Zwischen Rausch, Liebe und täglichem Wahnsinn Kurzgeschichten Inhalt (im Orginal) Suche Frau....................................................................7 Table Dance.................................................................15 Brünnlitz.....................................................................21 Berliner Hochzeit..........................................................25 Radtour.......................................................................31 Verkehrskontrolle.........................................................41 Bernds Gesetze............................................................45 Blauer Affe.................................................................. 49 Betriebsfeier................................................................55 Klassensieg..................................................................61 Drei Cent ....................................................................65 Sektempfang............................................................... 69 Abfahrt....................................................................... 75 Sahara........................................................................81 Silvesterabend.............................................................91 Schön ists in der Rhön.................................................. 97 Über mich..................................................................105 Über Karsten..............................................................107 Table Dance Für diesen Abend hatten wir, Freund Klaus und ich, monatelang gespart. Wir wollten mal wieder richtig hemmungslos sein. Pünktlich fuhren wir los, verirrten uns aber vor lauter Aufregung und fanden den richtigen Weg erst nach ein paar Stunden Fahrt im Kreis. Endlich kamen wir zu dem im Neonlicht strahlenden Backsteingebäude und wurden auf einem roten Teppich zur Abendkasse geführt. Wir legten dem Türsteher einen Zentner Kartoffeln auf den Tisch, er wog ihn ab, nickte zufrieden und führte uns zur Garderobe. „Bitte ihren Verstand!“, sagte die Garderobendame und schnalzte mit den Fingern. „Wie bitte?“, fragte ich verunsichert. „Den Verstand? Muss das wirklich sein?“ „Aber natürlich! Außerdem ist es auch in ihrem Interesse.“ „Und Verwechslungen sind ausgeschlossen?“ „Dafür gibt es Marken!“ Ihre Finger schnalzten abermals, ihr Blick verhärtete sich. Hinter uns drängelten weitere Besucher. „Von mir aus!“, sagte ich und gab ihr das Verlangte. Eine Tonnenlast fiel von meinem Herzen. Sie reichte mir eine kupferne Marke und einen Minimalverstand. „Die Marke dürfen Sie auf keinen Fall verlieren!“, betonte sie streng. Ich nickte ergeben. Gut gelaunt schritten wir in den Festsaal. Unterwegs steckten wir ein paar Orangen und Bananen ein, die in einem Korb bereitstanden. Auf einer großen Bühne in der Mitte des Saales standen tropisch aussehende Bäume an deren Lianen nackte Männer und Frauen akrobatisch turnten. Das Publikum rings herum kreischte vor Begeisterung. Nach besonders tollkühnen Kunststückchen fütterten sie die Darsteller mit Obst. „Fängt gut an“, meinte Klaus. Ich nickte. Wir suchten uns einen freien Platz und verfolgten gespannt die nächste Szene: Ein muskulöser Tarzan sollte unter der Anleitung eines Dompteurs eine schwarzhäutige Jane verführen. Uns lief das Wasser im Mund zusammen. Tarzan steckte eine Banane in seinen Mund und Jane arbeitete sich essend vom gegenüberliegenden Ende an seinen Mund heran. Sie küssten und streichelten sich zärtlich. Der Dompteur knallte die Peitsche, die Hände rutschten tiefer, es ging zur Sache. Sträucher strauchelten, Bäume baumelten. Wir mittendrin bebten und pfiffen und schrien hirnlos mit. Nach dieser Vorstellung gab es eine Pause, wir hatten Gelegenheit den anwesenden Frauen kleine Grußkärtchen zukommen zu lassen. „Mir fällt nichts ein“, jammerte ich. Mein Freund hatte in Windeseile schon gut hundert Kärtchen bearbeitet und wollte sie gerade los schicken. „Was hast du geschrieben?“, fragte ich ihn neidisch und schielte auf seine Kärtchen. Sie waren voller obszöner Strichmännchenzeichnungen. „Glaubst du, das kommt an?“, wollte ich wissen, aber er hörte mir gar nicht zu und winkte einem Postboten. Der rollte auf einem gelben Einrad zu uns, frankierte jede Karte und verabschiedete sich hupend. Der Postbote verteilte die Karten an die Frauen, aber keine wollte sie lesen. Nur eine überflog die Karte, kicherte kurz und warf sie achtlos zu Boden. Dort lagen tausend andere. „Nimm´s dir nicht zu Herzen“, tröstete ich meinen Freund, er war den Tränen nahe. Zum Glück forderte der Veranstalter zum Tanz auf und wir stürzten uns - mit allen Gliedern zappelnd - in die Menge. Wir stampften und johlten zum Takt der ohrenbetäubenden Musik. Mein Freund hatte seinen Schmerz vergessen und wir konzentrierten uns wieder auf unser eigentliches Ziel: Hemmungslos zu sein. Skrupellos gierten wir die Frauen an und näherten uns ihnen tanzend. Aber sobald wir uns an eine heran gearbeitet hatten, entdeckten wir auch prompt einen Makel: eine blasse Hautstelle, eine überflüssige Falte oder ein unpassendes Härchen. Enttäuscht wandten wir uns ab und suchten nach der nächsten Schönheit. Und weil es den Frauen genauso ging, drifteten alle unerfüllt von einem zum anderen und niemand kam irgendwo zum Zug. In dem Moment, als wir diese Dummheit kapierten, ertönte schrill der Schlusspfiff. Die Musik brach schlagartig ab und aufgeblendete Lichter brannten scharfkantig in unseren Augen. Mit Hilfe von ein paar tausend Watt und einem Lautsprecher wurden wir aufgefordert, unverzüglich den Saal zu verlassen. „Nur noch fünf Minuten!“, bettelten wir, das Ziel unmittelbar vor Augen. Aber eine vollautomatische Putzkolonne, die aus dem Nirgendwo auftauchte, pferchte uns mit Schaufelbaggern zusammen und schob uns langsam, aber sicher zum Ausgang. „Sauerei, gemeine, ist das!“, entrüsteten sich einige. Aber sie verstummten, als die Männer vom Aufräumkommando ihre Holzknüppel schwangen. Erschöpft kamen wir am Ausgang an und tauschten unsere Marken ein. Im Freien holten wir tief Luft. „Es war gut, sich mal wieder richtig auszutoben. Aber ich bin froh, meinen Verstand wieder zu haben“, sagte Klaus auf dem Heimweg. Aber ich war zu beschäftigt für eine Antwort, ich hatte ein paar Grußkarten eingesteckt und beschrieb sie im Laufen mit kurzen Reimen. Klaus blieb stehen und sah mich an. „Sag mal“, sagte er und stieß mich in die Seite, “kann es sein, dass die unseren Verstand verwechselt haben?“ Erschreckt drehten wir um und hasteten zurück. Aber wir fanden weder das Gebäude noch unser Auto. Die Garderobendame hatte vorsichtshalber diese Erinnerung löschen lassen. Abfahrt Der Zug sollte kurz vor zwölf losfahren - ganz genau wusste es Erich aber nicht. Die Reise war von langer Hand geplant, hatte sich aber immer wieder verzögert. Da verlor SIE die Geduld und Erich sagte endlich zu. Sie verabredeten sich für den nächsten Tag auf dem Bahnsteig ihrer Stadt. Tagelang zuvor hatte Erich Bücher zu dem Thema gewälzt: Bei langen Reisen wird die Geduld auf eine harte Probe gestellt, es kommt zu Konflikten und Streit. Betont wurde, dass man nie alleine verreisen soll und am Abreisetag rechtzeitig aus dem Haus gehen muss. Also packte Erich früh am Morgen seine Habseligkeiten in ein kleines Köfferchen: Seinen Kühlschrank, seine Bücher und den Rasierpinsel. Die Reisegenehmigung vom Ordnungsamt lag bereit, ihm wurde bestätigt, dass er reisetüchtig, wenig ansteckend und im Großen und Ganzen zumutbar ist. Stolz zeigte er sie seiner Nachbarin und überreichte ihr seinen Wohnungsschlüssel. In seiner Wohnung konnte sie sich notfalls vor ihrem prügelnden Ehemann verstecken. „Gute Fahrt! Es ist nicht immer leicht! Man weiß nie, wie es ausgeht“, sagte sie und zeigte auf ihre blauen Flecken. Sie fiel ihm um den Hals und gab ihm einen schmatzenden Abschiedskuss. Erich ging die Treppe nach unten und stolperte beinahe über den Hausmeister. Er machte ein Nickerchen auf dem Fußabstreifer vor der Haustür. Vorsichtig weckte Erich ihn. „Was sie gehen?“, entrüstete er sich, „haben sie ihre offenen Rechnungen beglichen? Und ihr Mietverhältnis ordentlich gekündigt?“ „Alles erledigt“, antwortete Erich und wedelte mit dem Brief vom Ordnungsamt. „Na dann, bin ich beruhigt, eine gute Reise!“ Erleichtert sperrte er die Türe auf. Er klopfte auf Erichs Schultern und sagte: „Wird schon werden, alter Junge! Haben schon ganz andere geschafft.“ Auf dem Weg zum Bahnhof kaufte Erich noch einen Reiseanzug sowie Reiseschuhe und Reiseunterwäsche. Die Verkäuferin riet zu verschiedenen Farben. „Damit sie ein bisschen Abwechslung haben - und die kann nie schaden“, flüsterte sie ihm süffisant ins Ohr. Der Weg zum Bahnhof kreuzte Erichs Stammkneipe, dort traf er ein paar Freunde. Sie bestellten Bier und aßen eine Kleinigkeit. „Hast du dir das gut überlegt?“, meinte sein Freund Christian. „Sicher, außerdem habe ich jede Menge Bücher dazu gelesen“, antwortete Erich und stieß mit ihm an. Auch die anderen zeigten sich besorgt und gaben letzte Tipps. „Denk auch an dich!“ und „Lass dir nicht alles gefallen!“ Erich beruhigte sie und gab noch eine Runde aus. Er sah auf die Uhr. „Ich muss sofort los!“, schrie er und raffte seine Sachen zusammen. Die Freunde winkten einer Pferdekutsche und halfen ihm beim Aufsteigen. „Vergiss uns nicht!“, riefen sie und winkten zum Abschied. Erich bat den Kutscher ihn auf dem schnellsten Weg zum Bahnhof zu bringen. Der schwang die Peitsche und die Pferde setzten sich träge in Bewegung. Eine Straße war wegen eines Arbeiteraufstandes gesperrt und sie mussten einen Umweg machen. Erichs Puls raste, ihm brach der Schweiß aus. „Schneller!“, schrie er, aber der Kutscher lachte nur. Gelbe Zahnstumpen blitzten in seinem Gesicht. Endlich hielt er vor dem Bahnhof, Erich bezahlte und hastete hinein. Er suchte das richtige Bahngleis und in dem Moment, als er es gefunden hatte, fuhr der Zug ab. „Verdammt!“ Er sah sich Hilfe suchend um. „Wann fährt der nächste Zug in diese Richtung?“, fragte er einen automatischen Gepäckträger. „Das war der letzte - die Strecke wird noch heute stillgelegt“, sagte der Gepäckträger und lächelte ihn an. „Sehen Sie, dort hinten werden die Gleise bereits abgerissen.“ Erich schaute in die angedeutete Richtung: Schwarz gekleidete Männer schraubten Gleise auf und hievten sie in einen Wagen. Erich schluckte. „Wieviel saßen in dem Zug?“ „Zwei!“ „Zwei?“ „Ja. Es ist in letzter Sekunde noch jemand zugestiegen.“ „Aber ich war mit ihr verabredet!“, jammerte Erich. Seine Augen röteten sich. Er erwartete ein nettes Wort oder ein Schulterklopfen, aber der Gepäckträger drehte sich weg. Sein Akku war fast leer und er musste ihn dringend nachladen. Radtour Das Wetter war herrlich, vermutlich der letzte schöne Sommertag in diesem Jahr. Blauer Himmel, nicht zu heiß, Vogelgezwitscher, nicht zu laut. Ich saß zu Hause an meinem Schreibtisch, vor mir Mahnungen, Rechnungen, Bescheide. Zahlen auf Papier, die mir ätzenden Sorgenschweiß auf die Stirn trieben. Die Sonne schmiss helles Licht durch die Fensterscheiben, ich schielte sehnsuchtsvoll nach draußen. Im Hof funkelte Karl, mein Tourenrad. Eine innere Erregung packte mich, eine Mischung aus Lust und Schmerz. Meine Beine kribbelten, mein Rücken krümmte sich, mein Körper schrie nach Bewegung. Ich musste raus, sofort. Ich sprang in den Hof, schwang mich aufs Rad, stemmte mich in die Pedale. Durchs Hoftor, auf die Straße. Volle Kraft voraus. Jeder Tritt ein Genuss. Nach ein paar Hundert Metern der erste hormonelle Glücksschuss mitten ins cerebrale Lustzentrum. Ich war high, im Rausch, man musste nur treten, treten immer weiter treten, dann lief alles rund. Dann konnte man den Sorgen entfliehen. Warme Luft rauschte in meinen Ohren, Häuser flogen an mir vorbei, Menschen stürzten zur Seite. Auch Karl war in Topform, frisch geölt und geschmiert. Keine Anzeichen von Müdigkeit. Karl brauchte Kilometer wie ein Junkie seinen Stoff. Seine Speichen glitzerten in der Sonne, die Reifen schmiegten sich leichtläufig auf dem Asphalt und schnurrten wie eine Katze. Wir waren in unserem Element, nichts konnte uns bremsen. „Das tut gut, was?“ „Und wie“, antwortete Karl, „ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr. Den üblichen Weg?“ Die Strecke waren wir bereits tausendmal gefahren, wir kannten jeden Stein, jeden Grashalm. Wir fuhren am linkem Ufer des neuen Kanals, Richtung schwarzes Meer. „Irgendwann fahren wir bis zum Ende“, sagte ich. „Das sagst du jedes Mal“, meinte Karl und lachte. Schwerelos rauschten wir am Wasser entlang, am Horizont die sanften Hügel meiner Heimat. Eine Rennradfahrerin überholte uns. Das passierte selten. Wie ein Profi trat sie kraftvoll und doch elegant in die Pedale, sie und ihr Rad flogen dahin als bestünden sie aus einem ätherischen Stoff. „Da können wir nicht mithalten.“ „Ist aber nicht meine Schuld“,, meinte Karl. Ich zuckte die Schultern und Karl strengte sich noch mehr an. Eine Stunde später, im Bierkeller „Schwarzer Löwe“ trafen wir sie wieder. Wir kamen verschwitzt und erschöpft an, sie saß auf einer Bierbank und trank Wasser. Ich setzte mich einen Tisch weiter und lehnte Karl neben mich an die Bank. „Hab` ich euch vorhin nicht überholt?“, fragte sie uns. „Richtig, wir sind nicht so schnell“, Karl funkelte mit seinen Lampenaugen böse zu mir herüber. „Jeder wie er kann“, mit diesen Worten verabschiedete sie sich und schwang sich auf ihr Rad: Eine echte Bianchi, eine reinrassige Rennmaschine, Topfelgen, Wahnsinnsschaltung, irre Übersetzung. So eine war nicht so leicht zu haben. Ungeheuer anspruchsvoll, eine Edelstute unter den Rädern, die musste man jeden Tag schmieren und putzen. Die Bianchi grinste arrogant und würdigte Karl beim Abschied mit keinem Blick. „Eingebildete Rostlaube“, schimpfte Karl später, er war gekränkt, außerdem dämmerte ihn seine eigene Mittelmäßigkeit. Wir waren auf dem Rückweg, es ging zäh, Karl war demotiviert. Er hatte die ganze Zeit geschwiegen, jetzt brach es aus ihm heraus. „Olle Ithakerzicke! Weiß wahrscheinlich nicht einmal, wieviel Ritzel sie hat.“ „Es kann nicht jeder Spitze sein, finde dich damit ab. Die spielt in einer anderen Liga.“ „Die untersten Klassen sind ja schon voller Leute wie dir. Putz mich wenigstens mal wieder!“ „Die schaut dich in zehn Jahren nicht an. Geputzt oder nicht.“ „Hast du ihre eleganten Felgen gesehen? Und ihre schmale Gabel?“, Karls Ton wurde schwärmerisch. „Und ihre zarten Reifen?“, spottete ich. „Mit dem neuesten Sicherheitsventil?“ Karl schnaubte und machte seiner Gereiztheit Luft, indem er an Tempo zulegte. Ich schüttelte mich vor Lachen, Karl das ganz normale Tourenrad verguckt sich in eine Hochleistungsmaschine und schiebt einen Liebesfilm. Davon hatte ich noch nie gehört. „Gesetzt dem Fall, sie würde sich doch in dich verlieben, was wünscht du dir zur Hochzeit, ein Doppelschloss?“ „Ach, fahr´ doch zur Hölle!“, Karl legte noch mal einen Zahn zu. Im selben Moment hörte ich ein Geräusch wie beim Öffnen einer überdimensional großen Coladose. Klack, zisch! Der Weg vor uns brach einfach weg, vielmehr klappte er nach unten. Noch bevor ich bremsen oder mich vom Rad werfen konnte, fuhren wir mit einer wahnwitzigen Geschwindigkeit auf einer Rampe direkt ins Erdinnere. Die Bremsseile rissen, abspringen war zu gefährlich. Ich schrie und klammerte mich am Lenker fest. Das Tageslicht verschwand und wir rasten in völliger Dunkelheit auf ein Flammentor zu. Sekunden später rasten wir hindurch, das Feuer versengte Haut und Haare. Auf der anderen Seite führte der Weg in Serpentinen weiter in die Tiefe. Wie in einem billigen Videospiel wiesen Pfeile aus Flammen auf die nächste Kurve hin. Nur nicht vom Weg abkommen! Mit äußerster Mühe hielt ich Spur. Wir rasten durch ein Labyrinth langen Konferenztisch abstruser Erscheinungen: An einem unerhört saßen die Regierungen der Welt, verstrickt in eine unendliche Debatte über die neueste Clobrillennorm. Zehn Physiker, die sich in einem gekrümmten Raum wie in einem Hamsterrad drehten. Eine Konferenz von Philosophen, die seit Ewigkeit um den ersten Satz ihres Manifests feilschten. Eine Reihe bedeutender Männer in einem Raum, in dem es keine Bedeutung gab. Eine Fußballmannschaft, die seit Urzeiten trainierte, aber noch nie ein Tor geschossen hatte. Einen Alkoholiker, der seine Schnapsflasche nicht öffnen konnte. Einen Pfarrer, der seit Jahr und Tag in einer leeren Kirche eine Predigt hielt. Eine Gruppe von Musikern, die immer kurz vor Spielbeginn, ihre Instrumente nachstimmen mussten. „Ich muss mich bei dir entschuldigen. Das war nicht so gemeint“, schrie Karl gehetzt, er war wie ich in höchster Aufregung. „Das hättest du dir vorher überlegen müssen. Konzentrier` dich lieber!“ Um ein Haar wären wir vom Weg abgekommen, die Reifen quietschten. Zur rechten und linken Seite standen Videokabinen, in denen Männer und Frauen an Gurte fest geschnallt saßen. Vor ihren Augen liefen Videoaufzeichnung der peinlichsten Momente ihres Lebens in einer Endlosschleife. Meine schlimmsten Befürchtungen waren bestätigt: Das Auge Gottes als digitale Kamera, die gnadenlos alles mitfilmt. „Das würde ich nicht ertragen“, sagte „Hoffentlich kommen wir daran vorbei.“ ich zu Karl. Wir schafften es und der Weg führte jetzt über eine kurvenreiche Brücke. Rechts und links ahnte ich unermessliche Abgründe, ich hörte wütendes Geheul und Klagen von ganz ganz unten. Es roch nach Pest, Schwefel und Impotenz. „Hier unten liegen alle, die das Ziel aus den Augen verloren haben“, stand auf einer giftgrünen Informationstafel. „Kommen die jetzt auch schon in die Hölle?“ Mir wurde angst und bange, warum nur hatte ich mein Studium abgebrochen? „Da unten will ich auf keinen Fall landen. Pass bloß auf!“, mahnte Karl, der mich kannte. Ich stemmte mich gegen den Fahrtwind, meine Arme schmerzten, als ob sie jemand ausgerissen hatte. Randsteine bröckelten ab und fielen in die Tiefe. „Pass auf, Idiot!“, fast wären wir abgestürzt. Mit letzter Not erreichten wir das Ende der Brücke. Der Weg führte jetzt nach oben und verengte sich zu einer schmalen Rampe. Wir verloren die Bodenhaftung und flogen in einem langen und hohen Bogen durch die Luft. Ich konnte Karl nicht länger halten, er fiel von mir ab wie ein totes Insekt. Unter mir erstreckte sich eine gigantische Anlage, die Tausende von brodelnden Wasserkesseln auf zahllosen Förderbändern durch den Raum transportierte. Die Anlage war von Siemens, wie man überall werbewirksam lesen konnte. Sie transportierte die Kessel nach einem ausgeklügelten individuell System eingestellten über Feuerstellen, Temperaturen damit schön die konstant blieben. Ich flog erstaunlich lange. In den Wasserkesseln schmorten alle Verwandten, Vermieter und Versicherungsvertreter dieser Welt, worüber ebenfalls ein Hinweisschild informierte. Noch im Flug erkannte ich in einem der Kessel Klaus, meinen Freund aus alten Tagen. Er hatte doch glatt – als Einziger weit und breit – eine kleine Hexe mit im Kessel. Ich winkte und schrie nach ihm, aber er war beschäftigt. „Der alte Glückspilz!“, dachte ich noch, aber schon schob ein Förderband einen Kessel in die Position, auf die ich zuflog. Ich schlug im Wasser auf, das angenehm kühl war, und tauchte nach unten. Der Kessel war tiefer als gedacht. Das Wasser bremste die Bewegung, ich strampelte nach oben, erreichte die Oberfläche und sah einen blauen Himmel über mir. Dort malte ein Flugzeug eine lange weiße Linie. Das Wasser roch nach Öl, ein Fisch sonnte sich bäuchlings. Da wusste ich, dass ich im Kanal gelandet war. Erleichterung packte mich, ich war der Hölle entronnen und der Erde zurückgegeben. Ich atmete lange aus. Langsam schwamm ich ans Ufer und legte mich erschöpft in die Böschung. Mein Körper war mit Schürfwunden übersät, ich brannte wie Feuer. Fix und fertig schaute ich nach oben auf den Weg und rekapitulierte die Ereignisse. Karl hatte aus Verärgerung die Vorderbremsen blockiert, ich war im hohen Boden über den Lenker geflogen, der Böschung entlang geschrubbt und dann ins Wasser gestürzt. Zitternd stand ich auf und schwankte zu Karl. Er lag ein paar Meter neben dem Ufer im Staub. Hinter ihm eine lange Bremsspur. Er sah übel aus. „Du hast mich beleidigt!“, sagte er vorwurfsvoll. Da packte ich ihn am Lenker und warf ihn im hohen Bogen ins Wasser. Ich machte mich auf den Heimweg. Dort wollte ich ein Bad nehmen und später ein neues Rad kaufen. Aber welches? Eine Bianchi? Schaut gut aus, ist aber arrogant und teuer. Alle hatten ihre Macken. Ein Freund von mir hat ein anthropomistisches Rad erwischt, eins, das ihn ständig sexuell belästigt. Auch kein Spaß. Bei genauer Betrachtung hatte sich Karl auf dem Höllenparcour gar nicht schlecht angestellt. Die Bianchi hätte sich bestimmt ihren Wildledersattel voll geschissen. Außerdem brauchte ich einen zuverlässigen Begleiter für die Tour ans Schwarze Meer. Ich drehte um und fischte Karl aus dem Kanal. Er schüttelte sich und ließ – vorwurfsvoll langsam - Wasser aus den Schutzblechen laufen. „Ok, wir sind quitt!“, sagte ich. „Meinetwegen, aber wenn ich Rost ansetze, bist du schuld.“ Ich überlegte kurz, ihm eine einzuschenken, ließ es aber bleiben, ich wollte jetzt einfach nach Hause.
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