Gesundheitssysteme und Sportorganisationen im gleichen Boot

EDITORIAL
Hartmann H
Gesundheitssysteme und Sportorganisationen
im gleichen Boot beim Kampf gegen die
gefährliche Zeitbombe Bewegungsmangel
Health Systems and Sports Organisations in the Same Boat
in the Fight Against the Dangerous Time Bomb Lack of Exercise
I
mmer wieder werden wir mit erschreckenden Fakten konfrontiert, welche verheerenden
Folgen körperliche Inaktivität hinterlässt. Bewegungsmangel kostet jährlich 500 000 Europäern
das Leben.
Durch Bewegungsmangel entstehen in Europa
jährlich wirtschaftliche Kosten von über 80 Milliarden Euro! Im Hinblick auf Deutschland waren 2012
ca. 65 000 Todesfälle durch körperliche Inaktivität
zu verzeichnen sowie ca. 9,4 Mill. direkte und indirekte Gesundheitskosten (3).
Auf der anderen Seite ist in zahlreichen Studien
die Bedeutung ausreichender körperlicher Bewegung als unverzichtbare Ressource für die Erhaltung
und auch Wiedergewinnung von Gesundheit nachgewiesen worden. Beunruhigen muss daher die Tatsache, dass das Bewegungsniveau weltweit nicht den
gesundheitlichen Erfordernissen entspricht, dass
dieses Niveau trotz aller Bemühungen der letzten
Jahre eher rückläufig ist. Die von der WHO für einen
gesundheitlichen Nutzen empfohlene Mindestaktivität von 2,5 h pro Woche mit mäßig anstrengender
Intensität wird in Deutschland nur von gut einem
Fünftel der Bevölkerung erreicht (7).
Der Kampf gegen Bewegungsmangel
erfordert sektorenübergreifendes Handeln
Vor diesem Hintergrund ist es erklärlich, dass die
Förderung von Bewegungsaktivität auf der gesundheits- und auch sozialpolitischen Agenda international und national einen deutlich höheren Stellenwert bekommen hat. Auf der Europäischen Ebene
sind vor allem die „EU-Leitlinien für körperliche
Aktivität. Empfohlene politische Maßnahmen zur
Unterstützung gesundheitsfördernder körperlicher
Betätigung“ (3) und die „Council recommendation
on promoting health-enhancing physical activity
across sectors“ (5) von ausschlaggebender Bedeutung. Handlungsleitend für Deutschland ist in dieser Hinsicht vor allem der nationale Aktionsplan „In
Form – Deutschlands Initiative für gesunde Ernährung und Bewegung“ (4).
In den Bemühungen um eine gesundheitsorientierte Bewegungsförderung durch die verschiedensten gesellschaftlichen Bereiche (u.a. Bildungssystem,
Gesundheitswesen, Sportsystem, Arbeitsumfeld) ist
die Erkenntnis gewachsen, dass eine wirksame Umsetzung einer solchen Förderung einer sektorenübergreifenden Vorgehensweise bedarf. Eine solche wird
in den oben genannten Leitlinien und Empfehlungen
ACCEPTED: January 2016
PUBLISHED ONLINE: March 2016
DOI: 10.5960/dzsm.2016.216
Hartmann H. Gesundheitssysteme und
Sportorganisationen im gleichen Boot beim
Kampf gegen die gefährliche Zeitbombe
Bewegungsmangel. Dtsch Z Sportmed. 2016;
67: 51-52.
auch deutlich eingefordert. Dabei wird immer wieder
die zentrale Rolle des Gesundheitswesens und des
Sports herausgestellt.
Die Partnerschaft zwischen Gesundheitssystem und Sport ist unterentwickelt
Eine enge Kooperation dieser beiden Bereiche ist
jedoch noch weitgehend defizitär. Gründe dafür
scheinen in z. T. unterschiedlichen Zielvorstellungen,
Normen und auch Vorurteilen zu liegen. Vor allem
im medizinischen Gesundheitswesen dominiert die
Therapie von Krankheiten, während der Prävention
und der Beratung zu einer gesundheitsförderlichen
Lebensweise durch Bewegung wenig Raum gegeben wird. Das Medizinsystem verfolgt qualitätsgesicherte, evidenzbasierte Interventionen, die man
dem Sportsektor so nicht zutraut, nicht zuletzt weil
die benötigten Übungsleiter dafür nicht hinreichend
qualifiziert seien.
Es ist sicherlich nicht von der Hand zu weisen,
dass das Sportsystem insgesamt über weite Strecken
noch dem Wettkampfsport und seinen organisatorischen Strukturen verpflichtet ist. Allerdings hat
sich vor allem seit den 80er Jahren eine Sportszene
entwickelt, in der das Gesundheits- und Fitnessmotiv im Vordergrund steht. In Deutschland hat
sich dabei seit Mitte der 90er Jahre ein besonderer
Sektor als „Gesundheitssport“ herausgebildet, dem
ein ganzheitliches, salutogenetisches Gesundheitsverständnis zugrunde liegt, wie es von der WHO in
der „Charta der 1. Internationalen Konferenz zur
Gesundheitsförderung, Ottowa, 1986“ dargelegt
wurde und aus dem Qualitätskriterien für Gesundheitssportangebote abgeleitet wurden (1).
Prof. Dr. em. Herbert Hartmann
ehem. Vize-Präsident,
Inter­national Sport and
Culture Association (ISCA)
Qualitätsmanagement im Gesundheitssport
öffnet die Tür zu besserer Zusammenarbeit
Der Deutsche Turner-Bund (DTB) ist Protagonist
eines speziellen, sich dynamisch entwickelnden
Gesundheitssportsektors gewesen. Er hat als erster
Sportverband – zusammen mit Experten aus den
Sport- und Gesundheitswissenschaften – entsprechende Übungsprogramme entwickelt, Übungsleiter
speziell für die Durchführung solcher Programme
ausgebildet und mit dem „Pluspunkt Gesundheit.
DTB“ ein Qualitätssiegel für Gesundheitssportprogramme geschaffen. Einige Jahre später, im Jahr
2000, hat dann der Deutsche Sportbund auf der
Grundlage der gleichen Qualitätskriterien das Dachsiegel „Sport Pro Gesundheit“ entwickelt, mit
DEUTSCHE ZEITSCHRIFT FÜR SPORTMEDIZIN 67. Jahrgang 3/2016
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Berliner Ring 99
64625 Bensheim
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dem inzwischen mehrere Tausend Gesundheitssportangebote
ausgezeichnet sind. Es steht eine Datenbank zur Verfügung, in
der alle in der Bundesrepublik derzeit anerkannten Angebote
wohnortnah eingesehen werden können (www.sportprogesundheit.de/de/sport-und-gesundheit/bewegungsangebote-inihrer-naehe).
Mit der Anerkennung durch die Bundesärztekammer haben
die Gesundheitssport-Qualitätssiegel eine bedeutende Aufwertung erfahren. Auch durch die im Rahmen des „Gesundheitsreformgesetzes 2000 der gesetzlichen Krankenversicherungen,
§20 des Sozialgesetzbuches V“ geschaffene Möglichkeit einer
finanziellen Unterstützung von Teilnehmern an zertifizierten
Gesundheitssport-Kursen, haben die Vereinsangebote eine qualitative Aufwertung erfahren.
Um der Skepsis des Gesundheitssystems bezüglich mangeln­
der Qualität von präventiven Gesundheitsangeboten weiterreichend zu begegnen, hat der Deutsche Turner-Bund auf der
Grundlage eines Forschungsprojektes zur Analyse des Gesundheitssports in den DTB-Vereinen im Jahre 2002 ein eigenes,
mehrdimensionales Qualitätsmanagement-Konzept entwickelt, das vor allem die Entwicklung von qualitätsgesicherten
Übungsprogrammen, die spezielle Aus- und Weiterbildung von
Übungsleitern für den Gesundheitssport sowie den Ausbau und
die Optimierung der Arbeits- und Kommunikationsstrukturen
zum Ziel hat (6). Die Qualitätsentwicklung im Gesundheitssport
des DTB wird unterstützt von einem Wissenschaftlichen Beirat.
Einen weiteren wichtigen Schritt im Hinblick auf Qualitätssicherung hat der DTB mit der Entwicklung von evidenzbasierten, evaluierten Programmen gemacht. Inzwischen liegen
10 solcher, einem wissenschaftlichen Evaluationsverfahren
unterzogene Programme vor, in die Übungsleiter in besonderen Schulungen eingewiesen werden. „Fit & Gesund“, „Cardio-­
Aktiv“, „Walking/Nordic Walking“, „Appetit auf Bewegung“,
„Rückentraining“ oder „Standfest und Stabil“ seien exemplarisch genannt.
Kampf gegen Bewegungsmangel
Auf dem Weg zu engerer Kooperation
Die Beispiele aus der Gesundheitssportentwicklung des Deutschen Turner-Bundes mögen zeigen, dass der organisierte
Sport heute durchaus in der Lage ist, wesentliche Qualitätsanforderungen zu erfüllen, wie sie vom Gesundheitssystem erwartet werden. Damit ist auch für ein Zusammenrücken von
Gesundheits- und Sportsystem eine bessere Basis geschaffen
worden, mit dem Ziel sektorenübergreifender Vorgehensweisen
bei der gesundheitsorientierten Bewegungsförderung. Das in
Zusammenarbeit zwischen DOSB, Bundesärztekammer und
der Deutschen Gesellschaft für Sportmedizin und Prävention
(DGSP e. V.) geschaffene „Rezept für Bewegung“ ist dabei ebenso
ein Beleg, wie die deutlich intensivierte Zusammenarbeit mit
der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und nicht
zuletzt das neue Präventionsgesetz, das dem Sport eine signifikante Position bei der Prävention von Bewegungsmangel
einräumt.
Was sich auf der politischen Ebene durchaus vielversprechend entwickelt hat, zeigt in der Praxis vor Ort jedoch noch
erhebliche Schwächen. Hier funktioniert die Zusammenarbeit
zwischen Ärzteschaft und Sportvereinen noch keineswegs zufriedenstellend. Einerseits sind Ärzte noch sehr zurückhaltend,
zuweilen mangelt es auch an Beratungskompetenz für gezielte
präventive Bewegungsangebote; das „Rezept für Bewegung“
wird noch relativ wenig ausgestellt, zumal es nicht in Rechnung gestellt werden kann. Ebenso fehlt vielen Ärzten vor Ort
das Wissen über das Gesundheitssport-Angebot der Vereine.
Es gibt kaum persönliche oder organisierte Kontakte zwischen
Ärzteschaft und lokalem Sport. Andererseits gehen auch von den
Sportvereinen wenig Initiativen aus, mit der Ärzteschaft in Kontakt zu treten, z. B. indem sie ihre Gesundheitssportangebote
den Ärzten erläutern und ein Informationsblatt in den Praxen
auslegen. Gerade vor Ort ist für eine Kooperation zwischen Gesundheits- und Sportsystem noch viel Luft nach oben.
Literatur
(1) BREHM W, BÖS K, OPPER E, SAAM J. Gesundheitssportprogramme in
Deutschland. Analysen und Hilfen zum Qualitätsmanagement
für Sportverbände, Sportvereine und andere Anbieter von
Gesundheitssport. Schorndorf: Karl Hofmann; 2002.
(2) BUNDESMINISTERIUM FÜR ERNÄHRUNG, LANDWIRTSCHAFT UND
VERBRAUCHERSCHUTZ, BUNDESMINISTERIUM FÜR GESUNDHEIT. In
Form - Deutschlands Initiative für gesunde Ernährung und
mehr Bewegung - Der nationale Aktionsplan zur Prävention von
Fehlernährung, Bewegungsmangel, Übergewicht und damit
zusammenhängenden Krankheiten. Berlin: 2008.
(3) CENTRE FOR ECONOMICS AND BUSINESS RESEARCH. The economic
costs of physical inactivity in Europe. An ISCA/Cebr report. 2015
http://inactivity-time-bomb.nowwemove.com.
(4) COUNCIL OF THE EUROPEAN UNION. Council Recommendation on
promoting health-enhancing physical activity across sectors.
2013/C 354/01.
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(5) EUROPÄISCHE KOMMISSION GD BILDUNG UND KULTUR. EU-Leitlinien
für körperliche Aktivität Empfohlene politische Maßnahmen zur
Unterstützung gesundheitsfördernder körperlicher Betätigung.
Brüssel: 2010.
(6) HARTMANN H, OPPER E, SUDERMANN A. Qualitätsmanagement
von Gesundheitssport im Verein. Theoretische und
konzeptionelle Grundlagen sowie Ergebnisse der Erprobung
für die Qualitätssiegel-Angebote Pluspunkt Gesundheit. DTB.
Schorndorf: Karl Hofmann; 2005.
(7) WORLD HEALTH ORGANISATION. Regional office for Europe. Physical
activity strategy for the WHO European Region 2016-2025. EUR/
RC65/9+EU/RC65/Conf. Doc. 2015; 4: 5-6.
DEUTSCHE ZEITSCHRIFT FÜR SPORTMEDIZIN 67. Jahrgang 3/2016