Christoph Huber Die Angst vor ihm Du kannst nicht vor ihm weglaufen... 1 Es war spät nachts. Eine gewisse Spannung lag in der schwülheißen Luft, die sich durch den letzten dämpfigen Sommertag aufgeladen hatte und es schien nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis wieder einmal ein kräftiges Gewitter über Zanesville, einer Großstadt im Osten von Ohio, hereinbrechen würde. Auf den anliegenden Straßen hörte man vereinzelt ein paar Autos, die wahrscheinlich ihren Weg nach hause suchten. Die Stadt wirkte verlassen, ruhig und leblos, die einzigen Momente, in denen die Stille durchbrochen wurde waren diese, in denen die heimkehrenden Autos an den Apartments vorbeifuhren. Jede noch wache Seele in der Stadt mochte diese kurzen menschlichen Lebenszeichen wahrscheinlich als beruhigend empfunden haben, entgegen dieser aufkommenden Sicherheit hörte man sie diese Nacht jedoch eher selten, denn die unsägliche Hitze schien die Menschen wohl in ihren Häusern und Betten gefangen zu halten. Beim Blick auf den Himmel konnte man fast keine Sterne sehen. Es war stark bewölkt, so wie es der Nachrichten-Sprecher einige Stunden zuvor in den 20 Uhr- Nachrichten vorhergesagt hatte. Eine betrübende Routine lag in der Luft. Es war Vollmond. Alles war wie immer. 2 >>Hör auf damit! Lass mich in Ruhe, was habe ich dir getan? Hör doch endlich auf damit!<< Zur gleichen Zeit wachte Jim schweißgebadet in seinem kleinen Apartment auf. Er öffnete hastig seine Augen und holte ein paar kurze Atemzüge, einen nach dem andern. Eine ganze Weile lang saß er einfach nur da und schwieg, doch selbst nach zwei Minuten waren seine Sinne immer noch von der grausam betäubenden Müdigkeit gelähmt. Es kam ihm so vor, als wäre er nach etlichen verstrichenen Stunden endlich aus einer langen Narkose aufgewacht, die ihn stark mitgenommen hatte. Darüber schien er irgendwie glücklich zu sein, auch wenn er sich kurz darauf nicht mehr ganz sicher war, ob es überhaupt einen Grund dafür gab. Woher sollte er das auch wissen, denn um ehrlich zu sein wusste er momentan überhaupt nichts. Er wusste nur, dass er aufgewacht war. Und das er noch lebte. In den letzten Stunden waren ihm so viele Dinge durch den Kopf gegangen, an kein einziges konnte er sich jedoch noch erinnern. Langsam versuchte er die wirr in Gehirn verstreuten Gedanken wieder zu ordnen, wie ein Kind, das ein Puzzle vor sich hatte und auf der Suche nach den Randund Eckteilen war. Eben diese versuchte er zu finden, bei all der Anstrengung gelang es ihm jedoch nicht. Jim durchwühlte die ganzen Stationen, an die er sich noch ein wenig erinnern konnte, er suchte die Gründe, die in ihm so eine Angst ausgelöst hatten und auf eine erschreckende Weise wurde er nach einer gewissen Zeit fündig. Er wusste noch ganz genau was in seinen Träumen passiert war, sein Instinkt hatte aber die plausibelste Variante benutzt, um ihm seine Angst ein wenig zu nehmen - Verdrängung. Es schien so, als hätte Jim einen Schutzengel in sich, der all die Erinnerungen versteckt hatte und damit versuchte, ihn vor noch Schlimmerem zu bewahren. So gut es vielleicht auch gemeint war, es war gegen Jim’s Willen. Er wollte wissen, was passiert war. Er wollte seine Erinnerungen zurück, egal wie grausam sie auch waren. Ohne eine Regung kämpfte Jim mit dem Engel in sich. Was hatte er da nur geträumt? Jim setzte sich leise auf dem versifften, im Licht der Nachbarhäuser blau schimmernden Teppichboden. Es war ein alter Teppichboden, den der Vormieter hier gelassen hatte und dem man durchaus auch ansah, dass er die besten Jahre schon hinter sich hatte. Brandflecken und Dreckspuren wechselten sich abwechselnd ab und ergaben im Großen ein abscheuliches Muster. Mit etwas Fantasie wirkten die Spuren fast wie Narben in einem Gesicht, die einen beim Blick in den Spiegel immer und immer wieder an grausame Ereignisse erinnerten. Jim hatte auch Narben. Er suchte Halt. Den einzigen Halt fand er an der kahlen Wand, die hinter ihm war. Sie war bestimmt doppelt so alt wie der Teppichboden. Sie wirkte wie ein Fels in der Brandung für Jim, weil sie es schon so lange in diesem verdammten Haus ausgehalten hatte, schon so viel länger als er. Sie war bestimmt schon oft Zeuge solcher nächtlichen Ereignisse geworden, bestimmt empfand sie diese schon für normal. 3 >>Wäre ich doch nur auch so routiniert.<< dachte sich Jim, bevor er bemerkte, wie sinnlos es eigentlich war, eine Wand als menschlich darzustellen. Langsam veränderte Jim seine Sitzposition ein wenig, achtete jedoch ganz genau darauf, keinen einzigen Ton zu erzeugen. Er war fest der Überzeugung, hier auf dem Boden sicher vor seinem Albtraum zu sein. Er atmete extra leise, bewegte sich kaum, damit sein einziges, in seinen Augen sicheres Versteck nicht aufflog. Er war sich nämlich sicher, dass sein Albtraum wiederkommen würde. In diesem Moment hatte er Angst, Angst um sein Leben. Jim hatte sich früher viele Gedanken darüber gemacht, wo er für einen Ernstfall am Sichersten aufgehoben wäre und es fielen ihm dazu die verschiedensten Plätze ein, mittlerweile war ihm jedoch klar geworden, dass er nirgends wirklich sicher war. Die Hoffnung auf Sicherheit dämmte seine Angst jedoch ein wenig ein, und das half ihm für den Moment. Die Logik schaltete dabei aus. Er wollte keinen Angstschweiß mehr in seinem Nacken spüren. Er wollte sich auch nicht mehr vor der Dunkelheit verstecken, und er wollte erstrecht keine Angst mehr vor ihr haben. Er wollte nur Ruhe, und die bekam er. Jim kam sich trotz all der Ruhe immer noch wie der Gejagte vor, auch wenn der Albtraum schon so lange vorbei war. Es war vorbei, sicher. Nach kurzer Überlegung nahm Jim allen Mut zusammen, hob seinen Kopf ein wenig und schaute in die dunklen Untiefen seiner Wohnung. Sein Blick glitt über die blassen Wände hin zu den kleinen Fenstern, beruhigt stellte er fest, dass er nun wieder alleine war. Das Böse war weg und es sollte auch nie wieder kommen. Auf die Besuche seiner Albträume konnte er verzichten, dachte er sich, doch schon beim Nachdenken darüber bekam er wieder eine Gänsehaut und ein paar Schweißperlen auf der verschwitzten Stirn. Ja er war allein, so wie immer. Einsamkeit war kein neues Gefühl mehr für ihn. Er hatte sich mittlerweile damit abgefunden, der wahrscheinlich einsamste Mensch auf dieser Welt zu sein. Es war keine neue Emotion für ihn, es war alt vertraut. Schon früher wurde er immer allein gelassen, weder seine Eltern noch seine Geschwister hatten sich jemals um ihn und seine Probleme gekümmert, dabei hätte er die Unterstützung doch so sehr gebraucht. Es war für ihn bis heute unbegreifbar, dass keiner ihm jemals mit seinen Problemen geholfen hatte. Was er aller Wahrscheinlichkeit bei all den Überlegungen jedoch nicht berücksichtigt hatte, war, dass er womöglich der einzige war, der seine Probleme überhaupt sehen konnte. Wahnvorstellungen. Albträume. Jim schloss seine Augen wieder. Es dauerte keine halbe Minute, bis er wieder innerlich kochte. Er spürte es, alles wiederholte sich noch einmal in seinen Gedanken. Er stellte fest, dass die ganzen Erinnerungen wieder da waren, jetzt wusste er wieder, was passiert war, jetzt war er sich wieder im Klaren darüber, was in den letzten Stunden in seinen Träumen passiert war. Wie unter Wasser kam er sich vor, als müsste er die Luft anhalten, um zu überleben. Dass einzige woran er zu diesem Zeitpunkt nicht dachte war, dass er irgendwann wieder auftauchen musste. Wie bei einer viel zu schnellen, flackernden Diashow erschienen die Bilder in seinem Kopf wieder und 4 wieder, und die meisten fühlten sich beim Verschwinden und Erscheinen an, als würden sie mit einer riesigen Wucht gegen seinen Kopf schlagen. Als würden sie ausbrechen wollen: Ausbrechen aus diesem kranken Gehirn. Jims Atem wurde unterdessen immer schneller, sein Herz pochte so heftig wie noch nie. Es schlug wie verrückt gegen seinen Brustkorb und jeder Stoß brachte Jim mehr und mehr zum Zittern. >>Das ist nicht mein Herz, dass ist das Herz meines Gegners. Mein Gegner aus meinem Albtraum. Bestimmt will er mir damit Angst machen, doch das wird er nicht schaffen.<< dachte sich Jim, und versuchte es zu ignorieren. Schnell merkte er jedoch, dass die Situation viel zu erdrückend und war, um sie zu ignorieren. Alles wurde immer realer. Jim sah es plötzlich, er fühlte es, ja er konnte es sogar hören: die Vergangenheit der letzten Stunden war wieder in seine vier Wände zurückgekommen - mit einer festen Absicht, die nur er und Jim kannten. Er wusste, dass er im Nachteil war, denn er war nicht annähernd so mächtig wie sein Gegner. Jim wurde klar, dass er einen Schlüssel oder ein Brecheisen gebraucht hätte, um bei seinem Gegner einbrechen zu können, sein Widersacher schaffte es jedoch ohne Hilfe von irgendwelchen Gegenständen oder Schlüsseln. Jim schaffte es, seine Starre zu überwinden. Sein gequälter Blick wandte sich von der leeren, gegenüberliegenden Wand durch den Flur zur Haustür. Sie war verschlossen. Jedes einzelne Schloss, das Jim vor längerer Zeit angebracht hatte, war verschlossen. Es waren insgesamt fünf. Fünf Schlösser. Jeder normale Mensch, der diese fünf Schlösser schon einmal gesehen hatte, hielt sie für unnötig. Jim war sich sogar sicher, dass seine Mitmenschen ihn deswegen für noch kranker hielten. Er spürte, wie sich sein Körper schließlich ein wenig entkrampfte, während er über die Belanglosigkeit gegenüber seiner Familie und den paar Menschen, die ihn ab und zu besuchten, nachdachte. Für sie war er ja sowieso geisteskrank, da war es egal, ob sich diese Schlösser negativ auf ihre Meinung gegenüber Jim auswirkten. Wichtig war nur, dass Jim sich dank diesen Schlössern sicherer fühlte. Normalerweise. Doch heute vermittelten sie ihm keine Sicherheit. Heute dienten sie nicht als allgemeines Beruhigungsmittel. Nein im Gegenteil, sie machten Jim sogar Angst. Ihm wurde dank ihnen nämlich durchaus klar, dass er sich noch so sehr in seinem Apartment verschanzen und verstecken konnte, sein Gegner fand trotzdem immer wieder einen Weg, sich Zugang zu seiner Wohnung zu schaffen. Da brachten diese Verriegelungen auch nichts mehr. Sie wirkten eher wie lächerliche Spielzeuge, die ihn in Sicherheit hätten wiegen sollen. Spielzeuge aus Stahl. So mächtig war sein Gegner. Dank ihnen gab es auch keinen Fluchtweg mehr. Im Notfall hätte er es nicht geschafft, alle Schlösser zu öffnen und abzuhauen, denn das Böse war schneller als er. Gab es überhaupt noch einen Fluchtweg aus dieser kranken Gedankenwelt? Gab es etwa tatsächlich noch einen Weg in die Normalität, die ihm in all den Jahren zuvor von seinem Psychiater und seiner Familie eingetrichtert wurde? Nein, den gab es nicht mehr, da war sich Jim sicher. Jedenfalls nicht heute Nacht. 5 Diese ernüchternde Erkenntnis ließ Verzweiflung in Jim aufsteigen. Genau diese Verzweiflung war sein Fehler. Hätte Jim seine aufkommenden Gefühle in einer Metapher beschreiben sollen, wäre er sich wie ein Abwehrspieler vorgekommen, dessen Gegner die Grenze durchbrach und siegessicher Richtung Tor rannte, mit dem Vorsatz, seinen Gegner mit aller Kraft aus dem Turnier zu schlagen. Die Stimme seines Peinigers erhob sich wuchtartig aus dem Nichts. >>Jimmy, das war ein Fehler!<< tobte sie, >>Solche Fahrlässigkeiten bringen einen schneller ins Grab, als man denkt!<< Jim’s ganzer Körper war wie gelähmt. Er wusste, dass hinter diesem Satz keine leere Drohung steckte, ihm war klar, dass die Stimme Recht hatte und sie allein die Macht besaß, über Leben und Tod zu bestimmen. In all der Panik war er sich nicht sicher, ob er antworten sollte. Ihm war nicht klar, ob das Böse überhaupt eine Antwort erwartete. Bestimmt wusste der Gegner sowieso, dass er keine Antwort auf seine Drohung bekommen würde. Er wusste bestimmt, dass kein Mensch auf der Welt auf so einen Satz einfach antworten konnte, ohne sich dabei etliche Gedanken darüber zu machen. Jim zitterte vor Angst. Mindestens war er in diesem Zusammenhang wie jeder andere Mensch auf dieser Welt. Er versuchte, die Hände zusammenzuballen und damit wieder etwas Kontrolle über sich selbst zu gewinnen. Es half. Es half aber nicht lange. Jim zitterte schon wieder, er fühlte sich wie ein Pilot, der mit seinem Flugzeug in Turbulenzen gekommen war und mit aller Kraft versuchte, seinen Steuerknüppel nach rechts zu drücken. Da war einfach so viel Kraft, die gegen ihn lenkte. Allein schaffte er das kaum. Er ballte seine Hände immer stärker und aus weiter Entfernung spürte er plötzlich einen stechenden Schmerz, der langsam immer schlimmer wurde. Jim schaute mit einem gepeinigten Blick an sich herunter, man konnte ganz genau sehen, woher der Schmerz kam: Es waren seine Fäuste. Er ballte sie so stark, dass sich die Fingernägel langsam in seine Haut bohrten. Es machte ihm selbst Angst, aber er war machtlos. Er hatte keine Kontrolle mehr über sie. Blut quoll langsam aus seinen Handballen heraus, es verließ seine Haut und tropfte in kurzen Abständen auf den alten Teppich. Es wirkte dort so leblos, als wäre all die Energie, die einst darin steckte, erloschen. Die Adern an seinen Handgelenken drangen mittlerweile so stark hervor, dass der Gedanke, dass sie bald platzen könnten, nicht mehr weit entfernt lag. Warum tat er sich selbst so weh? Sein Peiniger war schuld. Er lähmte Jim’s ganzen Körper. Er hatte Besitz von seinem Körper ergriffen. Die Stimme kam plötzlich wieder zurück und hallte erneut durch Jim’s Apartment: >>Jim Arthur Wells, endlich sieht man sich mal wieder. Es ist wirklich lange her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Ich habe jeden einzelnen Tag sehnsüchtig auf dich gewartet und glaube mir, ich habe jeden einzelnen erwartungsvoll gezählt. Soll ich dir sagen, wie viele es insgesamt waren?<< Er schwieg für ein paar Sekunden und hinterließ bei Jim die Frage, ob er eine Zahl schätzen sollte. >>Es waren insgesamt 2922 Tage, anders ausgedrückt acht Jahre. Würdest du mir glauben, wenn ich dir jetzt erzählen würde, dass ich in all der Zeit gelernt habe, geduldig zu sein? Würdest du es mir glauben?<< 6 Jim bekam seinen Mund nicht auf. Er schaffte es einfach nicht. Sein Blick blieb starr, er schaute verängstigt auf den verbluteten Boden. Innerlich hoffte er, dass das alles nur ein weiterer Traum war und er irgendwann aufwachen würde. Seine Hoffnung wurde mit einem mal zerstört: >>Ich bin mir sicher, dass du meine Frage mit ja beantworten würdest, wenn du reden könntest. Scheinbar schaffst du es aber nicht. Keine Sorge, ich habe mir sogar gedacht, dass du so reagierst.<< Er legte eine kurze Pause ein, dann redete er im selben Ton weiter: >>Trotzdem stelle ich dir die Frage, warum du mir keine Antwort gibst. Du wirst doch nicht etwa geglaubt haben, dass ich nie wieder zurückkommen würde, oder?<< Man hörte ihm an, dass er sich schon lange zuvor jeden einzelnen Satz ausgedacht hatte. Er hatte ein richtiges Konzept, mit dem er Jim nach Strich und Faden verunsichern wollte. Erst jetzt wurde Jim klar, dass sein Widersacher die letzten acht Jahre wahrscheinlich mit nichts anderem verbracht hatte, als mit der Vorbereitung auf diesen Dialog. Für Jim war es eine unsägliche Qual, für seinen Gegner war es aller Wahrscheinlichkeit nach das Ziel einer langen Reise, die die letzen acht Jahre beansprucht hatte. Man merkte der Stimme an, dass sie den Triumph bis auf das Letzte ausnutzen wollte, sie wollte Jim aus der Reserve locken. >>Jimmy mein Freund, hast du mich etwa nicht vermisst? Denk doch mal zurück an all die Jahre, in denen ich dich begleitet habe. Wir waren die besten Freunde, wir gingen doch zusammen durch dick und dünn! Jetzt antworte mir doch, gib mir doch endlich eine Antwort!<< Er log, alles war erlogen. Jim wurde wütend. Er kochte innerlich vor Wut. Jetzt war für ihn der Zeitpunkt gekommen, an dem er seinem Gegner klar machen wollte, dass er ihn in Ruhe lassen sollte. Er sollte es nie wieder wagen, Jim zu besuchen, er sollte sein Apartment nie wieder heimkehren. Mit aller Kraft wehre sich Jim gegen seine unsichtbaren Fesseln, die ihn daran hinderten, etwas zu sagen. Er war kurz davor, seinen Mund zu öffnen, im selben Moment merkte er jedoch, wie trocken dieser eigentlich war. Er war viel zu trocken, um ein Wort auszusprechen. All die Kraft verschwand plötzlich wieder. >>Was ist nur los mit dir, Jimmy? Willst du etwa nicht mit mir reden?<< hinterfragte er ihn. >>Will ich mit ihm reden?<< fragte sich Jim, >>eigentlich nicht, aber ich muss es wohl, wenn ich ihn besiegen will. Wie hat er es nur geschafft? Ich habe ihn doch all die Jahre so gut es ging aus meinem Leben verdrängt, wie hat er es bei all dem Widerstand nur geschafft, zurückzukommen?<< Jim konnte wieder nachdenken. Er war sich sicher, dass er es nun auch wieder schaffte würde, zu reden. Bei der Überlegung, was er sagen sollte, kam er sich wie ein alter, retardierter Mann vor, der mit aller Kraft versuchte, die letzten grauen Zellen zum Arbeiten zu bringen. >>Nein, ich will nicht mit dir reden...<< entgegnete Jim ihm mit trockener Stimme, >>ich habe noch nie wirklich gerne mit dir geredet.<< >>Bist du dir da sicher, Jimmy? Es mag für mich zwar schmeichelnd sein, dass du dich jetzt doch dafür entschieden hast, mit mir zu reden, aber deine Antwort enttäuscht mich um ehrlich zu sein sehr.<< entgegnete er Jim mit einer vorgespielten Trauer in seiner Stimme, 7 >>Bin ich dir nicht mehr gut genug oder hast du gar Angst vor mir? Da muss es doch einen plausiblen Grund geben.<< >>Ich habe keine Angst vor dir<< log Jim, wüsste nicht, warum ich vor dir Angst haben sollte, du bist ja nicht einmal real. Du lebst nur in meiner Vorstellung.<< >>ich Bei jedem Wort, das Jim aussprach, fürchtete er sich davor, dass sein Gegner es falsch verstehen könnte. Vor allem nach diesem Satz machte er sich Gedanken darüber. Bestimmt hatte Jim’s Gegner den Satz sowieso nicht ernst genommen, weil Jim immer noch völlig verstört auf den Teppichboden vor sich starrte. >>Lüg’ mich doch nicht an, Jimmy! Du bist immer noch so naiv und unbelehrbar wie früher! Wie konnte ich auch nur einen Gedanken daran verschwenden, dass du mittlerweile gelernt hast, dass man mich weder anlügen, noch verdrängen kann! Ich weiß, wann du lügst!<< entgegnete er in einem überlegenen und lauten Ton. >>Als hättest du keine Angst vor mir! Ich erinnere mich noch ganz genau an die Zeit in der Psychiatrie, in der du so oft nachts in deinem Bett gelegen hast und vor Angst so lange herumgeschrieen hast, bis endlich eine Krankenschwester herbei geeilt ist und dich beruhigt hat. Du hast damals hyperventiliert, sobald du meine Anwesenheit gespürt hast, Jimmy, erzähl mir nicht, dass es dir heute egal ist, wenn ich dich besuche.<< >>Das ist es mir aber.<< antwortete Jim in einem sicheren Ton, >>Es liegen mittlerweile acht Jahre zwischen der Zeit in der Psychiatrie und der Gegenwart. Ich bin geheilt, und das bedeutet, dass ich auch keine Angst mehr vor dir habe.<< >>Wenn du geheilt wärst, dann würdest du heute sicherlich ein anderes Leben führen als dieses jämmerliche, was du hier in diesen vier vermoderten Wänden führst. Du würdest wieder wie jeder andere auch deiner Arbeit hinterher gehen, feste Pläne für die Zukunft haben, dich öfters unter die Leute mischen und deine Familie wieder besuchen. Deine Familie, die dich wieder akzeptieren würde. Aber das tun sie nicht, weil du nicht geheilt bist.<< Jim schwieg. Er wurde mit einem Schachzug völlig aus der Bahn geworfen und es wirkte für ihn immer sinnloser, seine Furcht mit irgendwelchen Sätzen zu überspielen. Der Peiniger kannte Jim besser, als er sich selbst. Jim setzte sein Schweigen fort, denn er war sich sicher, dass sein Widersacher keine Antwort brauchte, um fort zufahren. >>Oft sagt ein Schweigen mehr als tausend Worte.<< entgegnete er sicherer als je zuvor, schwieg darauf kurz und beendete damit dieses Thema. Einen Augenblick später durchbrach er die trügerische Stille: >>Früher hast du mich Louis genannt, erinnerst du dich noch daran?<< fragte er Jim. >>Hör auf damit! Hör auf, über die Vergangenheit zu reden!<< brüllte Jim wie verrückt. Vielleicht war er es mittlerweile auch. Die Frage seines Peinigers brannte sich wie Säure in Jim’s Kopf. Sie wiederholte sich so lange in seinem Kopf, bis er ihr eine Antwort darauf gab. Ja, er konnte sich noch daran erinnern und ja, er spürte langsam, wie die Mauer, die all die Erinnerungen an damals eingesperrt und abgegrenzt hatte, langsam Stück für Stück eingerissen wurde. Warum tat Louis ihm das an? Was hatte Jim getan, dass er das verdient hatte? Er hatte sich 8 all die Jahre so sehr um ein normales Leben bemüht, er hatte sogar die Medikamente, die er eigentlich so sehr verabscheute zu sich genommen, in der Hoffnung, dass ihn seine Vergangenheit nicht mehr einholen konnte - und nun das. Er konnte sich wieder an all die Ereignisse, die damals in der Psychiatrie passiert waren nun wieder erinnern, es kam ihm so vor, als wären sie alle erst gestern geschehen. Jim erinnerte sich an die unzähligen schlaflosen Nächte im Schlafsaal, dem Zuhause seiner Wahnvorstellungen. Genau hier schlugen sie am liebsten zu, bevorzugt nachts. Nachts, wenn du auf dich selbst gestellt warst. Er erinnerte sich noch ganz genau an die kleinen, vergitterten Fenster, die nachts das Mondlicht auf den Boden des Schlafsaals projizierten und damit den Schlafsaal noch Schreckenerregender aussehen ließen. Mit diesem Bild kamen auch die kaum ertragbaren Überlebensschreie der anderen Patienten wieder zurück in Jim’s Erinnerung. Warum die Patienten um ihr Leben schrien? Die Antwort war einfach: Sie waren verrückt, sie hatten keine Kontrolle mehr über ihre Traumwelt, sie wurden in ihren Träumen mehrfach ermordet oder bei vollem Bewusstsein bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Sie waren alle krank, sie hatten alle einen Peiniger - und Jim war einer von ihnen. Er hatte die anderen nachts oft mit seinen Schreien aufgeweckt, sie waren der einzige Hilferuf, der ihm zurück in die Realität half. Jim löste sich langsam aus seiner steifen Position. Er verschränkte seine Beine und hob sich mit seinen blutigen Händen den schmerzenden Kopf, der ihn fast Durchdrehen ließ. Die Erinnerungen an damals ließen den ganzen Raum wild rotieren, ihm wurde schwarz vor Augen. Er wurde bei den Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen fast verrückt. Er bekam keine Luft mehr, obwohl er im Sekundentakt atmete und seine Augen weiteten sich bis ans Maximum. Vor lauter Hilflosigkeit schrie Jim, >>Warum holt mich denn keiner heraus! Warum hilft mir denn keiner!<< doch die einzige Antwort, die er bekam, kam von Louis. >>Merkst du nun, wie real ich bin? Spürst du jetzt endlich, dass es keinen Sinn macht, die Vergangenheit zu verdrängen? Komm Jimmy, gib mir endlich recht, du bist zu schwach um dich gegen mich wehren zu können! Du verdammtes Schwein, gib mir endlich eine Antwort bevor es vorbei ist!<< Jim nahm seine Arme herunter. Sein Kopf sackte kurz ab, dann neigte er ihn in Richtung Decke und schrie mit letzter Kraft: >>Du bist nicht echt, du kannst mich nicht zerstören! Du bist nur ein Traum, Träume können nicht töten!<< Er raffte sich mit aller Mühe auf, indem er sich zuerst mit seinen Händen abstützte und dann seinen ganzen Körper mit aller Kraft nach vorne drückte. Jim schaffte es kaum zu stehen, deswegen torkelte er wie benebelt hin und her, sein Kopf wankte mit. Er wusste nicht mehr, wo er genau war, doch das war auch egal, denn Louis war überall. Jim rieb sich kurz die Augen, dann fixierte er seinen Blick geradeaus: Er kniff seine Augen etwas zusammen und konnte plötzlich Louis vor sich erkennen. Die unscharfen Umrisse seines Gegners weckten in Jim keine einzige Emotion, dass einzige, was er zu dieser Zeit spüren konnte, war eine unbändige Wut. Jim war geistig abwesend, aber irgendwie doch bei vollem Bewusstsein. Die Umrisse wurden langsam immer schärfer, Jim konnte Louis immer besser erkennen. 9 Er sah genauso aus wie früher, da war sich Jim sicher. Er konnte sich noch ganz genau daran erinnern, wie Louis früher im selben schwarzen Overall mit passenden schwarzen Lackschuhen neben seinem Bett stand. Es war derselbe Louis, derselbe Albtraum, dieselbe Wahnvorstellung. Jim versuchte, Louis Gesicht zu erkennen, doch egal, wie sehr er sich auch anstrengte, das Gesicht blieb verschwommen. Einzelheiten wie der Mund, die Augen und die Nase waren zwar leicht angedeutet, jedoch fehlten sämtliche Gesichtszüge und Konturen, die eigentlich ein Gesicht ausmachten. Jim gab es auf. Die Dinge, die er erkannt hatte, reichten ihm, er brauchte keine weiteren Details - es war Louis. Jim versuchte, das Gleichgewicht zu halten und einen Augenblick später fasste er den Entschluss, zu verschwinden. Mit dem Blick starr auf die Tür gerichtet lief wankte Jim knapp an Louis vorbei, es war ein letzter Fluchtversuch. Es war ein ungleichmäßiges Laufen, Jim stampfte an manchen Stellen regelrecht auf den Boden. Im selben Moment drehte sich Louis in Jim’s Richtung und nutzte die kurze Entfernung aus: Er packte Jim mit seiner rechten Hand kraftvoll am Arm und unterbrach Jim’s Fluchtversuch apprupt. Jim spürte den Schmerz, der Louis ihm zufügte aus weiter Entfernung, realisiserte aber nicht, dass er nicht mehr weiterlaufen konnte. Ohne eine Reaktion verlor er den Halt und ging keuchend rückwärts zu Boden. Im selben Zug riss er Louis mit. Nun lagen beide auf dem Boden, Jim lag mit dem Rücken auf dem Boden und Louis über ihm. Jim sah die ganze Situation wie durch ein trübes Milchglas, er reagierte kaum. Er stand unter Schock und das machte ihn so kraftlos. Louis stützte sich am Boden ab und versuchte, sich wieder aufzuraffen. Er setzte sich auf Louis und drückte ihn mit aller Kraft zu Boden. >>Jim, du machst mich wütend, um ehrlich zu sein machst du mich sehr wütend! Du hast doch tatsächlich versucht, vor mir zu flüchten. Glaubst du wirklich, dass du es aus deiner Wohnung raus geschafft hättest, denkst du, es hätte dir etwas genützt? Du kannst nicht vor mir fliehen, denn ich bin ein Teil von dir.<< schrie er Jim entgegen, als wäre er der Teufel höchstpersönlich. Jim erkannte etwas Glänzendes in Louis rechter Overall- Tasche. Bei näheren Hinsehen stockte das Blut in seinen Adern: Es war ein Messer, im nächsten Moment entdeckte Jim sogar, dass es sich hierbei um ein Fleischermesser handelte. Perplex wandte Jim seinen Blick vom Messer ab und versuchte, trotz der Abscheu, die er gegen Louis hegte, in sein Gesicht zu sehen. Er wollte Louis glauben lassen, dass er das Messer nicht gesehen hatte, denn nun war er darauf vorbereitet, dass sein Gegner irgendwann nach dem Messer greifen würde und ihn damit angreifen wollte. Und tatsächlich, Louis griff in seine rechte Tasche. In einer blitzartigen Bewegung zog er das Messer heraus und hob es Jim an die rechte Schläfe. >>Findest du nicht, dass das Schicksal mit dir ein grausames Spiel spielt, Jimmy? Ich meine fühlst du die Klinge? Es muss doch eine unerträgliche Qual sein, wenn man langsam die Erkenntnis trifft, dass eine Vorstellung, die in deinem eigenen Kopf entstanden ist, dir mittlerweile eine Klinge an den Kopf drückt, oder?<< fragte er Jim in einem melancholischen Ton, >>Aber keine Angst Jimmy, es ist bald vorbei. Es wird schneller vorbei sein, als du es denkst. Es werden nur ein paar Stiche sein, einen werde ich am Bauch ansetzen, den anderen am linken 10 Brustkorb und den letzten werde ich dir in dein krankes Herz rammen - dann bist du für immer befreit.<< Louis setzte unter starkem Widerstand von Jim den ersten Stich oberhalb des Bauchnabels an. Jim schrie plötzlich lauthals, als wäre all die Kraft wieder in seinen schwachen Körper zurückgekehrt: >>Hör auf damit! Lass mich in Ruhe, was habe ich dir getan? Hör doch endlich auf damit!<< Mit all der Kraft, die nun scheinbar wieder durch Jim’s Adern pulsierte, drückte er sich vom Boden ab und warf Louis mit einer unglaublichen Wucht zur Seite. Dieser gab ein paar überraschte Laute von sich und sah Jim mit seinen nur schwer erkennbaren Augen völlig perplex an. Sein Blick suchte den Teppichboden nach dem Messer auf und ab, doch Jim war etwas schneller gewesen und hatte es schon an sich gerissen. Erneut überraschte Jim seinen Gegner, indem er sich ohne eine Vorwarnung auf ihn warf und das Messer gegen ihn richtete. >>Du bist nichts anderes als ein Traum, ein jämmerlicher, verdammter Traum, der es sich nur traut, nachts im Schutz der Dunkelheit zuzuschlagen! Du hast mich oft genug aus der Ruhe gebracht, du hast mich oft genug um den Schlaf gebracht, du hast mir oft genug Angst gemacht, heute ist mit alldem Schluss!<< Jim stieß Louis das Messer mitten ins Herz. Louis ließ dabei weder einen letzten Schrei, noch einen Satz los. Er starb einfach ohne irgendein letztes Geräusch. Blut quoll aus der riesigen Wunde und es gesellte sich zu den Blutflecken, die Jim kurze Zeit davor ebenfalls auf dem Teppichboden verteilt hatte. Jim hatte es nun erledigt. Es war vorbei, es war tatsächlich vorbei, für einen Moment hätte er fast geheult, weil er so glücklich darüber war. Nie wieder würde Louis ihn besuchen, nie wieder würde er nachts seinen kalten Atem in seinem Nacken spüren. Es war vorbei, für immer. Jim rollte sich zur Seite und schlief neben der Leiche auf dem Teppichboden ein. Endlich bekam er seinen wohl verdienten Schlaf. >>Ich bin mir nicht mehr sicher, um welche Uhrzeit ich am nächsten Tag aufgewacht bin, aber ich kann mich noch ganz genau daran erinnern, wie mich die aufsteigende Sonne morgens aus dem Schlaf geholt hatte. Es war ein warmer, angenehmer Morgen, die Vögel zwitscherten, ich fühlte mich wie frisch geboren. Alle Lasten der letzten Nacht waren plötzlich verschwunden, egal wo ich mich in meiner Wohnung auch umsah,, nirgends waren fand ich irgendwelche Spuren eines Kampfes.<< 11
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