Stein Beseelungsritual

Stein Beseelungsritual als Einführung in das Spiel mit unstrukturiertem Naturmaterial Marius Tschirky
Von Geburt an lebt das Kind in einer von Menschen geschaffenen, objektiven Welt. Gestaltung und Ausstattung von Räumen, mit dem von Erwachsenenhand geschaffenen Spiel-­‐ und Lehrmaterial, in der Begrenzung des Raumes und des Spiels durch animistisches, meist zu einem bestimmten Lernzweck hergestelltes, geschliffenes und perfektioniertes Spielzeug wird der Wille der Erwachsenen und der von Interessenvertreter wie Spiel-­‐ und Lernzeughersteller realisiert. Durch die intentionale Struktur solcher vorstrukturierten Raume, Spiel-­‐ und Lernsachen wird ein bestimmtes Verhalten des Kindes antizipiert: Die Briobahn ist da, um sie Aufzustellen und darauf Züge fahren zu lassen, der Stuhl ist dafür da, um sich darauf zu setzen, eine Schaufel ist zum Graben da, im Schreibheft wird geschrieben. Das eine Plache auch als Rutsche oder für das Geisterli – Spiel gebraucht wird, dass ein Schrank auch da sein kann, um sich darin zu verstecken wird von Erwachsenen in unterschiedlichem Masse geduldet. Die Natur hingegen ist viel autonomer strukturiert, sie ist auch zum Teil festgesetzt und antizipiert ein bestimmtes Verhalten, dieses wird aber nicht von uns Menschen bestimmt. Die Natur ist darum so spannend, weil sie sich ständig verändert, sie wiederholt sich nie in der gleichen Form, ein Baum kann zum Klettern, für Baumhütten und um Trost zu finden da sein. Nirgends steht, wie man ihn benutzen soll. Der Phantasie der Kinder werden keine Grenzen gesetzt. Im Unterschied zu einer Spielgruppe im Raum, eines Regelkindergartens oder einer Regelschule sind es draussen nicht nur die Leitenden und die Kinder, die Impulse für das freie Spiel setzen. Die Natur bietet vielerlei Impulse, welche die Leitpersonen wahrnehmen und integrieren sollen. Kinder brauchen nach einiger Zeit einen Übersetzer, eine Vermittlerin zwischen der Natur und ihnen. Und das ist die Naturpädagogin, der Naturpädagoge, die Eltern etc. Man muss sie einführen und begleiten in das Spiel mit unstrukturiertem – oder besser autonom strukturiertem Spielzeug. Das folgende Ritual habe ich mit meinen Waldkindergarten-­‐Kindern jedes Jahr durchgeführt. Dies auch, um den Respekt vor der Natur zu schüren im Sinne einer nachhaltigen Umweltbildung „alles lebt, auch Steine“ wir haben vor allem Lebenden Respekt! Dabei bleiben wir spielerisch. Es geht nicht um eine Glaubensfrage oder dergleichen. Es geht um Kreativität und um die Methode des Spielens (=Lernen) mit, durch und von der Natur. ➳ www.sonnwendlig.ch ⎨© Marius Tschirky 2011⎬ Ablauf Auf einem Baumstrunk ruht ein Stein auf einem schönen Tuch. Jeden Tag/ jede Woche wird er besucht über einen Geheimweg/ durch ein grünes Tor, einen Klangweg etc. Alle Kinder sitzen um den Stein. Das Ziel ist es, diesen Stein zum „Leben“ zu erwecken. Den Kindern wird kommuniziert, dass dieser Stein auf einmal hier gesehen wurde. Und dass er ganz einsam ist und erst wieder spricht, wenn es ihm „wohl ist“ und er keine Angst mehr hat. Wir müssen uns um ihn kümmern, ihn aufpäppeln, ihm die Angst nehmen. Angst nehmen ist eine gute Sache, vor allem am Anfang des Schuljahres. Es gibt immer Kinder, die „Angst“ haben, zu Anfang, denen es „nicht wohl“ ist, erstmals so lange von Zuhause weg zu sein. Da hilft es, dass es im Wald jemanden gibt, der noch mehr Angst hat und den ich beschützen muss! 1. Wir singen alle das Lied vom Stein, das „Älai Stai“ – Lied (siehe unten, Audio siehe Page Infothek). 2. Nun lassen wir einen schönen Stein im Kreis umher und singen dazu das „Finderstei“ – Lied (siehe unten, Audio siehe Page Infothek). Das Kind, bei welchem das Lied fertig wurde, ist das neue „Steinhüter Kind“. Es wird den Stein den ganzen Tag behüten und ihn zu Chingsgi-­‐Spielgruppenschluss mit nach Hause nehmen und ihn da ganz weich betten. 3. Neben dem Stein hängt eine „Steinglocke“. Ein klingender Steinsplitter aus den Bergen (oä), dieser wird mit dem Glockenspielschlegel 7x angeschlagen, damit der Stein merkt, dass es ab jetzt „um ihn“ geht. Wir singen ein Lied, welches dem Stein Mut machen soll: „Stei, Du schöne Stei“ (siehe unten, Audio siehe Page Infothek). 4. Nun kann das Steinhüterkind das zuvor zu Hause (oder in der Gruppe) vorbereitete Geschenk zur Aufmunterung des Steines überreichen. Zu meiner Zeit schenkten die Kinder Zeichnungen, Witze, Geschichten, schön bemalte Steine, Basteleien etc. 5. Nun darf das Steinhüterkind bestimmen, was wir heute gemeinsam für den Stein machen sollen. Alle Aktivitäten geschehen in einer gewissen Stille, welche immer wieder mal einkehren soll, damit kontrolliert werden kann, ob der Stein einen Laut von sich gibt, oder ein Zeichen.... 6. Hier ein Auszug der Gruppenaktivitäten, die wir jeweils gemacht haben für den Stein. Alle Ideen stammten von den Kindern. Wenn das Steinhüterkind selber keine Idee hat, so werden ihm Vorschläge gemacht, es darf dann einen der Vorschläge auswählen: *Den Stein mit Wasser aus dem Waldbach taufen (wichtig! So wird er schneller zu „einer Persönlichkeit“) *Den Stein mit Oel massieren (weil er so verspannt ist am Rücken) *Ein Nest bauen für den Stein *Ein Dach bauen für den Stein *Den Stein schön bemalen mit Beeren, damit er ein schönes kleid hat *evtl. Stinkt der Stein ein wenig und hat darum keine Freunde: Den Stein mit esoterischen Ölen einreiben *Den Stein Füttern *Den Stein wiegen wie ein Kind *Dem Stein eine Kerze anzünden (damit er’s warm hat) 7. Wenn wir eine von den oben aufgezählten (oder natürlich selber erfundenen) Tätigkeiten durchgeführt haben, darf das Steinhüterkind den Stein für den ganzen Tag zu sich nehmen. Einige Kinder machen das voller Imbrunst, beschützen ihn, sagen, dass man um ihn nicht laut sein darf etc. Andere wickeln den Stein in ein Tuch und versorgen ihn im Rucksack. Das ist in Ordnung. Ein Steinhüter-­‐Junge wollte nicht die ganze Zeit während dem freien Spiel neben dem Stein hocken oder diesen herumtragen. Darum hat er kurzerhand aus einem Goldfaden eine Leine gemacht. Das eine Fadenende war um den Stein gewickelt, das andere hatte er in der Hand. „Immer wenn der Stein etwas braucht, kann er ja an der Leine ziehen!“ Schön waren auch immer die Erzählungen der Kinder, nachdem sie den Stein bei sich zuhause neben dem Kopfkissen haben schlafen lassen. Natürlich hat er in der Nacht dem jeweiligen Steinhüterkind meist „etwas gesagt“. Nach den Erzählungen der Eltern wurde er zuhause weiter gefüttert-­‐ und gehätschelt. So geht dieses Ritual, bis alle Kinder einmal Steinhüterinnen waren. Aus einem ganz normalen Stein wird eine Persönlichkeit, etwas besonderes. Gegen Ende soll der Stein zwischendurch schnaufen oder ganz kurz lächeln. Er soll niemals sprechen, das nimmt den Zauber. Wenn wir seine Regungen als positiv gedeutet haben, dass es ihm jetzt wider gut geht, dann können wir den Stein an einem Ort niederlassen. Die Gruppe bestimmt wo. Natrülich muss es der schönste und für den Stein idealste Ort sein. ➳ www.sonnwendlig.ch ⎨© Marius Tschirky 2011⎬ Sinn Der ungezwungene spielerische Umgang mit Naturmaterial, zum Beispiel beim Puppenspiel ist wichtig, wenn man mit den Kindern im Wald lernt. Automatisch und „natürlich“ sollen Wurzeln, Tannzapfen, Steine eingesetzt werden für das Spiel. Voraussetzung ist, dass die Kinder frei sind von Angst, Ekel und Unverbundenheit mit der Natur! Die animistische Spielform, also das Puppenspiel mit unstrukturiertem Spielzeug, kann die Kinder so weit bringen, dass jegliche Klischees verlieren, frei und unglaublich kreativ spielen. Wir wirken mit dieser Spielform, wie sie auch oben im Ritual angewendet wird auf die Flexibilität des Kindes. Das Ziel soll ja sein, dass das Kind das Ritual durchbricht und eine eigene Spielform entdeckt. So werden die Kinder langsam daran „gewohnt“, mit Naturmaterial zu spielen, zu arbeiten, es zu nutzen für das Spiel, für das Lernen. Auch tun wir etwas in Richtung nachhaltige Umweltbildung. Die Aussage des Rituals ist ja auch , dass „alles lebt“ – sogar der Stein. Wenn wir es schaffen, einen Stein zum Leben zu erwecken, ist es a) eine Kleinigkeit für die Kinder, eine Wurzel als Figur ein zu setzen und b) werden sie sich beim nächsten mal, wenn sie z.B. einen Ast aus Langeweile ausreissen wollen genau überlegen...“hm, lebt dieser Ast jetzt auch, wie der Stein, den ich so gut kenne und mag...“? Wenn wir wollen, dass Kinder mit Naturmaterial, unter anderem auch Puppenspiel, spielen, dürfen wir nicht von Anfang an mit vermeintlich perfekten Puppen eingesetzt werden. Dann wollen die Kinder verständlicherweise mit der Zwergenpuppe der Leitperson spielen und nicht mit einem zu einer Waldfee umfunktionierten Stecken. D h Stei Du schöne Stei G A Wirsch all muetiger D h Jede Tag es chlises bitz G A D Verwach Du schöne Stei G A D
Bi üs bisch nie älai G A D
Du bisch bi üs dehai Steinrituallied (D, G, A) Uswähllied mit ämä Stei En schwere alte Finderstei De goht im Kreis, suecht sis Dähai De goht vo Chind zu Chind Bis er s’richtig find De goht vo Chind zu Chind Bis er s’richtig find ➳ www.sonnwendlig.ch ⎨© Marius Tschirky 2011⎬ Wir führen die Kinder in 3 Stufen ein in das Puppenspiel mit unstrukturiertem Spielzeug: 1. Beseeltes, belebtes Naturmaterial. Natürlich ist in dieser Stufe das oben beschriebene Beseelungsritual als Vorstufe zu Stufe 3 wichtig. Ein Stein, der kurz vor dem Znüni spricht. Auf dem Schosse der Leitperson ist ein Tuch ausgebreitet. Sie schaut, dass die Kinder sehen, dass sie sich umsieht und spontan nach einer „Puppe“ sucht. Wenn die Leitperson einen Zapfen, einen Holzsplitter, eine Blume, einen Stein gefunden hat, spricht sie kurz mit dieser Figur zu den Kindern. Nach dem Spiel wird der Stein auf den Boden gelegt. Wahrscheinlich werden die Kinder nach dem Znüni mit dem Stein spielen. Stecken stellen meist männliche Figuren dar, Blumen und zarte Pflanzen sind meist weiblich. Brombeerranken sind die Bösen, Steine und Holzstücke etwas wortkarge, „plumpere“ Charakteren. Vom Fuchshüftknochen (siehe Foto oben) bis zur Farnwurzel werden lustigste, „gfürchige“, sicher interessanteren, inspirierenden Figuren gefunden als wenn wir alle einen Zwerg aus einem Stecken basteln. 2. Wenn die Kinder schon recht gut in das Spiel mit völlig unverändertem Naturmaterial gefunden haben, kann die Leitperson das Spiel erweitern. Nun geht es um Symbolbildung. Es bedarf ganz einfach „Symbole“, um das Spielen einer Geschichte ein wenig detaillierter zu gestalten. Wir wickeln einem Stecken einen Golddraht um und allen ist klar: Das ist der König. Wenn wir nun noch ein Stofffetzchen in der Mitte des Steckens anbringen ist allen klar: Die Königin. Und so weiter. Wir nehmen also gekauftes, strukturiertes Material hinzu. Wenn die Kinder solche Puppen fertigen, geht es nicht um das „Produkt“, die Puppe, sondern um den Prozess, das spielen einer Geschichte etc. Die Puppe sehen wir also mehr als Mittel zum Zweck. Wir sollten darum keine grossen Ansprüche an eine solche Puppe haben. Die muss nicht „schön“ oder „sauber“ gemacht sein. In dieser zweiten „Stufe“ können wir beginnen, richtige Geschichten zu spielen, wiederholt über eine Woche, jeden Morgen. Die Kinder dürfen im freien Spiel mit den Figuren und der Bühne spielen. Im Wald sind Bühnen Spielplätze, die mit ihren Pflanzen, Moosen und evtl. sogar Käfern und andern Tierchen eingesetzt werden können. Die Bühne ist ein wichtiger Teil. Ich bin sehr oft von „der Bühne zur Geschichte“ gekommen. Der Wald ist voller Bühnen, voller Mystik, im Wald „leben die Zwergen“. Es gibt Wurzeln, Baumstrunke, auf einem quer im Wald liegenden Baum kann eine über 6 Meter lange Bühne entstehen. Es gibt echte kleine Seen in denen Grasfische schwimmen können, echte Höhlen aus denen kleine Wurzelkinder schauen – die Palette ist schier unendlich. 3. Selber gefertigte Puppen. Nun setzt die Leitung bei einem Puppenspiel erstmals eine fertige Puppe ein. Daneben spielen aber weiterhin Figuren mit aus der Stufe 1 und 2. Die Kinder dürfen im freien Spiel die Puppe mitbenutzen beim Spielen. Irgendwann fertigen alle einmal als Werkarbeit eine Puppe. Mit einem Schubimehl-­‐
Kopf, oder einem aus Lehm. Es wird Filzwolle für Bärte und Haare gereicht, Filzstoff für Kleider und Kappen. Schön wäre, wenn bei dieser Puppe auch Naturmaterial eingesetzt wird! Nun sollten die Kinder flexibel spielen können. Ob mit-­‐ oder ohne vorgefertigte Puppe macht keinen Unterschied. Es wird gespielt, die Natur mit einbezogen und ganz natürlich eingesetzt. ➳ www.sonnwendlig.ch ⎨© Marius Tschirky 2011⎬