Zwischen Rausch, Liebe und täglichem Wahnsinn

Zwischen Rausch,
Liebe und
täglichem Wahnsinn
Kurzgeschichten
Inhalt (im Orginal)
Suche Frau....................................................................7
Table Dance.................................................................15
Brünnlitz.....................................................................21
Berliner Hochzeit..........................................................25
Radtour.......................................................................31
Verkehrskontrolle.........................................................41
Bernds Gesetze............................................................45
Blauer Affe.................................................................. 49
Betriebsfeier................................................................55
Klassensieg..................................................................61
Drei Cent ....................................................................65
Sektempfang............................................................... 69
Abfahrt....................................................................... 75
Sahara........................................................................81
Silvesterabend.............................................................91
Schön ists in der Rhön.................................................. 97
Über mich..................................................................105
Über Karsten..............................................................107
Table Dance
Für diesen Abend hatten wir, Freund Klaus und ich,
monatelang
gespart.
Wir
wollten
mal
wieder
richtig
hemmungslos sein. Pünktlich fuhren wir los, verirrten uns
aber vor lauter Aufregung und fanden den richtigen Weg erst
nach ein paar Stunden Fahrt im Kreis.
Endlich
kamen
wir
zu
dem
im
Neonlicht
strahlenden
Backsteingebäude und wurden auf einem roten Teppich zur
Abendkasse geführt. Wir legten dem Türsteher einen Zentner
Kartoffeln auf den Tisch, er wog ihn ab, nickte zufrieden und
führte uns zur Garderobe.
„Bitte ihren Verstand!“, sagte die Garderobendame und
schnalzte mit den Fingern.
„Wie bitte?“, fragte ich verunsichert. „Den Verstand? Muss
das wirklich sein?“
„Aber natürlich! Außerdem ist es auch in ihrem Interesse.“
„Und Verwechslungen sind ausgeschlossen?“
„Dafür gibt es Marken!“ Ihre Finger schnalzten abermals, ihr
Blick
verhärtete
sich.
Hinter
uns
drängelten
weitere
Besucher.
„Von mir aus!“, sagte ich und gab ihr das Verlangte.
Eine Tonnenlast fiel von meinem Herzen. Sie reichte mir eine
kupferne Marke und einen Minimalverstand. „Die Marke
dürfen Sie auf keinen Fall verlieren!“, betonte sie streng. Ich
nickte ergeben. Gut gelaunt schritten wir in den Festsaal.
Unterwegs steckten wir ein paar Orangen und Bananen ein,
die in einem Korb bereitstanden.
Auf einer großen Bühne in der Mitte des Saales standen
tropisch aussehende Bäume an deren Lianen nackte Männer
und Frauen akrobatisch turnten. Das Publikum rings herum
kreischte vor Begeisterung. Nach besonders tollkühnen
Kunststückchen fütterten sie die Darsteller mit Obst.
„Fängt gut an“, meinte Klaus. Ich nickte.
Wir suchten uns einen freien Platz und verfolgten gespannt
die nächste Szene: Ein muskulöser Tarzan sollte unter der
Anleitung
eines
Dompteurs
eine
schwarzhäutige
Jane
verführen. Uns lief das Wasser im Mund zusammen. Tarzan
steckte eine Banane in seinen Mund und Jane arbeitete sich
essend vom gegenüberliegenden Ende an seinen Mund
heran. Sie küssten und streichelten sich zärtlich. Der
Dompteur knallte die Peitsche, die Hände rutschten tiefer, es
ging zur Sache. Sträucher strauchelten, Bäume baumelten.
Wir mittendrin bebten und pfiffen und schrien hirnlos mit.
Nach dieser Vorstellung gab es eine Pause, wir hatten
Gelegenheit den anwesenden Frauen kleine Grußkärtchen
zukommen zu lassen.
„Mir fällt nichts ein“, jammerte ich. Mein Freund hatte in
Windeseile schon gut hundert Kärtchen bearbeitet und wollte
sie gerade los schicken.
„Was hast du geschrieben?“, fragte ich ihn neidisch und
schielte auf seine Kärtchen. Sie waren voller obszöner
Strichmännchenzeichnungen.
„Glaubst du, das kommt an?“, wollte ich wissen, aber er
hörte mir gar nicht zu und winkte einem Postboten. Der
rollte auf einem gelben Einrad zu uns, frankierte jede Karte
und verabschiedete sich hupend. Der Postbote verteilte die
Karten an die Frauen, aber keine wollte sie lesen. Nur eine
überflog die Karte, kicherte kurz und warf sie achtlos zu
Boden. Dort lagen tausend andere.
„Nimm´s dir nicht zu Herzen“, tröstete ich meinen Freund, er
war den Tränen nahe.
Zum Glück forderte der Veranstalter zum Tanz auf und wir
stürzten uns - mit allen Gliedern zappelnd - in die Menge.
Wir stampften und johlten zum Takt der ohrenbetäubenden
Musik. Mein Freund hatte seinen Schmerz vergessen und wir
konzentrierten uns wieder auf unser eigentliches Ziel:
Hemmungslos zu sein.
Skrupellos gierten wir die Frauen an und näherten uns ihnen
tanzend. Aber sobald wir uns an eine heran gearbeitet
hatten, entdeckten wir auch prompt einen Makel: eine blasse
Hautstelle, eine überflüssige Falte oder ein unpassendes
Härchen. Enttäuscht wandten wir uns ab und suchten nach
der nächsten Schönheit. Und weil es den Frauen genauso
ging, drifteten alle unerfüllt von einem zum anderen und
niemand kam irgendwo zum Zug.
In dem Moment, als wir diese Dummheit kapierten, ertönte
schrill der Schlusspfiff. Die Musik brach schlagartig ab und
aufgeblendete Lichter brannten scharfkantig in unseren
Augen. Mit Hilfe von ein paar tausend Watt und einem
Lautsprecher wurden wir aufgefordert, unverzüglich den Saal
zu verlassen.
„Nur noch fünf Minuten!“, bettelten wir, das Ziel unmittelbar
vor Augen. Aber eine vollautomatische Putzkolonne, die aus
dem
Nirgendwo
auftauchte,
pferchte
uns
mit
Schaufelbaggern zusammen und schob uns langsam, aber
sicher zum Ausgang.
„Sauerei, gemeine, ist das!“, entrüsteten sich einige. Aber
sie verstummten, als die Männer vom Aufräumkommando
ihre Holzknüppel schwangen.
Erschöpft kamen wir am Ausgang an und tauschten unsere
Marken ein. Im Freien holten wir tief Luft.
„Es war gut, sich mal wieder richtig auszutoben. Aber ich bin
froh, meinen Verstand wieder zu haben“, sagte Klaus auf
dem Heimweg. Aber ich war zu beschäftigt für eine Antwort,
ich hatte ein paar Grußkarten eingesteckt und beschrieb sie
im Laufen mit kurzen Reimen.
Klaus blieb stehen und sah mich an.
„Sag mal“, sagte er und stieß mich in die Seite, “kann es
sein, dass die unseren Verstand verwechselt haben?“
Erschreckt drehten wir um und hasteten zurück. Aber wir
fanden
weder
das
Gebäude
noch
unser
Auto.
Die
Garderobendame hatte vorsichtshalber diese Erinnerung
löschen lassen.
Abfahrt
Der Zug sollte kurz vor zwölf losfahren - ganz genau wusste
es Erich aber nicht. Die Reise war von langer Hand geplant,
hatte sich aber immer wieder verzögert. Da verlor SIE die
Geduld und Erich sagte endlich zu. Sie verabredeten sich für
den nächsten Tag auf dem Bahnsteig ihrer Stadt.
Tagelang zuvor hatte Erich Bücher zu dem Thema gewälzt:
Bei langen Reisen wird die Geduld auf eine harte Probe
gestellt, es kommt zu Konflikten und Streit. Betont wurde,
dass man nie alleine verreisen soll und am Abreisetag
rechtzeitig aus dem Haus gehen muss.
Also packte Erich früh am Morgen seine Habseligkeiten in ein
kleines Köfferchen: Seinen Kühlschrank, seine Bücher und
den Rasierpinsel. Die Reisegenehmigung vom Ordnungsamt
lag bereit, ihm wurde bestätigt, dass er reisetüchtig, wenig
ansteckend und im Großen und Ganzen zumutbar ist.
Stolz zeigte er sie seiner Nachbarin und überreichte ihr
seinen Wohnungsschlüssel. In seiner Wohnung konnte sie
sich notfalls vor ihrem prügelnden Ehemann verstecken.
„Gute Fahrt! Es ist nicht immer leicht! Man weiß nie, wie es
ausgeht“, sagte sie und zeigte auf ihre blauen Flecken. Sie
fiel ihm um den Hals und gab ihm einen schmatzenden
Abschiedskuss. Erich ging die Treppe nach unten und
stolperte beinahe über den Hausmeister. Er machte ein
Nickerchen auf dem Fußabstreifer vor der Haustür. Vorsichtig
weckte Erich ihn.
„Was sie gehen?“, entrüstete er sich, „haben sie ihre offenen
Rechnungen beglichen? Und ihr Mietverhältnis ordentlich
gekündigt?“
„Alles erledigt“, antwortete Erich und wedelte mit dem Brief
vom Ordnungsamt.
„Na dann, bin ich beruhigt, eine gute Reise!“ Erleichtert
sperrte er die Türe auf. Er klopfte auf Erichs Schultern und
sagte: „Wird schon werden, alter Junge! Haben schon ganz
andere geschafft.“
Auf dem Weg zum Bahnhof kaufte Erich noch einen
Reiseanzug sowie Reiseschuhe und Reiseunterwäsche. Die
Verkäuferin riet zu verschiedenen Farben.
„Damit sie ein bisschen Abwechslung haben - und die kann
nie schaden“, flüsterte sie ihm süffisant ins Ohr.
Der Weg zum Bahnhof kreuzte Erichs Stammkneipe, dort traf
er ein paar Freunde. Sie bestellten Bier und aßen eine
Kleinigkeit.
„Hast du dir das gut überlegt?“, meinte sein Freund
Christian.
„Sicher, außerdem habe ich jede Menge Bücher dazu
gelesen“, antwortete Erich und stieß mit ihm an.
Auch die anderen zeigten sich besorgt und gaben letzte
Tipps.
„Denk auch an dich!“ und „Lass dir nicht alles gefallen!“
Erich beruhigte sie und gab noch eine Runde aus. Er sah auf
die Uhr.
„Ich muss sofort los!“, schrie er und raffte seine Sachen
zusammen.
Die Freunde winkten einer Pferdekutsche und halfen ihm
beim Aufsteigen.
„Vergiss uns nicht!“, riefen sie und winkten zum Abschied.
Erich bat den Kutscher ihn auf dem schnellsten Weg zum
Bahnhof zu bringen. Der schwang die Peitsche und die
Pferde setzten sich träge in Bewegung. Eine Straße war
wegen eines Arbeiteraufstandes gesperrt und sie mussten
einen Umweg machen. Erichs Puls raste, ihm brach der
Schweiß aus.
„Schneller!“, schrie er, aber der Kutscher lachte nur. Gelbe
Zahnstumpen blitzten in seinem Gesicht.
Endlich hielt er vor dem Bahnhof, Erich bezahlte und hastete
hinein. Er suchte das richtige Bahngleis und in dem Moment,
als er es gefunden hatte, fuhr der Zug ab.
„Verdammt!“ Er sah sich Hilfe suchend um.
„Wann fährt der nächste Zug in diese Richtung?“, fragte er
einen automatischen Gepäckträger.
„Das war der letzte - die Strecke wird noch heute stillgelegt“,
sagte der Gepäckträger und lächelte ihn an. „Sehen Sie, dort
hinten werden die Gleise bereits abgerissen.“
Erich
schaute
in
die
angedeutete
Richtung:
Schwarz
gekleidete Männer schraubten Gleise auf und hievten sie in
einen Wagen. Erich schluckte.
„Wieviel saßen in dem Zug?“
„Zwei!“
„Zwei?“
„Ja. Es ist in letzter Sekunde noch jemand zugestiegen.“
„Aber ich war mit ihr verabredet!“, jammerte Erich. Seine
Augen röteten sich. Er erwartete ein nettes Wort oder ein
Schulterklopfen, aber der Gepäckträger drehte sich weg.
Sein Akku war fast leer und er musste ihn dringend
nachladen.
Radtour
Das Wetter war herrlich, vermutlich der letzte schöne
Sommertag in diesem Jahr. Blauer Himmel, nicht zu heiß,
Vogelgezwitscher, nicht zu laut. Ich saß zu Hause an
meinem Schreibtisch, vor mir Mahnungen, Rechnungen,
Bescheide.
Zahlen
auf
Papier,
die
mir
ätzenden
Sorgenschweiß auf die Stirn trieben.
Die Sonne schmiss helles Licht durch die Fensterscheiben,
ich schielte sehnsuchtsvoll nach draußen. Im Hof funkelte
Karl, mein Tourenrad. Eine innere Erregung packte mich,
eine
Mischung
aus
Lust
und
Schmerz.
Meine
Beine
kribbelten, mein Rücken krümmte sich, mein Körper schrie
nach Bewegung. Ich musste raus, sofort.
Ich sprang in den Hof, schwang mich aufs Rad, stemmte
mich in die Pedale. Durchs Hoftor, auf die Straße. Volle Kraft
voraus. Jeder Tritt ein Genuss. Nach ein paar Hundert
Metern
der
erste
hormonelle
Glücksschuss
mitten
ins
cerebrale Lustzentrum. Ich war high, im Rausch, man
musste nur treten, treten immer weiter treten, dann lief alles
rund. Dann konnte man den Sorgen entfliehen. Warme Luft
rauschte in meinen Ohren, Häuser flogen an mir vorbei,
Menschen stürzten zur Seite. Auch Karl war in Topform,
frisch geölt und geschmiert. Keine Anzeichen von Müdigkeit.
Karl brauchte Kilometer wie ein Junkie seinen Stoff. Seine
Speichen glitzerten in der Sonne, die Reifen schmiegten sich
leichtläufig auf dem Asphalt und schnurrten wie eine Katze.
Wir waren in unserem Element, nichts konnte uns bremsen.
„Das tut gut, was?“
„Und wie“, antwortete Karl, „ich dachte schon, du kommst
gar nicht mehr. Den üblichen Weg?“
Die Strecke waren wir bereits tausendmal gefahren, wir
kannten jeden Stein, jeden Grashalm. Wir fuhren am linkem
Ufer des neuen Kanals, Richtung schwarzes Meer.
„Irgendwann fahren wir bis zum Ende“, sagte ich.
„Das sagst du jedes Mal“, meinte Karl und lachte.
Schwerelos rauschten wir am Wasser entlang, am Horizont
die sanften Hügel meiner Heimat. Eine Rennradfahrerin
überholte uns. Das passierte selten. Wie ein Profi trat sie
kraftvoll und doch elegant in die Pedale, sie und ihr Rad
flogen dahin als bestünden sie aus einem ätherischen Stoff.
„Da können wir nicht mithalten.“
„Ist aber nicht meine Schuld“,, meinte Karl. Ich zuckte die
Schultern und Karl strengte sich noch mehr an.
Eine Stunde später, im Bierkeller „Schwarzer Löwe“ trafen
wir sie wieder. Wir kamen verschwitzt und erschöpft an, sie
saß auf einer Bierbank und trank Wasser. Ich setzte mich
einen Tisch weiter und lehnte Karl neben mich an die Bank.
„Hab` ich euch vorhin nicht überholt?“, fragte sie uns.
„Richtig, wir sind nicht so schnell“, Karl funkelte mit seinen
Lampenaugen böse zu mir herüber.
„Jeder wie er kann“, mit diesen Worten verabschiedete sie
sich und schwang sich auf ihr Rad: Eine echte Bianchi, eine
reinrassige Rennmaschine, Topfelgen, Wahnsinnsschaltung,
irre Übersetzung. So eine war nicht so leicht zu haben.
Ungeheuer anspruchsvoll, eine Edelstute unter den Rädern,
die musste man jeden Tag schmieren und putzen. Die
Bianchi grinste arrogant und würdigte Karl beim Abschied
mit keinem Blick.
„Eingebildete Rostlaube“, schimpfte Karl später, er war
gekränkt,
außerdem
dämmerte
ihn
seine
eigene
Mittelmäßigkeit. Wir waren auf dem Rückweg, es ging zäh,
Karl war demotiviert. Er hatte die ganze Zeit geschwiegen,
jetzt brach es aus ihm heraus.
„Olle Ithakerzicke! Weiß wahrscheinlich nicht einmal, wieviel
Ritzel sie hat.“
„Es kann nicht jeder Spitze sein, finde dich damit ab. Die
spielt in einer anderen Liga.“
„Die untersten Klassen sind ja schon voller Leute wie dir.
Putz mich wenigstens mal wieder!“
„Die schaut dich in zehn Jahren nicht an. Geputzt oder
nicht.“
„Hast du ihre eleganten Felgen gesehen? Und ihre schmale
Gabel?“, Karls Ton wurde schwärmerisch.
„Und ihre zarten Reifen?“, spottete ich. „Mit dem neuesten
Sicherheitsventil?“
Karl schnaubte und machte seiner Gereiztheit Luft, indem er
an Tempo zulegte. Ich schüttelte mich vor Lachen, Karl das
ganz
normale
Tourenrad
verguckt
sich
in
eine
Hochleistungsmaschine und schiebt einen Liebesfilm. Davon
hatte ich noch nie gehört.
„Gesetzt dem Fall, sie würde sich doch in dich verlieben, was
wünscht du dir zur Hochzeit, ein Doppelschloss?“
„Ach, fahr´ doch zur Hölle!“, Karl legte noch mal einen Zahn
zu.
Im selben Moment hörte ich ein Geräusch wie beim Öffnen
einer überdimensional großen Coladose. Klack, zisch! Der
Weg vor uns brach einfach weg, vielmehr klappte er nach
unten. Noch bevor ich bremsen oder mich vom Rad werfen
konnte, fuhren wir mit einer wahnwitzigen Geschwindigkeit
auf einer Rampe direkt ins Erdinnere. Die Bremsseile rissen,
abspringen war zu gefährlich. Ich schrie und klammerte mich
am Lenker fest. Das Tageslicht verschwand und wir rasten in
völliger Dunkelheit auf ein Flammentor zu. Sekunden später
rasten wir hindurch, das Feuer versengte Haut und Haare.
Auf der anderen Seite führte der Weg in Serpentinen weiter
in die Tiefe. Wie in einem billigen Videospiel wiesen Pfeile
aus Flammen auf die nächste Kurve hin.
Nur nicht vom Weg abkommen! Mit äußerster Mühe hielt ich
Spur.
Wir
rasten
durch
ein
Labyrinth
langen
Konferenztisch
abstruser
Erscheinungen:
An
einem
unerhört
saßen
die
Regierungen der Welt, verstrickt in eine unendliche Debatte
über die neueste Clobrillennorm. Zehn Physiker, die sich in
einem gekrümmten Raum wie in einem Hamsterrad drehten.
Eine Konferenz von Philosophen, die seit Ewigkeit um den
ersten
Satz
ihres
Manifests
feilschten.
Eine
Reihe
bedeutender Männer in einem Raum, in dem es keine
Bedeutung gab. Eine Fußballmannschaft, die seit Urzeiten
trainierte, aber noch nie ein Tor geschossen hatte. Einen
Alkoholiker, der seine Schnapsflasche nicht öffnen konnte.
Einen Pfarrer, der seit Jahr und Tag in einer leeren Kirche
eine Predigt hielt. Eine Gruppe von Musikern, die immer kurz
vor Spielbeginn, ihre Instrumente nachstimmen mussten.
„Ich muss mich bei dir entschuldigen. Das war nicht so
gemeint“, schrie Karl gehetzt, er war wie ich in höchster
Aufregung.
„Das hättest du dir vorher überlegen müssen. Konzentrier`
dich lieber!“
Um ein Haar wären wir vom Weg abgekommen, die Reifen
quietschten.
Zur
rechten
und
linken
Seite
standen
Videokabinen, in denen Männer und Frauen an Gurte fest
geschnallt saßen. Vor ihren Augen liefen Videoaufzeichnung
der
peinlichsten
Momente
ihres
Lebens
in
einer
Endlosschleife. Meine schlimmsten Befürchtungen waren
bestätigt:
Das
Auge
Gottes
als
digitale
Kamera,
die
gnadenlos alles mitfilmt.
„Das
würde
ich
nicht
ertragen“,
sagte
„Hoffentlich kommen wir daran vorbei.“
ich
zu
Karl.
Wir schafften es und der Weg führte jetzt über eine
kurvenreiche
Brücke.
Rechts
und
links
ahnte
ich
unermessliche Abgründe, ich hörte wütendes Geheul und
Klagen von ganz ganz unten. Es roch nach Pest, Schwefel
und Impotenz.
„Hier unten liegen alle, die das Ziel aus den Augen verloren
haben“, stand auf einer giftgrünen Informationstafel.
„Kommen die jetzt auch schon in die Hölle?“ Mir wurde angst
und
bange,
warum
nur
hatte
ich
mein
Studium
abgebrochen?
„Da unten will ich auf keinen Fall landen. Pass bloß auf!“,
mahnte Karl, der mich kannte.
Ich stemmte mich gegen den Fahrtwind, meine Arme
schmerzten, als ob sie jemand ausgerissen hatte. Randsteine
bröckelten ab und fielen in die Tiefe.
„Pass auf, Idiot!“, fast wären wir abgestürzt.
Mit letzter Not erreichten wir das Ende der Brücke. Der Weg
führte jetzt nach oben und verengte sich zu einer schmalen
Rampe. Wir verloren die Bodenhaftung und flogen in einem
langen und hohen Bogen durch die Luft. Ich konnte Karl
nicht länger halten, er fiel von mir ab wie ein totes Insekt.
Unter mir erstreckte sich eine gigantische Anlage, die
Tausende
von
brodelnden
Wasserkesseln
auf
zahllosen
Förderbändern durch den Raum transportierte. Die Anlage
war von Siemens, wie man überall werbewirksam lesen
konnte.
Sie
transportierte
die
Kessel
nach
einem
ausgeklügelten
individuell
System
eingestellten
über
Feuerstellen,
Temperaturen
damit
schön
die
konstant
blieben. Ich flog erstaunlich lange.
In den Wasserkesseln schmorten alle Verwandten, Vermieter
und Versicherungsvertreter dieser Welt, worüber ebenfalls
ein Hinweisschild informierte. Noch im Flug erkannte ich in
einem der Kessel Klaus, meinen Freund aus alten Tagen. Er
hatte doch glatt – als Einziger weit und breit – eine kleine
Hexe mit im Kessel. Ich winkte und schrie nach ihm, aber er
war beschäftigt.
„Der alte Glückspilz!“, dachte ich noch, aber schon schob ein
Förderband einen Kessel in die Position, auf die ich zuflog.
Ich schlug im Wasser auf, das angenehm kühl war, und
tauchte nach unten. Der Kessel war tiefer als gedacht. Das
Wasser bremste die Bewegung, ich strampelte nach oben,
erreichte die Oberfläche und sah einen blauen Himmel über
mir. Dort malte ein Flugzeug eine lange weiße Linie. Das
Wasser roch nach Öl, ein Fisch sonnte sich bäuchlings.
Da wusste ich, dass ich im Kanal gelandet war. Erleichterung
packte mich, ich war der Hölle entronnen und der Erde
zurückgegeben. Ich atmete lange aus.
Langsam schwamm ich ans Ufer und legte mich erschöpft in
die Böschung. Mein Körper war mit Schürfwunden übersät,
ich brannte wie Feuer.
Fix und fertig schaute ich nach oben auf den Weg und
rekapitulierte die Ereignisse. Karl hatte aus Verärgerung die
Vorderbremsen blockiert, ich war im hohen Boden über den
Lenker geflogen, der Böschung entlang geschrubbt und dann
ins Wasser gestürzt. Zitternd stand ich auf und schwankte zu
Karl.
Er lag ein paar Meter neben dem Ufer im Staub. Hinter ihm
eine lange Bremsspur. Er sah übel aus.
„Du hast mich beleidigt!“, sagte er vorwurfsvoll. Da packte
ich ihn am Lenker und warf ihn im hohen Bogen ins Wasser.
Ich machte mich auf den Heimweg. Dort wollte ich ein Bad
nehmen und später ein neues Rad kaufen. Aber welches?
Eine Bianchi? Schaut gut aus, ist aber arrogant und teuer.
Alle hatten ihre Macken. Ein Freund von mir hat ein
anthropomistisches Rad erwischt, eins, das ihn ständig
sexuell belästigt. Auch kein Spaß. Bei genauer Betrachtung
hatte sich Karl auf dem Höllenparcour gar nicht schlecht
angestellt.
Die
Bianchi
hätte
sich
bestimmt
ihren
Wildledersattel voll geschissen. Außerdem brauchte ich einen
zuverlässigen Begleiter für die Tour ans Schwarze Meer.
Ich drehte um und fischte Karl aus dem Kanal. Er schüttelte
sich und ließ – vorwurfsvoll langsam - Wasser aus den
Schutzblechen laufen.
„Ok, wir sind quitt!“, sagte ich.
„Meinetwegen, aber wenn ich Rost ansetze, bist du schuld.“
Ich überlegte kurz, ihm eine einzuschenken, ließ es aber
bleiben, ich wollte jetzt einfach nach Hause.