 gründete er die
Compagnie aus acht fertig ausgebildeten Profitänzerinnen
und -tänzern zwischen 18 und 23 Jahren. Die Finanzierung kommt aus Kulturmitteln des Bundes, die nächsten
vier Spielzeiten sind gesichert. Unter der künstlerischen
und pädagogischen Leitung von Kevin Haigen, international bekannter ehemaliger Erster Solist, hat die Compagnie
einen besonderen Auftrag: Bewusst Orte aufzusuchen, an
denen Ballett bislang nicht zu Hause war, und Menschen
zu erreichen, die mit Tanz selten in Berührung kommen.
Auf dem Spielplan stehen Workshops in Schulen und integrativen Sportgruppen neben Vorstellungen in Seniorenheimen oder sozialen Einrichtungen. 2012 zum Beispiel
setzten die Tänzer Rap-Songs von Gefängnisinsassen in
Bewegungen um und präsentierten sie gemeinsam mit
den Rappern vor Häftlingen in Gefängnissen bundesweit.
Musikalische Kooperationen sind zum Markenzeichen geworden, kaum ein Auftritt kommt ohne Live-Musik aus.
Für alle Projekte steht die Begegnung zwischen Menschen
im Vordergrund, zwischen Künstlern unterschiedlicher
Sparten. Es ist eine Arbeit, die auf einen offenen Austausch setzt.
Das Streben nach größtmöglicher Ehrlichkeit durch Bewegung funktioniert aber auch auf großer Bühne. Durch
die Tänzerkörper spricht dann die Seele des jeweiligen
Choreographen, von den Bewegungen lässt sich sein individuelles Verständnis von Tanz ablesen. Das Bundesjugendballett ist seit seiner Gründung als kreierende Compagnie angelegt, die mit wechselnden Choreographen
ständig neue Werke schafft. Das Projekt ist also gleichsam
eine Nachwuchsförderung junger Choreographie-Talente,
teilweise aus den Reihen der Tänzer selbst. Neben Einstudierungen klassischer bis moderner Stücke etablierter
Choreographen, besteht das Repertoire größtenteils aus
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Balletten, die junge Gast-Choreographen exklusiv mit
den Tänzern im Ballettsaal erarbeiten. Geprägt ist dieses Selbstverständnis als Ausbildungsstätte für Tanz und
Choreographie von der Vision John Neumeiers, der seit 42
Jahren als Chefchoreograph an der Spitze des Hamburg
Ballett steht und in seiner Karriere mehr als 150 Choreographien geschaffen hat. „Das Herz meiner Arbeit ist
die Kreation“, fasst er zusammen. „Die Instrumente sind
Tänzer, die mich neben ihrer Technik vor allem durch ihre
Persönlichkeit und Kreativität inspirieren.“
Wenn das Bundesjugendballett im Mai 2015 im Bayer Kulturhaus auftritt, bringt es verschiedene Stücke aus seinem
aktuellen Repertoire mit. Darunter das 2014 uraufgeführte, imposante Kriegspoem The Swirl of Snow Remains der
slowakischen Choreographin Natalia Horecna und eine
Choreographie John Neumeiers zu Beethovens Streichquartett Nr. 13 in B-Dur opus 130. John Neumeier ließ für
die Uraufführung des Stücks 2012 einige Sätze des Streichquartetts choreographisch unbearbeitet, gab seinem Stück
den Beititel Work in Progress. Wie auch die junge Compagnie, für die das Ballett geschaffen wurde, befinde sich
sein Stück mitten im Entstehungsprozess, entwickle sich
immer weiter. Ein Schlüsselwerk für das Selbstverständnis
der jungen Compagnie, die davon lebt, dass immer neue
Tänzer für maximal zwei Jahre die Werke des Repertoires
durch ihre individuellen Interpretationen prägen. Die besonderen Orte stellen aufgrund ihrer unterschiedlichen
Gegebenheiten immer wieder neue Herausforderungen an
die Wandelbarkeit und Adaptionsmöglichkeit der Stücke.
Neumeiers Beethoven-Choreographie kam auch schon
in einer Hamburger Diskothek zur Aufführung, Natalia
Horecnas Kriegsessay in einem für die Reinigung leergepumpten Schwimmbecken. Und jetzt also im Bayer Kulturhaus. Das Publikum darf einen Abend ehrlicher Tanzfreude
erwarten – darauf können Sie vertrauen.
Die Autorin Daniela Rothensee ist Presse- und Kommunikationsreferentin am Hamburg Ballett – John Neumeier
und Bundesjugendballett.
Bundesjugendballett
SA 30.05 | 19:30 | Bayer Kulturhaus, Leverkusen
Beethovens Streichquartett in B-Dur, Choreographie von John Neumeier, Bundesjugendballett
Das Horecna,
Bayer Kultur-Magazin
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The Swirl of Snow Remains, Choreographie von Natalia
Bundesjugendballett
Der Vater
Ein herzliches Gespräch mit Volker Lechtenbrink
Interview: Reiner Ernst Ohle · Foto: Jim Rakete
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V. Lechtenbrink, J. C. Gehlen
Der deutsche Schauspieler, Sprecher, Regisseur, Intendant,
Texter und Schlagersänger Volker Lechtenbrink blickt auf
eine lange Karriere zurück: Schon mit 10 Jahren stand er
erstmals auf der Bühne, weltberühmt wurde er als 14-Jähriger durch den Antikriegsfilm Die Brücke. Von 1962 bis
1963 spielte der Ausnahmekünstler in der Fernsehserie
Alle meine Tiere an der Seite von Gustav Knuth und ist
seitdem regelmäßig im deutschen Fernsehen und auf der
Bühne zu sehen.
Volker Lechtenbrink lebt in Hamburg – wo er seit 1975
am Hamburger Ernst-Deutsch-Theater als Schauspieler
und Regisseur sowie von 2004 bis 2006 als Intendant tätig war – und bezeichnet die Stadt als „seine Heimatstadt“.
Seine sehr markante, sonore Stimme macht den Künstler
darüber hinaus zu einem gefragten Hörbuch- und Synchronsprecher. So erhielt er 2007 den Deutschen Hörbuch
Preis (Bester Interpret) für Die Brücke, und 2008 wurde
das Hörbuch Das Feuerschiff von Siegfried Lenz mit dem
Preis der deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet. Außerdem war er unter anderem die deutsche Stimme von
Kris Kristofferson und Dennis Quaid.
Nach Leverkusen kommt Volker Lechtenbrink mit dem
St. Pauli Theater und der deutschen Erstaufführung des
Stücks Der Vater (Autor Florian Zeller, Inszenierung
Ulrich Waller), das 2012/2013 erfolgreich am Pariser
Théâtre Hébertot uraufgeführt wurde. Das Stück stellt
die Alzheimer-Krankheit und den damit eingehenden Orientierungsverlust eines Menschen in den Mittelpunkt. Die
Faszination für den Zuschauer liegt nicht nur darin, dass
hier ein zentrales Problem einer alternden Gesellschaft
auf anrührende und eindringliche Weise geschildert wird.
Vielmehr erlebt der Zuschauer wirkungsvoll, wie sich der
Alltag aus der Sicht des alten Mannes in ein verwirrendes
Labyrinth verwandelt. Der Protagonist erkennt seine Mitmenschen nicht mehr oder verwechselt sie und verwickelt
sich in absurde Gespräche.
Reiner-Ernst Ohle: „In einem Interview haben Sie einmal
gesagt: ‚Alle wollen alt werden, aber keiner will es sein‘.
Und Ihre Autobiographie aus dem Jahre 2010 trägt den
schönen Titel Gib die Dinge der Jugend mit Grazie auf!
Mein Leben. Wie erleben Sie das Alter? Wie haben Sie sich
auf die Rolle des Vaters vorbereitet?“
Volker Lechtenbrink: „Was heißt es, alt zu sein? Manche
sehen schon mit 30 sehr alt aus. Andere sind mit 90 noch
gut dabei. Ich freue mich, wenn ich gesund bin und weiß
genau, dass ich dafür etwas tun muss. Sehr diszipliniert
absolviere ich ein Kieser-Training, um meinem Rücken
etwas Gutes zu tun. Im Übrigen bin ich nicht der Typ für
tiefsinnige Grübeleien. Ich versuche, entspannt zu bleiben
und freue mich, gesund zu sein. Mit dem Thema Demenz
bin ich durch die Erkrankung meiner Mutter drei Jahre
lang unmittelbar konfrontiert worden. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen kann ich nur Eines sagen: ich
bin total fasziniert davon, was dem Autor gelungen ist.
Das Stück von Florian Zeller ist phantastisch geschrieben –
es ist richtig komisch und tragisch zugleich. Ich wollte es
unbedingt spielen!“
REO: „Was ist und bedeutet Glück für Sie?“
VL: „Glück ist für mich, wenn ich mit meiner Familie zusammen bin.“
REO: „Sie haben vier Tage Zeit für einen Kurztrip – wo
fahren Sie hin?“
VL: „Wenn ich vier Tage am Stück zur freien Verfügung
habe, fahre ich nach Hiddensee – besonders gerne in der Nebensaison. Zweimal haben wir dort Weihnachten verbracht.
Unvergesslich sind mir die Abende mit dem alten Pfarrer,
in dessen Krippenspiel die Kinder die Schafe spielten.“
REO: „Was sollte ein Hamburg-Besucher als Gast sehen?“
VL: „Unbedingt die Gewässer, die die Stadt bestimmen:
Alster und Elbe!“
REO: „Was ist Ihr Lieblingsplatz in Hamburg außerhalb
Ihrer eigenen vier Wände?“
VL: „Der Stadtpark vor meiner Haustür, der in jeder
Jahreszeit ein Platz der Ruhe, der Entspannung und der
Sammlung sein kann.“
REO: „Worüber und wann lachen Sie am liebsten?“
VL: „Ich kann herzlich über Dinge lachen, die zufällig
passieren. Oder über kleine Sprachwitze, wie zum Beispiel
den, den mir gestern Uwe Bohm erzählt hat: ‚Kommt ein
Pferd in einen Blumenladen und fragt die Verkäuferin:
Haben Sie ma geritten?‘“ (lacht)
REO: „Was sollte die Zukunft bringen, für Sie persönlich
und global?“
VL: „Alles überstrahlt im Moment der große Wunsch
nach Frieden, auf dass es im internationalen Miteinander
gelingt, einen erneuten Weltenbrand zu verhindern. Persönlich wünsche ich mir nichts weiter als Gesundheit. Sie
ist das A und O!“
Der Vater DE
DO 14.05 | 18:00 | Bayer Kulturhaus, Leverkusen
Eine Koproduktion des St. Pauli Theater Hamburg und
der Ruhrfestspiele Recklinghausen.
Das Bayer Kultur-Magazin
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Moby Dick
Ein Klassiker wird virtuell
Text: Friedrich Kirschner · Foto: Ubisoft Pressematerial
Das erste Mal, dass ich Moby Dick gelesen habe, war vor
ein paar Jahren, auf einer Veranda auf Martha’s Vineyard,
nur wenige Kilometer entfernt von Nantucket, dem Ort
an dem die Geschichte des Buches beginnt.
Am Vormittag zuvor war ich mit den Kindern (12 und 14)
meiner Gastgeber per Kajak auf eine kleine Insel gerudert,
hatte mich durch dichtes Gestrüpp geschlagen, versucht,
giftigem Efeu aus dem Weg zu gehen, und verschiedene
Lichtungen für einen Abenteuergeburtstag ausgespäht.
Auf dem Nachhauseweg dann kaufte ich das Buch aus
Restbeständen einer kleinen Bibliothek, mit ausgefranstem Einband, gebleichten Seiten und dem ein oder anderen
Eselsohr. Der Kontext konnte nicht stimmiger sein: Der
Ausblick auf das Meer, die ein- und ausfahrenden Fischkutter, die Forschungsboote des MIT Oceanographic Institute sowie der Tag im Kajak verbanden sich zu einem
großen Gefühl von Abenteuer und Entdeckung aus den
Seiten von Melvilles Roman. Ich musste allerdings auch
unweigerlich an einen Vortrag denken, den ich wenige
Jahre zuvor in New York gehört hatte. In diesem Vortrag
ging es um Videospiele.
Videospiele als Abenteuerspielplatz
Die Argumentation des Vortrags (Hanna Rosin hat zu
einem ähnlichen Thema im Guardian einen großartigen
Artikel – The overprotected Kid – geschrieben) war folgende: Kinder und Jugendliche brauchen Freiräume, in
denen sie, außerhalb der Seh- und Hörweite der Eltern,
selbständig spielen, eigene Regeln aushandeln und einen
Ort in Beschlag nehmen, der ganz ihnen gehört. In einer sicherheitsbewussten Gesellschaft werden diese Freiräume kleiner. Baumhaus, Waldlager oder Gestrüpp mit
Abenteuergeburtstagslichtung und Gift-Efeu sind in vielen Städten auch schlichtweg nicht mehr vorhanden. Videospiele, so entwickelte sich die Argumentation weiter,
können zwar auf keinen Fall ein Ersatz für diese Lücke
sein, jedoch erlauben sie Jugendlichen, einen Ort für sich
selbst zu beanspruchen, an dem sie ihre eigenen Regeln
aushandeln.
Nun bieten Videospiele zumeist keine neutralen Orte, die
von Jugendlichen besetzt werden – vielleicht mit Ausnahme des Spieles Minecraft, das mehr an Lego als an ein
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herkömmliches Computerspiel erinnert und sich sicherlich
auch deswegen extremer Beliebtheit erfreut. Oft genug basieren die Spiele bereits auf Konflikten, die mehr oder weniger subtil in die Umgebung eingebaut worden sind. Ähnlich wie in Romanen, Comics und Filmen basieren viele
Spiele auf vereinfachten Darstellungen von rechtschaffen
und böse, antiquierten Rollenbildern von Mann und Frau
und weiteren dramatischen Vereinfachungen, die Abenteuergeschichten spannend machen und Spielenden ihren
grundlegenden Handlungsraum vorgeben.
Der große Unterschied zwischen Büchern, Filmen und
Spielen ist natürlich, dass es in Spielen den Spielenden
selbst überlassen ist, wie dieser Handlungsraum navigiert
wird. Besonders in Mehrspielerumgebungen mit eher trivial gestrickten narrativen Elementen (Polizisten vs. Terroristen, Ritter vs. Monster etc.) entwickelt sich so oft ein
kreativer Umgang mit dem zugrunde liegenden Material.
Ja, ein Videospiel ist kein Abenteuerspielplatz. Auch modernste Entwicklungen in Grafik und Eingabegeräte werden diesen Fakt nicht in Frage stellen. Aber ein Videospiel
ist zunehmend zum Spielplatz geworden, in dem eigene
Regeln etabliert werden und kreativer Umgang mit den zugrunde liegenden Systemen stattfindet. Videospiele werden
von den Spielenden zum Spielplatz gemacht. Auf diesen
Spielplätzen werden eigene Regeln des Miteinanders formuliert, Gemeinschaften geschlossen – und auch aufgelöst.
Moby Dick als Spiel, als Theater
Wieso also Moby Dick als Spiel? Es ist nicht nur die
Abenteuergeschichte, die in modernen Spielen ihre Entsprechung findet. Es ist der inherent soziale Konflikt auf
der Pequod, der sich in den gemeinschaftlichen Aushandlungsprozessen in Mehrspielerumgebungen wiederfindet.
Es ist die fast enzyklopädische Beschreibung des Walfangs, der der Faszination und dem bei den Spielenden
vorhandenen Fachwissen über moderne Videospiele sowie
ihrer zugrundeliegenden Regelsysteme entspricht.
Um diese Übertragung auf der Bühne zu verwirklichen,
ist nicht nur eine neue Interpretation des ursprünglichen
Textes notwendig. Dieselbe Videospiel-Technologie, die
im Stück besprochen wird, wird auch auf der Bühne eingesetzt, um eine virtuelle Pequod zu erschaffen.
In Kombination mit live-geführten Puppen entsteht ein
graphisches Moby-Dick-Computerspiel, das als Grundlage für eine moderne Interpretation des klassischen Stoffes
dient. Das Spiel wird als Ort sichtbar, im Entstehungsprozess wie im systematischen Aufbau. Die Darstellerinnen
und Darsteller navigieren als Spielende diesen Ort als
Abenteuerraum. Sie formen ihre eigenen Regeln des sozialen Miteinanders, schließen sich zu einer Gemeinschaft
zusammen und verhandeln die sozialen Grenzen zwischen
Spiel und Realität.
Friedrich Kirschner ist Professor für digitale Medien an
der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin.
Zusammen mit Professorin Melanie Sowa, der Bühnenbildnerin Lena Fay und Studierenden des 3. Studienjahres zeitgenössische Puppenspielkunst inszeniert er Moby
Dick als Theaterstück für Jugendliche ab 12 Jahren.
Moby Dick UA
SO10.05 | 18:00 | Bayer Kulturhaus, Leverkusen
MO11.05 | 19:30 | Bayer Kulturhaus, Leverkusen
DI12.05 | 11:00 | Bayer Kulturhaus, Leverkusen
Videospiele wie Assasin’s Creed - Black Flag werden
zunehmend nicht nur als Abenteuer, sondern auch
Das Bayer
Kultur-Magazin
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als kreativer Spielplatz
wahrgenommen.
Masaa
Ein wirklich außergwöhnlicher Abend
Text: Arthur Horváth · Foto: Masaa
Masaa
Rabih Lahoud und Masaa (deutsch: Abend) berühren mit
Musik die Welt. Lahoud legt ihr seinen poetischen und
menschlichen Kosmos zu Füßen. Mühelos und ohne, dass
man auch nur ein Wort arabisch spricht, begreift man, fühlt
man und weiß man sofort und ganz genau, wovon er singt.
Freedom Dance ist das erste Stück von Masaa, auf das ich
vor drei Jahren im Internet gestoßen bin, bevor sich die
Band für den Wettbewerb future sounds beworben hatte.
Ein Meisterwerk dieses Kollektivs, welches sich aus jenem
Rabih Lahoud (Gesang), Marcus Rust (Trompete) Clemens
Pötzsch (Klavier) und Demian Kappenstein (Schlagzeug)
zusammensetzt.
Das Quartett spielt – erfrischend befreiend jenseits der
ausgetretenen Ethno-Jazz-Pfade und üblicher Verdächtiger – eine Fusion aus Improvisation (ohne die verkopfte
Angst vor Melodie und Struktur), Orient (ohne sich darin
zu verlieren), westlichem Jazz (außerhalb des Radars der
ermüdenden, gestrigen „Jazzpolizei“) und „Volksmusik“
im allerbesten Sinne.
Rabih Lahouds gesungene arabische Poesie ist der Ausgangspunkt. Oft ist es ein Satz, eine Phrase, eine Redewendung, die Rabih wie ein Mantra wiederholt, phrasiert und
die dem des arabisch nicht mächtigen Zuhörer trotzdem
das Gefühl gibt, immer wieder neue Worte zu hören, einer
Geschichte lauschen zu dürfen, die über Strophen, einen
Refrain, einen C-Teil, auf ein großes Finale zusteuert und
eine Geschichte zu Ende erzählt. Rabihs Gesang verlässt
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dabei monotone Orient-Pfade, die einfach nur exotisch
klingen wollen. Seine Töne und Laute kommen aus dem
innersten des Menschseins. Klagend, befreiend, drängend,
beruhigend. Aber immer: wunderschön und einnehmend.
In dieser Band haben sich an ihren Instrumenten hochbegabte Verbündete der Neugier zusammengefunden, die allesamt ihre eigenen Exkursionen in die Welt (von Indien
über Israel, von Beirut bis Dresden) und ihre Persönlichkeiten, ihre Herkunft, ihre Wurzeln und ihre Identität einbringen in ein stimmiges, schwebendes und authentisches
Stück Energie.
Allesamt zeichnet eine starke, heilende Empathie, eine emotionale Intelligenz aus, die in dieser Welt, gerade in der heutigen Zeit, dringend gebraucht wird. Ein Glücksfall für den
Jazz, davon zeugen dann auch die zahlreichen Auszeichnungen. Vom Bremer Jazzpreis 2012, über den Förder-RUTHWeltmusikpreis des MDR 2014 und nicht zuletzt auch der
2. Platz bei unseren future sounds, die Siggi Loch, Chef des
größten und wichtigsten Jazzlabels Europas (Act) kürzlich
in einem Interview als relevantesten deutschen Jazzpreis für
den Nachwuchs geadelt hat.
Der Autor Arthur Horváth ist Liedermacher/Singer-Songwriter und Initiator sowie Jurymitglied des deutschen Jazzpreises future sounds.
Masaa
DO 18.06 | 19:30 | Bayer Kulturhaus, Leverkusen
Kulturkalender
30
Mai – Juni 15
Mai.15
SA02.0515:00 Die verlorene Melodie
-8+xBK
DO07.0519:00 Il Futuro – Die Zukunft
FilmFo
SA09.0519:30Reason of Respect II
-16+xBK
SO10.0518:00 Moby Dick UA
-16+xBK
MO 11.05 19:30 Moby Dick -16+x BK
DI 12.05 11:00 Moby Dick -16+x BK
DO14.0518:00 Der Vater DE
SCHmBK
SA16.0519:30 My Fair Lady
BBBK
SO17.0518:00 My Fair Lady
BB BK
MO18.05 11:00Ein Leben für die Bühne: A. Krichel
Mm!BK
DO21.0519:00 Sâdhu – Auf der Suche nach der Wahrheit FilmFo
DO28.0519:00 Searching for Sugar Man
FilmFo
DO28.0519:30 Benjamin Schaefer & Quiet Fire
JazzBK
SA30.0519:30Bundesjugendballett
TANZBK
Juni.15
SO07.0611:00 After you, Mr. Gershwin! KLMBK
SO07.0618:00 Bayer-Philharmoniker | Silver-Garburg SKFO
DI16.0620:00 Kristian Bezuidenhout
KLWu
MI17.0619:30 Kristian Bezuidenhout
KLBK
DO18.0619:30Masaa
JazzBK
Änderungen vorbehalten!
Herausgeber: Bayer AG Communications | Bayer Kultur
Leitung: N.N.
Redaktion: Kerstin Heber
Texte: Ludwig Seyfarth Der zweideutige Spiegel – Zu Wahrheit in
Philosophie und Kunst (Originalbeitrag), Carsten Dürer
Kristian Bezuidenhout … und sein Mozart-Spiel (Originalbeitrag),
Daniela Rothensee Als Tanzbotschafter unterwegs. Das Bundesjugendballett verbindet Menschen und Orte (Originalbeitrag),
Friedrich Kirschner Moby Dick. Ein Klassiker wird virtuell (Originalbeitrag), Arthur Horváth Masaa. Ein wahrlich guter Abend (Originalbeitrag)
Weitere Texte: Kerstin Heber, Reiner Ernst Ohle
Redaktionelle Mitarbeit: Regina Bernt
Designkonzept: Büro Kubitza, Leverkusen
Layout und Realisation: wedeldesign, Bochum
Titelbild: Matthias Masaa/privat
Bildnachweis S. 2: Behrendt & Rausch
Druck: Ollig-Druck, Köln
Auflage: 3.000
© Bayer AG Communications | Bayer Kultur | 2015
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