Erzählmuster: Fantasy Die meisten Klassiker und überragenden Erfolge der letzten Jahrzehnte bei jungen Lesern waren fantastische Erzählungen. Damit ist Fantasy eines der populärsten Genres der heutigen Jugendliteratur. 1. Faszination und Reputation des Genres: reaktionäre Realitätsflucht und Befreiung der Fantasie Der ‚Siegeszug‘ der Fantasy in den letzten Jahrzehnten kann damit erklärt werden, dass die Abkehr von der – unter Umständen langweiligen und bedrückenden – Realität mit der Reise in fantastische Welten und Begebenheiten besonders leicht gelingt. Dies kann negativ als Wirklichkeitsflucht gedeutet werden. Es kann aber auch als „kleine Auszeit[…] und Flucht[…], eine Befreiung der Vorstellungskraft, sowie utopische 1 Spielerei[…], die das nüchterne Leben bereicher[t] und erleichter[t]“ , Wertschätzung erfahren. Diese Fluchten könnten besonders wichtig sein, wenn das Leben der Jugendlichen gekennzeichnet ist durch Rationalität und Leistungsdruck. 2 Daher fallen Bewertungen durch Literaturwissenschaftler und Pädagogen sehr unterschiedlich aus: Einerseits wird fantastische Literatur häufiger als Literatur anderer Genres anhand einiger weniger populärer aber qualitativ schlechter Beispiele grundsätzlich abgewertet. Zudem wird das Genre angesichts der meist mittelalterlichen, feudalistischen und autoritären Welt und ihrer strahlenden, kämpfenden Helden als Rückfall 3 in die Barbarei gesehen und Werke des Genres als reaktionär verurteilt. Andererseits kann dem Genre aber auch die Förderung von Fantasie und das Aufbrechen eingefahrener Denkstrukturen als positive Einflüsse zugeschrieben werden. Zudem sei darauf hingewiesen, dass gerade in der Fantasy die Möglichkeit besteht, Grundstrukturen sichtbar zu machen, die nicht auf die Oberfläche der Handlung oder der Figurendarstellung zu reduzieren sind. 4 „Phantastische Literatur stellt eine Möglichkeit der Befreiung von den Zwängen eines in Rationalität erstarrten Bewußtseins dar. In diesem Sinne ist sie Protest und Hilfe bei der Auffindung von Alternativen, weniger im strikt inhaltlichen als vielmehr in einem funktionellen Sinn.“ 5 Darüber hinaus stellt Fantasy immer auch einen Kommentar zu Realität dar und ist damit nicht zwangsläufig als 6 von ihr getrennt zu rezipieren. Diese doppelte Funktion von fantasievoller Realitätsflucht einerseits und Bezug auf die Realität andererseits wird zum Beispiel bei dem Fantasy-Klassiker Der Herr der Ringe deutlich, in dem J.R.R. Tolkien eine High-Fantasy-Welt entwirft, die mittelalterlich wirkt und von fremden Völkern bewohnt wird, der aber auch als Kommentar zu den realen, politischen Vorgängen um den Ersten Weltkrieg gelesen werden kann. 7 1 vgl. Weinreich 2007, S.12. vgl. Haas, Klingberg und Tabbert 1984, S.281f. 3 vgl. Haas 1993, S.11ff., vgl. Meißner 1993, S.38. und vgl. Heidtmann 1986, S. 22. 4 vgl. Haas 1993, S. 15 und S.20 und vgl. Haas 1986, S.31. 5 Haas, Klingberg und Tabbert 1984, S.281. 6 vgl. Weinreich 2007, S. 13. 7 vgl. Rüster 2013, S.285f. und vgl. Garth und Bülles 2014. 2 1 2. Wirkungs- und Rezeptionsästhetische Aspekte: Aufwertung des Ichs und Allverbundenheit Gerade für Jungen können Titel der Fantasy, die zumeist eine Heldenreise beschreiben, wertvolle und lesemotivierende Lektüren darstellen, indem sie relativ traditionelle Helden als Identifikationsfiguren zur 8 Verfügung stellen und in abenteuerlichen Welten spielen. Denn wenn unscheinbare oder machtlose Jungen bzw. Männer zu einer fantastischen Reise aufbrechen und zu wahren Helden werden, findet eine Aufwertung des Ichs statt und gleichzeitig wird die Allverbundenheit der Welt deutlich: In der fantastischen Welt gibt es 9 keinen Zufall. „Jede Person, jedes Handeln ist eingefügt in eine Welt von Sinnbezügen.“ Auch ein „Bedürfnis nach Transzendenz und metaphysischer Wirklichkeit“ kann Fantasy so bedienen. Mit dem Lesen von Fantasy geschieht dies aber - anders als in religiösen Kontexten - „nur als Spiel und Experiment“ innerhalb der fiktiven 10 Welt und bleibt damit unverbindlich. „Während der Jugendliche in der tatsächlichen Welt nur wenige Möglichkeiten hat, sich von seiner Umwelt abzusetzen und eigene Spielräume zu entfalten, kann die phantastische Welt zur Ersatzwelt werden. Hier sind die Fronten zwischen Gut und Böse eindeutig, ein schwaches Ich kann sich zum allmächtigen Helden entwickeln in einer Welt, die von absoluten Mächten bestimmt wird und Sinnhaftigkeit beansprucht. […] Das Ich des Helden – und wohl auch das des Lesers, der sich mit ihm identifiziert – erfährt dadurch eine ungeheure Aufwertung, ihm werden übermenschliche, nahezu göttliche Kräfte verliehen.“ 11 Dies lässt sich gut in der Bestsellerreihe Harry Potter beobachten: Der ungeliebte und schwache Waisenjunge Harry entdeckt, dass er ein Zauberer ist und in dieser fantastischen Parallelwelt sogar berühmt. Sein Kampf gegen den bösen Lord Voldemort, der für Harry auch ein ganz persönlicher Kampf gegen den Mörder seiner Eltern ist, wird innerhalb der sieben Bände zum Krieg um das Wohlergehen seiner Freunde, aller Zauberer und Hexen und schließlich der ganzen Welt. Der Leser verfolgt dabei die Entwicklung Harrys zu dem zentralen Helden der Schlacht zwischen Gut und Böse, dem einzigen, der Voldemort aufhalten kann. 3. Ursprünge des Genres: Fantasy als „nicht geglaubter Mythos“ 12 Tatsächlich liegen die Ursprünge des Genres Fantasy im Mythos, aus denen es Motive und Figuren entleiht und dessen sinn- und troststiftende Wirkung es zum Teil entfalten kann. 14 13 Weinreich bezeichnet den Mythos als 15 „Keimzelle aller phantastische[r] Literatur“ und „Fantasy als nicht geglaubten Mythos“ . Wurde der Mythos 8 vgl. Weißenburger 2009, S.140f. vgl. Meißner 1993, S.35f.. 10 Vgl. Weinreich 2007, S.41. 11 Meißner 1993, 36f. 12 ebd. S.13 13 ebd. S.12. 14 ebd. S.39. 15 ebd. S.13 9 2 nämlich zumindest zu seiner Entstehungszeit als wahr rezipiert, erhebt Fantasy einen solchen Anspruch nur innerhalb seiner eigenen, fantastischen Welt. 16 Eine solche fantastische Literatur erschien erstmals in der Romantik in Form von Märchen und Kunstmärchen, deren berühmtester Verfasser E.T.A. Hoffmann ist. Nachdem in Deutschland lange Zeit Fantastik kaum rezipiert wurde, erlebte die moderne Fantasy nach dem Zweiten Weltkrieg schnell wachsende Popularität. Maßgeblich an diesem Erfolg beteiligt waren J.R.R. Tolkien (mit z.B. Der kleine Hobbit und Der Herr der Ringe) und Michael Ende (mit z.B. Momo und Die unendliche Geschichte). 17 Die Genrebezeichnung selbst wird auf eine erste Nennung in der ‚Pulp-Publikation‘ Magazine of Fantasy and Science Fiction von 1949 zurückgeführt. 18 Trotz dieser einheitlichen Genrebezeichnung, gibt es keine allgemeingültige und unumstrittene Definition von Fantasy. Vermischung mit anderen Genres bei. 4. 19 Dazu trägt auch die inzwischen übliche 20 Abgrenzung zu anderen Genres: Helden – fantastische Orte – tatsächliche Magie Weinreich nennt als drei Charakteristika, die Fantasy neben einer bildhaften Sprache 21 ausmachen: das konstitutive Vorhandensein eines Helden oder einer Heldin, einen imaginären Handlungsort und Magie als selbstverständliches Faktum innerhalb der Geschichte. Damit nimmt er die Definition vor allem über inhaltliche Kriterien vor. 22 Anders als religiöse Texte, auf die diese Beschreibung auch zutreffen könne, solle Fantasy allerdings nicht als wahr rezipiert werden. Trotzdem müssten die dargestellten Figuren ihre magische Welt als ernsthaft wahrnehmen – obgleich die Handlung selbst auch komisch sein könne, so Weinreich. 23 Die Abgrenzung zu benachbarten Genres ist indes nicht immer leicht. Von der Science Fiction unterscheidet sich Fantasy vor allem durch seinen Bezug auf metaphysische Aspekte. So weit hergeholt die Ideen der Science Fiction auch sein mögen, betreffen sie doch immer die physische Realität und beziehen keine unbegründete Magie ein. 24 Vom Genre ‚Horror und Grusel‘ unterscheidet sich Fantasy dadurch, dass sich die agierenden Figuren in der Horrorliteratur nicht an die magischen, gruseligen Aspekte der Handlung gewöhnen und so „das imaginäre Element und der Bruch mit der Realität nicht in völliger Konsequenz vollzogen wird.“ 25 Betrachtet man Fantasy-Titel der Jugendliteratur, folgt der Plot zumeist deutlich dem Handlungsmuster der Heldenreise. Damit unterscheidet sie sich kaum von Fantasy für Erwachsene, weswegen die meisten solcher Publikationen auch als All-Age-Literatur bezeichnet werden können. Fantastische Kinderliteratur ist dagegen meist komisch, thematisiert die Behauptung der Kinder gegenüber der Erwachsenenwelt und die Begegnungen mit ‚pädagogischen Monstern‘ oder anderen Besuchern aus fremden Welten, um Ängste oder Probleme zu 16 vgl. Weinreich 2007, S.20. Haas, Klingberg und Tabbert 1984, S.268. und vgl. Heidtmann 1986, S.20. 18 vgl. Rüster 2013, S.284. 19 vgl. Weinreich 2007, S.17. 20 vgl. Heidtmann 1986, S.18. 21 vgl. Weinreich 2007, S.11 und S.22. 22 vgl. ebd. S. 10 und S.20. 23 vgl. ebd. S.28f. 24 vgl. ebd. S.27. 25 vgl. Weinreich 2007, S.30. 17 3 bearbeiten. 26 Wegen dieser stark voneinander abweichenden Erzählmuster bezieht das Genre Fantasy nach dem vorliegenden Verständnis nur Titel der Jugendliteratur bzw. der All-Age-Literatur ein. 5. Grundtypen des Genres I, Handlungsmuster: Heldenreise, um das Böse zu besiegen In Titeln der Fantasy wird vor allem der Kampf zwischen Gut und Böse in den Mittelpunkt gestellt – obgleich in modernen Jugendbüchern die Trennung zwischen diesen Sphären auch innerhalb einzelner Figuren oft 27 ambivalent gestaltet wird. In diesem Spannungsfeld müssen sich die Helden positionieren und kämpfen. Der Held erlebt dabei einen „Bildungs- und Sozialisationsprozess“. 29 28 Am Ende der Reise, die oft durch eine fantastische Welt führt, steht dann die Lösung von Problemen oder die Erfüllung von Sehnsüchten, die er im 30 Alltag zu Beginn der Handlung hatte. Dabei durchwandert er typischerweise verschiedene Stadien, die Vogler wie folgt beschreibt: Zunächst trifft der Leser den Helden in seiner gewohnten Welt, in die dann der Ruf des Abenteuers dringt. Der Held kann nicht in seiner Bequemlichkeit ausharren. Er muss Rache nehme, einen Auftrag erfüllen oder einer Bedrohung begegnen. Zunächst versucht er sich dem Ruf zu entziehen oder kämpft mit dem Drang, doch noch umzukehren. Doch diese Weigerung bricht zusammen, sobald ihn ein Umstand oder eine Person zum Abenteuer drängt. Dies stellt die nächste Station der Heldenreise dar: Die Begegnung mit dem Mentor, der den Helden auf seine Aufgabe vorbereitet – zum Beispiel durch Wissensvermittlung oder das Mitgeben (magischer) Werkzeuge. Zwar muss der Held das Abenteuer allein bestehen, doch der Mentor weist ihm dabei den Weg. Nun ist der Held bereit für die eigentliche Heldenreise mit all ihren Konsequenzen. In Eragon von Christopher Paolini wird der Titelheld als armer und einfacher Bergbewohner eingeführt, den das Abenteuer ruft, als er ein Ei findet, aus dem eine Drachendame schlüpft. Zunächst versteckt er diesen unglaublichen Umstand. Weil grausame Gestalten seinen Onkel ermorden und sein Zuhause abbrennen, kann er sein gewohntes Leben aber schließlich nicht weiterführen. Für seine Reise auf der Suche nach den Übeltätern und nach seinem eigenen Schicksal ist er dennoch erst bereit, als sich der alte Geschichtenerzähler Brom als ehemaliger Drachenreiter offenbart und zu Eragons Mentor wird. Das Abenteuer kann nun beginnen. Der Held wagt das Überschreiten der ersten Schwelle. Es folgen verschiedene Bewährungsproben, Verbündete und Feinde, die den Helden in seinen Einstellungen und Verhaltensweisen verändern, bis ihm schließlich das Vordringen zur tiefsten Höhle/zum empfindlichsten Kern gelingt. Er gelangt bis zum - oft unterirdischen - Hauptquartier des Feindes und stellt sich dort der entscheidenden Prüfung, die ihn mit dem größten Schrecken konfrontiert. Bei dieser Auseinandersetzung auf Leben und Tod scheitert der Held oft fast und entkommt einer ausweglosen Situation oder seinem eigenen Tod nur knapp. Nach dem Gewinnen dieser Schlacht erhält der Held die Belohnung für seine Mühen. Diese Belohnung kann ein Schatz, eine geliebte Person, ein erweitertes Verständnis für sich oder die Welt, eine 26 vgl. Haas, Klingberg und Tabbert 1984, S.275ff. vgl. ebd. S.34f. 28 Meißner 1993, S.33. 29 vgl. Tabbert 2000, S.190. 30 vgl. Patzelt 2001, S.249. 27 4 Versöhnung oder ein Heilmittelt für seine Heimat sein. Mit diesem ‚Elixier‘ macht sich der Held auf den 31 Rückweg in seine gewohnte Welt, in die er glücklich zurückkehrt. Gregor aus der gleichnamigen Buchreihe von Suzanne Collins beispielsweise muss im Unterland gegen Ratten und andere Gefahren antreten, bevor er zu seinem Mut und seiner Stärke findet. Er erkennt, wer sein Vorbild, wer sein Freund und wer sein Feind ist. So ist er schließlich in der Lage die richtigen Entscheidungen zu treffen und seinen jahrelang verschollenen Vater aus einem unterirdischen Verließ in dem gefährlichen Labyrinth der Ratten zu retten. Als ihnen gemeinsam die Heimkehr gelingt, ist nicht nur Gregors fantastische Reise erfolgreich beendet, auch die Probleme des vaterlosen Jungen und seiner Familie vor dieser Reise sind gelöst. Vogler führt aus, dass sich aus diesem Handlungsmuster der Heldenreise eine „universelle Kraft“ ergibt. Es sei etwas „[…], das alle Menschen empfinden können, weil es dem universellen kollektiven Unbewußten entspringt und universelle Befindlichkeiten widerspiegelt.“ 6. 32 Grundtypen des Genres II, Figuren: Helden und andere Archetypen Wie bereits ausgeführt, ist der Held als Handlungsträger konstitutiv für eine Fantasy-Erzählung. Oft hat er übernatürliche Fähigkeiten oder Hilfsmittel wie Harry Potters Tarnmantel oder Percy Jackson Fähigkeit, im Wasser zu heilen. Manchmal ist er jedoch auch – ganz im Gegenteil – mit Behinderungen konfrontiert wie Hylas aus Michelle Pavers Gods and Warriors, der durch seinen Geburtsort stigmatisiert ist. 33 Neben diesem Helden sieht Vogler in einer Heldenreise typischerweise auch weitere Archetypen nach C.G. Jung agieren, die „aus dem kollektiven Unbewußten der Menschheit“ stammen. 34 Dabei sind diese Archetypen jedoch nicht zwingend jeweils einer Figur zuzuschreiben, sondern können als vorübergehende oder parallel existierende Funktionen für den Helden bzw. als Charaktereigenschaften verschiedener Figuren übernommen und auch wieder abgelegt werden. 35 Dabei bleiben die Charaktere zumeist überwiegend flach. Denn angesichts zum Teil überbordender Fantasie kann der Leser vor einer Überforderung geschützt werden, wenn er viele Figuren, Gestalten und Landschaften 36 bereits weitestgehend kennt. Die Archetypen können dabei jeweils aus psychologischer Sicht verstanden („1. Welche psychologische Funktion oder welchen Teil der Persönlichkeit repräsentiert er?“) oder nach ihrer Rolle innerhalb der Handlung untersucht werden („Was ist seine dramaturgische Funktion im Rahmen der Geschichte?“). 37 So treffen wir auf Heldenreisen zumeist einen Helden, der bereit ist, sich für andere aufzuopfern und als sympathisches Identifikationsangebot an den Leser gelten kann. Dazu eignet er sich besonders gut, wenn ihn der Leser einerseits mag, ihn verstehen kann und bereit ist, „die Welt durch seine Augen“ zu betrachten. 31 vgl. Vogler 2010, S.54-75. ebd. S.52. 33 Vgl. Weinreich 2007, S.23. 34 vgl. Vogler 2010, S.51. 35 vgl. ebd. S.81f. 36 vgl. Heidtmann 1986, O. S.21. 37 Vogler 2010, S.34f. 38 Vogler S.89. 32 5 38 Andererseits darf er kein Stereotyp darstellen, sollte von Konflikten gequält und durch besondere Eigenschaften gekennzeichnet sein. „In einem Helden der innere Zweifel, Denkfehler, alte Schuldgefühle und seelische Verletzungen oder seine Angst vor der Zukunft überwinden muß, werden wir ein Stück von uns selbst wiedererkennen. Schwächen und Unvollkommenheit, Schulden und Laster machen einen Helden unbedingt menschlicher und anziehender.“ 39 Ihm wird ein Mentor zur Seite gestellt, der Wissen und/oder Gaben an den Helden weitergibt, oft sein Gewissen darstellt oder ihn zum Aufbruch motiviert. Ein Held kann einen oder mehrere Mentoren haben, die 40 sich auch selbst noch auf einer (gescheiterten) Heldenreise befinden können. Harry Potter beispielsweise wird in jedem Band eine andere, neue Vaterfigur zur Seite gestellt wie der fähige Lehrer gegen die dunklen Künste Professor Lupin oder Harrys tapferer Pate Sirius Black, die ihn gemeinsam mit dem Schulleiter Dumbledore begleiten und ihn je unterschiedliche Fähigkeiten und Einsichten mitgeben, die er für den Sieg über das Böse braucht. Schwellenhüter hingegen prüfen den Helden, indem sie ihm auf seiner Reise immer wieder als Hindernis begegnen. Sie sind zunächst furchterregend, stellen sich dann aber als besiegbar heraus und können sogar zu Verbündeten werden. Schwellenhüter sind zumeist nicht die Oberschurken. Durch die Auseinandersetzungen 41 mit ihnen, kann der Held oft zu neuer Stärke finden. Besucht der Held eine Schule oder etwas ähnliches, sind Schwellenhüter beispielsweise oft boshafte oder neidische Mitschüler wie in Harry Potter, Charlie Bone oder Percy Jackson. Ein weiterer typischer Archetyp, der dem Helden auf seiner Reise begegnet, ist der Gestaltwandler, der sich vor allem dadurch auszeichnet, dass er schwer in die Lager ‚gut‘ und ‚böse‘ eingeordnet werden kann. 42 Ein prominentes Beispiel für einen Gestaltwandler ist der Lehrer Snape aus Harry Potter, dessen wahre Motive dem Leser erst am Ende der Heptalogie zugänglich werden, nachdem er sieben Bände lang dem bösen Lord Voldemort gedient und Harry das Leben schwer gemacht, es aber auch wiederholt gerettet hat. „Helden treffen häufig auf Figuren (meist des jeweils anderen Geschlechts), deren augenfälligste Eigenschaft darin besteht, daß sie sich vom Blickwinkel des Helden aus gesehen ständig zu verändern scheinen.“ 43 Eindeutig negativ ist dagegen der Schatten, der „für die Kräfte der Nachtseite, für diejenigen Aspekte einer Sache oder eines Menschen [steht], die unter normalen Umständen keinen Ausdruck finden, unbewußt sind 44 oder missbilligt werden.“ Häufig wird der Schatten in Heldenreisen auf die Antagonisten der Helden projiziert, wobei er gute Anteile besitzen kann, die ihn menschlich erscheinen lassen. Er kann aber auch als 39 ebd. S.95. vgl. ebd. S.105-120. vgl. ebd. S.121-126. 42 vgl. ebd. 133-142. 43 ebd. S.133-142. 44 ebd. S.143f. 40 41 6 selbstzerstörerisches Element im Helden selbst angelegt sein. 45 In Eragon heißt dieser Schatten, den der Titelheld im finalen Kampf des ersten Bandes besiegen muss, tatsächlich auch „Schatten“. In Artemis Fowl ist der Titelheld der eigentliche Bösewicht der Geschichte. Sein Schatten ist die eigene Habgier und Skrupellosigkeit, der jedoch auch eine menschliche Moral entgegensteht. 7. Handlungsort: Zwischen Realität und Fantasie Neben der Handlung und den Figuren werden Titel der Fantasy auch durch ihr Verhältnis von Realität, fiktiver Realität und fantastischem Handlungsort gekennzeichnet, das häufig auch als Ankerpunkt von 46 Definitionsbestrebungen ausgemacht werden kann. Nach einigen Definitionen kann Fantasy ausschließlich in einer fremden, fantastischen Welt spielen, die für die agierenden Figuren so selbstverständlich ist wie die ihr innewohnende Magie - auch ‚High Fantasy‘ genannt - wie zum Beispiel in Tolkiens Herr der Ringe und in Eragon von Christopher Paolini. Eine andere Möglichkeit ist die Darstellung eines Kontrastes zwischen einem Handlungsort, der der Realität des Lesers ähnelt, und einer fantastischen Parallelwelt. Dabei kann diese magische Welt eine tatsächliche, eigenständige Welt sein, die durch einen geheimen Zugang betreten werden kann wie zum Beispiel durch einen Wandschrank in den Narnia-Erzählungen von C. S. Lewis oder durch ein Buch wie in der Tintenwelt-Trilogie von Cornelia Funke, oder sie kann in der fiktiven Realität versteckt liegen wie die Zauberschule Hogwarts in Joanne K. Rowlings Harry Potter und die Bloor-Akademie in Charlie Bone von Jenny Nimmo. 47 Die fantastische Welt wird dabei oft mittelalterlich beschrieben oder erinnert zumindest an die Realität vor der 48 Technikschwelle. So fährt Harry Potter mit einer Dampflock in die Zauberschule Hogwarts und schreibt dort mit Federkielen 49 und Percy Jackson lebt im Camp Half-Blood, einem Ort, an dem die Antike wiederbelebt 50 wird. In der dargestellten, fantastischen Welt ist Magie dabei immer etwas Ernstzunehmendes und Reales. Sie muss allerdings auch Gesetzen gehorchen und Grenzen haben, da sonst keine Herausforderung möglich ist, die den Protagonisten schließlich als Helden aus seinem Abenteuer hervorgehen lassen kann. Siehe : - Beispielrezension 1: Eragon – Das Vermächtnis der Drachenreiter - Beispielrezension 2: Charlie Bone und das Geheimnis der sprechenden Bilder Literaturverzeichnis - Colfer, Eoin: Artemis Fowl, Carlsen: Hamburg 2008. - Collins, Suzanne: Gregor und die graue Prophezeiung, Oettinger: Hamburg 2005. - Ende, Michael: Momo, Thienemann: Stuttgart 2005. 45 vgl. ebd. S.143-150. vgl. Patzelt 2001, S.47ff. 47 vgl. Weinreich 2007, S.24f. 48 vgl. ebd. S.26. 49 vgl. Rowling 50 vgl. Riordan 51 vgl., ebd. S.26. 46 7 51 - Ende, Michael: Thienemann: Stuttgart 2014. - Funke, Cornelia: Tintenherz, Oetinger: Hamburg 2010. - Garth, John und Bülles, Marcel: Tolkien und der Erste Weltkrieg. Das Tor zu Mittelerde, Klett-Cotta: Stuttgart 2014. - Haas, Gerhard: Funktionen und Formen der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur, in: Informationen des Arbeitskreises für Jugendliteratur 1986 (3), S.27-33. - Haas, Gerhard: Phantastik – die widerrufene Aufklärung? in: Lange, Günter und Steffens, Wilhelm (Hg.): Literarische Aspekte der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur, Königshausen Neumann, Würzburg 1993. - Haas, Gerhard; Klingberg, Göte und Tabbert, Reinbert: Phantastische Kinder- und Jugendliteratur. In: Gerhard Haas (Hg.): Kinder- und Jugendliteratur. Ein Handbuch, Reclam: Stuttgart 1984. - Heidtmann, Horst: Zeitgenössische Probleme mit der phantastischen Literatur. Überlegungen. In: Informationen des Arbeitskreises für Jugendliteratur 1986 (3), S. 18–27. - Kaminski, Winfred, Einführung in die Kinder- und Jugendliteratur. Literarische Phantasie und gesellschaftliche Wirklichkeit. 4. Aufl. Juventa Verlag: Weinheim 1998. - Lewis, C. S.: Die Chroniken von Narnia. Das Wunder von Narnia, Betz: Wien 2014. - Meißner, Wolfgang: Die Phantastik der Kinder – entwicklungspsychologische Überlegungen zur phantastischen Kinder- und Jugendliteratur, In: Günter Lange und Wilhelm Steffens (Hg.): Literarische und didaktische Aspekte der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur, Königshausen & Neumann: Würzburg 1993. - Nimmo, Jenny: Charlie Bone und das Geheimnis der sprechenden Bilder, 9.Auflage, Ravensburger: Ravensburg 2007. - Patzelt, Birgit, Phantastische Kinder- und Jugendliteratur der 80er und 90er Jahres, Europäischer Verlag der Wissenschaft: Frankfurt am Main 2001. - Paver, Michelle: Gods and Warriors. Die Insel der heiligen Toten, cbj: München 2014. - Riordan, Rick: Percy Jackson. Diebe im Olymp, 9.Auflage, Carlsen: Hamburg 2011 - Rowling, Joane K.: Harry Potter und der Stein der Weisen, 26.Auflage, Carlsen: Hamburg 2005. - Rüster, Johannes: Fantasy, in: Hans Rchard Brittnacher und Markus May (Hg.): Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch, Metzler: Stuttgart 2013. - Tabbert, Reinbert: Phantastische Kinder- und Jugendliteratur, in: Günter Lange (Hg.): Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur. Band 1. Grundlagen – Gattungen, Schneider: Baltmannsweiler 2000. - Tolkien, J.R.R.: Der Herr der Ringe, 4.Auflage, Klatt-Cotta: Stuttgart 2001. - Tolkien, J.R.R.: Der kleine Hobbit, dtv: München 2013. - Vogler, Christopher: Die Odyssee des Drehbuchschreibers. Über die mythologischen Grundmuster des amerikanischen Erfolgskinos, 6.Aufl., Zweitausendeins: Frankfurt am Main 2010. - Weinreich, Frank: Fantasy. Eine Einführung, Oldib, Essen 2007. - Weißenburger, Christian: Helden lesen! Die Chancen des Heldenmotivs bei der Leseförderung von Jungen, Schneider Verlag: Baltmannsweiler 2009. 8
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